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Stereotypen sind schlecht. Sie behindern Individualität, versimpeln ein Charakterkonzept und führen zu Vorurteilen. Aussagen die man immer wieder in Diskussionen um Stereotypen in LARP und Rollenspiel hört. Aber ist das wirklich so? Gehören Stereotypen nicht fest in die Rollenspielwirklichkeit und sind sie nicht auch sinnvoll?

Ebenfalls erschienen in der Serie „Stereotypen im LARP“:

Stereotyp ist im Alltag ein meist negativ besetzter Begriff. Man verbindet mit ihm Vorurteile, Elitismus, soziale Abgrenzung. Auch in LARP und Rollenspiel schreiben viele Spieler diese Eigenschaften dem Begriff zu. Schaut man dazu in Fachliteratur wird man zunächst auch bestätigt.

Vielfach wird der Begriff Stereotyp mit dem Begriff des Vorurteils synonym verwendet. Grade in kulturellen Thematiken unterstellt man gar, dass Stereotypen der Stigmatisierung, also einer Herabsetzung dienen. Tatsächlich ist dies auch häufig der Fall. Gerade im politischen Umfeld werden Stereotypen bewusst zur Abgrenzung und Herabsetzung verwendet, wie wir aktuell in vielen Ländern immer wieder beobachten können.

Dabei sollte man Stereotypen und Vorurteile zunächst unterscheiden. Diese Unterscheidung ist wichtig, um sich dem Thema in Rollenspiel und LARP zu nähern. Dann wird man feststellen, dass Stereotypen im LARP durchaus sinnvoll sind.  Aber auch Vorurteile werden, im Gegensatz zum Alltag, plötzlich zur Bereicherung.

Von Stereotypen und Vorurteilen

Im ersten Moment wird man sich schwer tun, diese beiden Begriffe zu differenzieren. Dies mag zum einen daran liegen, dass sie heutzutage noch synonym verwendet werden, zum anderen sind sie sich auch sehr ähnlich. Beiden Begriffen ist gemein, dass sie Personen oder Personengruppen sehr allgemeine Eigenschaften zuschreiben und komplexe Sachverhalte stark vereinfachen. Beide zeigen sich auch recht widerspenstig gegenüber Veränderungen. Selbst dann, wenn Informationen der Aussage eines Stereotypen oder Vorurteils widersprechen. Also doch dasselbe, nur in einem anderen Kleid? Tatsächlich nicht, sonst wäre der Artikel hier wohl schon vorbei. Es lohnt sich, zunächst die Wortherkunft zu betrachten.

Es war einmal in Aventurien…

Vorurteil bedeutet nichts anderes als voreiliges Urteil es hat also zwangsläufig einen wertenden Charakter. Hinzu kommt, dass ein Vorurteil in der Regel auf Konfliktsituationen basiert; es wird daher kaum reflektiert betrachtet und hat höchstens einen ungenügenden Realitätsgehalt. Meist beruht es zudem auf persönlichen Erfahrungen und entbehrt allein schon deswegen jeglicher Objektivität.

Eines der wohl besten und bekanntesten Beispiele in einen Fantasyhintergrund ist der ewige Streit zwischen Andergast und Nostria. Eindrücklich zeigt dieser Konflikt wie Vorurteile entstehen. Über Generationen hinweg wurden die Streitigkeiten vererbt, kaum jemand machte sich die Mühe diese zu hinterfragen. Auch bewegen sich viele Vorurteile weitab von der Spielrealität und selbst eine ausgedehnte Reise durch Nostria wird einen Andergaster nicht vom Gegenteil überzeugen können.

„Es gibt keinen Krieg ohne Kampf“ – Kahless

Klingonen aus Star Trek hingegen sind ein gutes Beispiel für Stereotypen. Anhand des gewählten Zitates entsteht bei jemand, der Star Trek gar nicht kennt, ein spezielles Bild über Klingonen. Sie scheinen wohl eher kriegerisch zu sein und weniger feinsinnige Philosophen (Ehe uns ein Aufschrei der Entrüstung erreicht, natürlich gibt es auch sehr feinsinnige klingonische Philosophen).

Aber selbst wer Star Trek nur rudimentär kennt, wird aber auch mit dem Begriff Klingone ein ganz konkretes Bild verbinden: Kriegerisch, wild, bärtige Männer, amazonenhafte Frauen, brutal.

