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Die Teilzeithelden nutzten die Möglichkeit, auf der Grand Masquerade ein Interview mit Jason Andrew zu führen. Jason ist einer der Chefautoren und Miterfinder des amerikanischen World of Darkness-LARP des Mind´s Eye Theatre (MET)-Systems, die von By Night Studios herausgebracht werden. Wir sprachen unter anderem über Unterschiede im europäischen und amerikanischen LARP, aus amerikanischer Sicht, warum sich MET in Europa nie durchgesetzt hat und wie es wegen weniger Zeilen zu Morddrohungen gegen Jason gekommen ist.

Mind´s Eye Theatre

Teilzeithelden: Hallo Jason, magst du dich bitte einmal für unsere Leser vorstellen?

Jason: Hi, ich bin Jason Andrew und ich bin der Hauptentwickler für Mind´s Eye Theatre (MET). Wir schreiben LARP-Produkte für die World of Darkness (WOD). Das letzte Regelwerk, welches wir veröffentlichten, ist Mind´s Eye Theatre: Vampire: The Masquerade, dicht gefolgt von Mind´s Eye Theatre: Werewolf: The Apocalypse.

Teilzeithelden: Spielen die Spieler von Mind´s Eye Theatre in einer weltweiten Chronik, oder spielt jede Gruppe für sich?

Jason: Wir stellen nur das Buch und die Basismaterialien zur Verfügung. Verschiedene Settings wurden von uns veröffentlicht, und wir stellen natürlich die Regeln zur Verfügung. Zusätzlich geben wir auch Tipps und Tricks, wie man am besten das Spiel spielt. Verschiedene Spielgruppen haben jedoch auch schon unser Spielmaterial „gekickt“ und ihr eigenes Ding gemacht.

In den USA gibt es so um die sechs Fanclubs, die alle mehr oder weniger nach unseren Regeln spielen. Ich glaube, in Brasilien gibt es zwei Fanclubs, und natürlich eine große Anzahl an losen Spielgruppen. In Kroatien gibt es eine Truppe, die zu 100% nach unserem Regelwerk spielt, die machen Veranstaltungen irgendwo auf einem Schloss. Als ich Bilder von deren Veranstaltungen gesehen habe, war ich total überwältigt. Vor kurzem haben wir eine spanische Version von MET: Vampire: The Masquerade veröffentlicht. In Spanien gibt es auch eine große geschlossene Vampire Live-Kampagne, die nach den MET-Regeln spielen.

Teilzeithelden: Wie viele Menschen spielen deiner Meinung nach mit den MET-Regelwerken?

Jason: Oh, da müsste ich raten. Aber wenn ich mich nur auf die amerikanischen Spieler beschränke, die Vereine und das Drumherum, dann sind es wohl so um die 5000 Spieler.

Teilzeithelden:  Gibt es so etwas wie ein zentral gesteuertes Register, in dem die Spieler sich registrieren können?

Jason: Nein, die sind alle in verschiedenen Vereinen. Wir ermutigen die Spieler, so zu spielen, wie sie es wollen. Verschiedene registrierte Vereine spielen in ihrem einzigartigen Stil. Wir versuchen den Spielern Werkzeuge an die Hand zu geben, und wir helfen ihnen mit diesen Werkzeugen umzugehen. Letztendlich sind es aber der Spielleiter und die Spieler, die sich das nehmen was wir aufgebaut haben, um daraus etwas Eigenes zu machen.

Wir haben versucht Autoren aus den verschiedensten Spieltraditionen zu bekommen.

Jason Andrew
Jason Andrew

Teilzeithelden: Mein erster Kontakt mit Mind´s Eye Theatre waren die MET-Journale, die ich auf Ebay zu einem günstigen Preis gekauft habe. Wird es zukünftig wieder diese Journale geben?

Jason:  (lacht) Aufgrund der Entwicklung der letzten Jahre haben wir etwas Ähnliches herausgebracht. So etwas wie eine Anthologie, sie heißt: Storytellers Secrets. In dieser Anthologie gibt es verschiedene Aufsätze, und jeder Aufsatz gibt Tipps, wie man das eine oder andere umsetzen kann. Wir haben versucht, Autoren aus den verschiedensten Spieltraditionen zu bekommen. So hat z.B. Martin Ericsson (Lead Storyteller von White Wolf und selbst Nordic-LARPer) einen Aufsatz geschrieben. Ich selbst habe auch einen Aufsatz geschrieben. Ich glaube nicht, dass unsere Spieler zu strenge Vorschriften haben wollen, wie das Spiel zu spielen ist. Ich möchte dir ein paar Beispiele nennen: In den USA gibt es einen Verein, der fast weltweit agiert und mit verschiedenen Partner-Clubs zusammenspielt.