Im Gegensatz zu einem Vorurteil ließen sich diese Eigenschaften sogar wissenschaftlich belegen. Würde man sich alle Folgen und Filme der Reihe in denen Klingonen vorkommen anschauen und dazu vielleicht noch einige Bücher lesen, wird man feststellen, dass Kampf, Krieg und Ehre eine wichtige Funktion in der klingonischen Kultur erfüllen. Ebenso scheinen Männer dort grundsätzlich eher Bart zu tragen und Frauen den Männern in nichts nachzustehen. Außer dass sie keinen Bart tragen.

Allerdings wird man ebenso feststellen, dass sich Klingonen auch gewandelt haben und wesentlich vielschichtiger sind. Zu Zeit von Captain Kirk undenkbar, werden sie während der Epoche von Captain Picard und Co. zu streitbaren aber treuen Verbündeten.

Es besteht also doch ein ganz erheblicher Unterschied zwischen einem Vorurteil und einem Stereotyp. Das Vorurteil ist wertend, basiert meist auf persönlichen negativen Erfahrungen, hat wenig mit der Wahrheit zu tun und unterbindet jeden reflektierten Umgang mit seinem Ziel.

Der Stereotyp hingegen ist deutlich näher an der Realität bzw. versucht diese auf eine möglichst große Gruppe Individuen abzubilden, er erlaubt ferner einen reflektierten Umgang und enthält nicht zwangsläufig eine Wertung.

Funktion von Stereotypen

Aber wie und warum entstehen eigentlich Stereotypen?

Mit dieser Frage nähern wir uns schon sehr schnell dem positiven Nutzen in LARP und Rollenspiel.

Stereotypen entstehen in unseren Köpfen, bereits bevor wir etwas erlebt oder gesehen haben. Wir stellen uns also etwas vor, bevor wir es tatsächlich wahrnehmen. Dies geschieht über Geschichten, Erzählungen und Bilder die aus zweiter Hand vermittelt werden. Stereotypen spielen damit einen wichtigen Faktor in unserer Wahrnehmung von Personen, die wir zum ersten Mal treffen.

Die moderne Forschung hat inzwischen erkannt, dass diese Vorgänge grundsätzlich etwas Positives sind. Tagtäglich werden wir mit unbekannten Situationen konfrontiert auf die wir schnell und möglichst adäquat reagieren müssen. Dies gewinnt in einer globalisierten Welt noch mehr an Bedeutung als noch vor 50 oder 100 Jahren. Wir sind nicht nur jeden Tag mit mehr oder weniger komplexen Situationen konfrontiert, sondern auch mit verschiedenen Kulturen und deren Eigenheiten. Hier können Stereotypen helfen Situationen schnell zu erkennen, zu bewerten und dementsprechend zu handeln mit einer möglichst geringen Fehlerwahrscheinlichkeit.

Sie entlasten also unsere Denkprozesse, so dass wir unsere Ressourcen auf komplexere Fragestellungen verwenden können. Kurzum, ohne Stereotypen wären wir in vielen Situationen schneller überlastet. Dies lässt sich anhand einer dafür exemplarischen Star Trek-Folge gut darlegen: In der TNG-Episode „Der Austauschoffizier“ wird der erste Offizier der U.S.S. Enterprise, Commander Riker, als Austauschoffizier auf ein klingonisches Kriegsschiff versetzt. Riker weiß wenig von der klingonischen Kultur und auch seine Kontakte sind recht überschaubar. Sein Bild einer klingonischen Crew stützt sich auf Erzählungen und Informationen aus der Schiffsdatenbank. In einer Schlüsselszene der Folge erwartet der der klingonische Captain zu Beginn des Austausches einen Treueschwur von Riker. Dieser beteuert, dass er den Befehlen Folge leisten und sein Bestes geben werde, um dem Schiff zu dienen. Als der Captain ihn erneut zu einem Schwur auffordert, merkt Riker an, das dies eben einer gewesen sei. Der zweite Offizier des Schiffes zweifelt dies an und stellt sogleich auch die Autorität von Commander Riker in Frage. Riker zögert nicht lange und versetzt dem zweiten Offizier einen heftigen Schlag. Dieser führt zu einem kurzen aber intensiven Kampf der beiden, aus dem Riker als Sieger hervorgeht. Fortan erkennt nicht nur der zweite Offizier seinen Rang an, sondern auch die restliche Besatzung akzeptiert Riker als Offizier. Was zunächst nach einer Actionsequenz aussieht, ist jedoch viel tiefergehend. Als Sternenflottenoffizier würde Riker niemals ein Crewmitglied schlagen, weil dieses seine Autorität anzweifelt. Auch kannte er zum Zeitpunkt seiner Entscheidung nicht alle Crewmitglieder genau, noch hatte er Zeit die Gruppendynamik an Bord genau zu studieren. Sein Handeln basierte einzig auf einem ihm bekannten Stereotyp von Klingonen. Nur dank dieses stereotypen Bildes konnte er in kurzer Zeit mit wenigen Informationen zu einer Entscheidung mit geringer Fehlerwahrscheinlichkeit kommen. Hätte er diesen Stereotypen nicht gekannt und agiert wie ein Föderationsoffizier normalerweise, nämlich die Situation ausdiskutiert, hätte er gegenüber den Klingonen an Autorität eingebüßt.

Dieses Beispiel lässt sich durch verschiedene Kulturkreise, auch reale, weiterziehen. Japanern ist es unangenehm Hilfe anzunehmen, mit Chinesen redet man nicht über Politik, Österreicher spreche ich auch im Brief am besten mit akademischem Titel an.

Stereotypen besitzen also einen relativen Wahrheitsgehalt und bieten eine Ordnungs- und Orientierungshilfe. Nicht umsonst arbeitet man heutzutage mit Stereotypen in interkulturellen Trainings, um vom Allgemeinen schließlich auf das Spezielle zu schließen.

Was hat das mit LARP zu tun?

Wie Alexander Jaensch in seinem Artikel zum Auswurfschock treffsicher feststellt, werden wir im LARP mit einem ganz anderen Lebensfluss konfrontiert. Dies gilt im Grunde für alle Formen des Rollenspiels. In der Regel müssen wir zeitlich deutlich komprimiert eine Fülle von Eindrücken verarbeiten und auf diese auch reagieren. Das stresst unseren Geist.

Aber ein LARP oder Rollenspiel ist auch die Globalisierung in einer Nussschale. Ein Merkmal der Globalisierung ist, dass wir mit Menschen verschiedener kultureller Prägung viel öfter konfrontiert werden als noch unsere Großeltern. Im LARP fällt das noch krasser aus. Da werden wir an einem Wochenende oder vielleicht auch mal fünf Tagen mit dutzenden, wenn nicht sogar tausenden Individuen mit unterschiedlichsten kulturellen (IT und OT) und beruflichen Hintergründen konfrontiert. Das stresst unseren Geist noch mehr.

LARP: Globalization in a nutshell

Gerade bei großen, offenen LARPs jenseits der 200 Teilnehmer, mit teils internationalem Publikum, prasseln unglaublich viele Eindrücke auf uns ein. So hat man es nicht nur OT mit verschiedenen kulturellen Hintergründen zu tun, sondern auch IT: Als da wären, der Boron-Priester aus Aventurien neben dem Paladin aus Azeroth und dem Magier aus dem mittelländischen Anrea die sich heftig mit dem Noldor-Elb aus Mittelerde streiten. Für sich genommen eigentlich absurde Situation, ist sie im LARP nicht unwahrscheinlich. Man hat also vier Individuen mit mindestens drei Professionen aus vier unterschiedlichen Reichen und davon einen, der  sogar innerhalb seiner Welt ein Exot ist. In den drei Tagen hat man meist nicht die Zeit, die Lebensgeschichte aller Beteiligten mit denen man spielt zu erfahren, manchmal interessiert sie einen schlicht auch nicht. Dennoch versucht man, auch für eine größtmögliche Immersion, diese vier adäquat anzuspielen. Hierfür bedient man sich verschiedener Stereotypen über diese Charaktere. Der Boroni wird wohl nicht gesprächig sein; der Magier wird sofort auf das Artefakt anspringen, das man dabei hat; den Paladin muss ich erst gar nicht fragen, ob er mir hilft den verschlossenen Raum aufzubrechen; der Elb ist ziemlich sicher ein arroganter Typ. Der Spieler weiß recht schnell, wie er mit den unterschiedlichen Individuen umzugehen hat, Details ergeben sich dann im vertiefenden Spiel und vielleicht hilft der Paladin dann doch beim Einbruch, wenn es für ein höheres Wohl ist.