Der Verein heißt: Mind´s Eye Society. Mind´s Eye Society versucht ihr Spiel innerhalb gewisser Perimeter gemeinsam zu gestalten. Dann gibt es noch: Underground Theater. Underground Theater ist in einem lokalen Bereich sehr erfolgreich. Diese bevorzugen ein lokales Spiel, um eine besondere lokale Identität herzustellen. Dem Verein Hidden Parlor geht es primär darum, eine intensive Spieler-Gemeinschaft zu bilden, die haben aber gerade erst angefangen. Wir haben einen ganz neuen MET-Werewolf Fan-Club, der nennt sich Enraged Inc.. Ich bin sehr gespannt auf das, was die so alles auf die Beine stellen werden.

Teilzeithelden: Wie stellt ihr eure Ideen und Regelwerke eurem Publikum vor? Publiziert ihr einfach und guckt was passiert, oder macht ihr mehr?

Jason: Wir von By Night Studios machen etwas, das wir Boutique-Events nennen. Ein Boutique-Event ist so ähnlich wie das europäische LARP. So wie ich das verstanden habe, mögen die Menschen in Europa kurze Tagesveranstaltungen. Ganz viel in ganz kurzer Zeit – alles an einem Tag. Die Vereine setzen da eher auf eine Serie von Events.

Teilzeithelden: In Deutschland gibt es beide Varianten.

Jason:  By Night Studios veranstaltet zwei Events im Jahr. So sind Blood and Betrayal und Rage and Retribution hier auf der Grand Masquerade genau solche Events.

Deutsches LARP aus amerikanischer Sicht

Die Spielleiter im europäischen Spiel haben viel mehr „Dignitas“ und Autorität.

Teilzeithelden: Ich kenne keine Gruppe in Deutschland, die nach dem MET-Schere-Stein-Papier-System spielt. Einer der Hauptgründe ist, dass dieses System die Spieler immer wieder aus dem Spiel bringt. Wäre es nicht eine gute Idee, optionale Regeln für den europäischen Markt zu entwickeln?

Jason: Nun, die europäischen Spieler spielen eher auf kurzen Events. Der Plot ist sehr intensiv, aber auch innerhalb eines Abends abgeschlossen. Wenn man nun versucht, das jede Woche zu machen, braucht es ganz natürlich mehr Regeln und Strukturen.

Teilzeithelden: Ich selbst habe Vampire-Live jede Woche gespielt. Wir spielten in einer Gruppe von 100 Spielern, von denen sich um die 30 Spieler jede Woche trafen. In der Chronik Eins (C1) in Deutschland waren zu Spitzenzeiten an die 1000 Spieler unter einem Regelwerk organisiert. Niemand, den ich kenne, nutzt in Deutschland Schere-Stein-Papier.

Jason: Von der Chronik Eins habe ich gehört. Mir ist bewusst, dass manche Menschen diesen Spielmechanismus nicht mögen. Wir haben verschiedene Ideen, an denen wir gerade arbeiten. So wollen wir Morra, ein System, das ohne viele Regeln auskommt, einführen. Die Spielmechanismen basieren auf einem alten Glücksspiel. Wir besprechen gerade, ob solch ein System Abnehmer finden wird. Ich denke schon, dass sich viele für ein regelleichteres System interessieren. Ich habe auch schon Designer für Morra gefunden, jedoch müssen erst meine Chefs zustimmen, und dann muss White Wolf auch noch zustimmen. Aber ich denke, dass eine Veröffentlichung sehr gut möglich ist. Mehr darf ich leider nicht erzählen, weil noch nichts offiziell ist. Ich bin jedoch überzeugt, dass es euch begeistern wird.

Wer mehr über das Vampire-Live von 1992-99 in Deutschland erfahren mag, folgt dieser Erinnerung an vergangene Zeiten des Vampire Live.