Als angespielter Spieler profitiert man im ersten Moment genauso wie der anspielende Spieler von diesen Stereotypen. Ich spare Zeit und Denkkapazität in einem Zustand wo beides Mangelware ist.

Dafür ist es aber erforderlich, dass ich mich auf Stereotypen einlasse, vor allem als Spieler einer speziellen Kultur oder Berufung. Damit gibt man in einem komprimierten Setting seinem Gegenüber die Möglichkeit einer möglichst realitätsnahen Einschätzung ohne die Lebensgeschichte zu kennen.

Gibt es den Stereotypen?

Um einen Stereotypen bedienen zu können, muss es auch einen geben. Und ja, den gibt es für so ziemlich alles im Rollenspiel. Geprägt durch zeitgenössische Rollenspielsysteme, Literatur, Film und Fernsehen prägt sich ein Bild. So entsteht, wie bereits erläutert, ein Stereotyp.

In manchen Fällen mag dies zu hitzigen Diskussionen führen, ein Paradebeispiel dafür sind sicherlich Elfen oder Elben. Selbige gelten in der Regel als arrogant, wenig impulsiv, den Menschen in vielen Dingen überlegen und gar elitär in ihrem Verhalten. Dem mag man entgegenhalten, dass dies ein Bild sei, welches vorrangig von Herr der Ringe geprägt ist.

Elfen aus den Vergessenen Reichen hingegen sind Menschen gegenüber aufgeschlossen, oft sogar neugierig und gesellig. Also das Gegenteil eines Elben.

Das ist zwar vollkommen richtig, widerlegt aber nicht den Stereotypen. In den 80er und 90er Jahren, besonders den Anfängen des LARP im deutschsprachigem Raum, war Dungeons & Dragons das wohl prominenteste Fantasy-System. Entsprechend herrschte auch ein anderes Bild von Elfen vor. Mit der Zeit gewann DSA an Einfluss, gefolgt Tolkiens Herr der Ringe, Warhammer und Warcraft. Hier waren Elfen vollkommen anders. Isoliert, arrogant und nicht die besten Freunde der Menschen oder überhaupt jemandem.

Ein weiterer wichtiger Unterschied zum Vorurteil kommt zum Tragen: Stereotypen können einem Wandel unterliegen. Das macht es nicht falsch oder schlecht einen Elfen aus den Vergessenen Reichen zu spielen. Ganz im Gegenteil, LARP und Rollenspiel lebt auch von der Vielfältigkeit, selbst in geschlossenen Settings. Der Elf wird aber erklärungsbedürftig und nicht jeder wird sich die Zeit nehmen, diese Erklärung hören zu wollen.

Plädoyer für Stereotypen und Vorurteile

Stereotypen haben auch Vorteile, wenn wir sie nicht mit einer Wertung versehen. Sie bieten uns in einem zeitlich stark komprimierten Handlungsablauf die Möglichkeit, unser Gegenüber schnell einzuschätzen und uns selbst schnell einschätzbar, erwartbar zu machen. Wenn wir uns für einen Charakter entscheiden, dann haben wir meist auch Erwartungen oder Wünsche, wie unsere Umwelt ganz grundsätzlich auf uns reagieren und mit uns interagieren soll. Wenn man dabei mit Stereotypen arbeitet, kann man seinen Mitspielern helfen diese Erwartung zu erfüllen.  Dafür ist es erforderlich, sich mit Stereotypen auseinanderzusetzen um typische Verhaltensweisen, zumindest teilweise, zu übernehmen. Noch wichtiger ist aber beim ersten Eindruck zu unterstützen und dieser erfolgt nun mal optisch. In der visuellen Kommunikation arbeitet man schon längst damit Geschichten mit einfachen Bildern zu erzählen. Grade im LARP ist das ein passender Ansatz. So hilft auch schon das optische Erscheinungsbild, erwartbar zu werden. Auch hier liefern uns die Literatur und Rollenspielsysteme unzählige optische Vorbilder, die uns inspirieren können.

Vorurteile sind hingegen zwar grundsätzlich negativ, aber in LARP und Rollenspiel durchaus dienlich, um Konflikte in kurzer Zeit heraufzubeschwören.

Wichtig ist nur, beides zu unterscheiden und sich auf die Vorteile beider Ansätze im LARP einzulassen. Denn wenn man erwartbar ist, überrascht man sein Gegenüber umso mehr mit etwas Unerwartbarem.

Artikelbild: Nabil Hanano

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