Teilzeithelden: Was hältst du von einem modularen System, wo sich die Spielleiter die Regeln heraussuchen können, die ihnen gefallen?

Jason: Generell bin ich dafür, dass man einfach die Regeln nimmt, die einem besser gefallen. Die Spielleiter im europäischen Spiel haben viel mehr „Dignitas“ und Autorität als die Spielleiter in den USA. In Amerika sieht das anders aus, da braucht es mehr Regeln. Ich würde gerne versuchen, all die verschiedenen Spielstile aufzugreifen.

Teilzeithelden: Worin siehst du denn die größte Innovation in der neuesten Auflage?

Jason: Während wir am Schere-Stein-Papier-System festhielten, haben wir uns über die Jahre immer mehr an das Pen & Paper angenähert. Für den Spieler auf einem LARP sind Macht oder ein Plot nicht das Wichtigste. Sich für einen Moment „cool“ zu fühlen, das ist das Wichtigste im LARP. Ich weiß, dass sich diese Idee gerade etwas lustig anhört. Wir nennen es die „Wirtschaftlichkeit des cool Seins“ (The Economy of Cool). Die Idee dahinter ist, dass jeder im LARP das Gefühl haben möchte, etwas zu bedeuten, seine Geschichte soll eine Bedeutung haben, und dass er diese Geschichte mit anderen Menschen teilen kann. So soll jeder seinen Moment im Rampenlicht bekommen, deshalb haben wir das Spiel grundlegend neugestaltet. Wir haben die Dinge, die du machen kannst, limitiert, aber das, was du machen kannst, ist sehr cool. Jeder Charakter hat also etwas, in dem er sehr, sehr gut ist, aber auch vieles, in dem er nicht so gut ist, und dafür braucht er andere Spieler mit ihren Charakteren.

Henning und Alexander von den Teilzeithelden haben sich mit dem Thema Screentime im LARP und Screentime beim Tischrollenspiel beschäftigt.

Die Entwicklung von MET

Ich bin hier der Chef

Teilzeithelden: Das erinnert mich an die klassische Fantasy-Abenteurer-Gruppe mit Schurken, Priestern und Kämpfern.

Jason: Ja genau, egal wie mächtig du bist, egal wie viele Erfahrungspunkte du hast, in unserem MET-System bist du sehr limitiert in dem, was du tun kannst, und du brauchst andere Charaktere, um bestehen zu können. Das ursprüngliche MET war dafür geschaffen, in der Disco und in Clubs zu spielen. Es war ein Spiel, das man im Geheimen spielte.

Teilzeithelden: Man sollte das Spiel also in der Öffentlichkeit spielen, ohne dass andere mitbekommen, dass man gerade in einem Spiel ist?

Jason: Exakt, gerade in Gothic-Clubs. Man trifft sich – Schere-Stein-Papier, kein großes Ding. Wir haben aber MET zu einem komplett neuen Spiel weiterentwickelt. Wenn du jemals Tischrollenspiel gespielt hast, dann wirst du MET intuitiv begreifen. Unser Ziel war es, die Regeln sehr weitreichend zu gestalten, das grundlegende System jedoch sehr einfach zu halten.

Teilzeithelden: Könnte man sagen, dass ihr ein Regelwerk irgendwo zwischen dem Tischrollenspiel und dem Nordic-LARP erschaffen wolltet? 

Jason: Ja, richtig! Und ich glaube, dass wir damit Erfolg hatten. Es hat Einschränkungen in dem, was die Spieler tun können, aber indem wir das machen, können wir den Spielern Freiheiten geben. Im alten System konnte ein Spieler das Spiel an sich reißen. Wenn er die Fähigkeiten und das richtige Zeug hatte, konnte er den Raum betreten und sagen: „Ich bin hier der Chef“. Mit unserem jetzigen Spiel ist das sehr schwierig. Ich könnte z.B. der beste Krieger sein, aber wenn ich keinen „Social-Guy“ dabei habe, macht mich der Toreador fertig, und wenn ich keinen „Mental-Guy“ dabeihabe – du weißt worauf ich hinauswill. Habe ich keine Gruppe, kann ich nichts erreichen, und das ist „The Economy of Cool“, die das Spiel besser macht. Ich glaube, dass das sehr gut funktioniert.

Der Kickstarter für das MET Werewolf brachte ein knappes Einspielergebnis
Der Kickstarter für das MET Werewolf brachte ein knappes Einspielergebnis

Spiegel einer wütenden Gesellschaft

Ich hatte bis dahin noch nie eine Morddrohung via E-Mail oder Facebook bekommen …

Teilzeithelden: Erzähl uns doch einmal über die Herausforderungen, ein Werewolf-LARP-System zu kreieren.

Jason: Werewolf war für uns wirklich eine große Herausforderung. Vampire sind ja unsterblich, und verschiedene Themenbereiche können in diesem Setting funktionieren. Du kannst ein MET-Vampire-Spiel in den 80er Jahren spielen lassen, und es würde sich genauso wie ein MET-Vampire-Spiel anfühlen, als wenn du es in der heutigen Zeit spielen lassen würdest. Viele der MET-Vampire-Herausforderungen sind universell anwendbar. Werewolf wurde als Spiegel der Gesellschaft in den 90er Jahren entwickelt. Diese Zeit war sehr progressiv, besonders für die Amerikaner. Als ich das erste Mal Werewolf spielte, war ich im College. Ich glaube, das war so 1994. Wir haben uns das Zeug im White Wolf-Regelwerk angeschaut und gelacht. Es erschien uns wirklich zu blöd, was da stand, z.B., dass die Welt aufgrund einer ökologischen Katastrophe sterben könnte. Das war so weit weg von dem, was wir damals dachten. Wir haben damals über die Bedeutung von Recycling gelacht. Recycling war etwas, was merkwürdige Menschen als Hobby gemacht haben. Heutzutage kenne ich niemanden mehr, der behauptet, dass es die Klimaveränderung nicht gäbe. Die Black Furies (Schwarze Furien) waren damals eine sehr radikale Idee, aber die Gesellschaft hat sich diesbezüglich in den letzten 25 Jahren sehr verändert.

Teilzeithelden: Ist es nicht erschreckend, dass diese damals radikalen Ideen sich zu einer wahren Realität entwickelt haben?

Jason: Da habe ich ein weiteres Beispiel. Die Bone Gnawers (Knochenbeißer) in unserem Spiel haben sich verändert. Im ursprünglichen Setting waren die Bone Gnawers die modernen Primitiven, die Straßenmenschen, die urbanen Schamanen. Wir haben das ein wenig angepasst. Wir haben aus ihnen die wütenden 99% gemacht. Sie sind immer noch die Unterklasse, aber sie sind weniger die Straßenschamanen, als sie die Mechaniker sind. Sie sind der normale Arbeiter, der ums Überleben kämpft. Das sind die Menschen, die auf die Straßen gehen und protestieren. Die Black Furies der ersten Edition sind von der zweiten Welle des Feminismus inspiriert. Heutzutage gibt es eine vierte Welle des Feminismus, das haben wir aufgegriffen. Wir sind, was das angeht, inklusiver geworden. Tatsächlich hatten wir diesbezüglich einige Morddrohungen bekommen.

Einige Menschen waren wirklich sehr entrüstet. Wir hatten in unserem Buch ein paar Zeilen in denen stand: „Wenn du das Herz einer Frau hast, dann wirst du in den Reihen der Black Furies als Frau akzeptiert.“ Das bedeutet, wenn du ein Transgender bist, dann ist es den Geistern unseres Totems egal, welches Fleisch dein Körper trägt. Einige Menschen sind diesbezüglich wirklich ausgerastet. Ich hatte bis dahin noch nie eine Morddrohung via E-Mail oder Facebook bekommen, das hat mich schon etwas eingeschüchtert. Ich hatte jedoch das Gefühl, dass wir den modernen Geist der Gesellschaft getroffen haben. Weißt du, die heutige Gesellschaft ist so angefüllt mit Wut, und ich weiß nicht warum. Jeder ist irgendwie einfach nur wütend. Diese Wut kann jedoch in eine positive Richtung kanalisiert werden. Du kannst wütend genug werden, um die richtigen Veränderungen in deinem Leben zu machen. Diese Wut kann dich jedoch auch vergiften. Mit diesem Gefühl haben wir das neue Werwolf angepasst, entwickelt und verändert.  

Teilzeithelden: Für manche Menschen ist Veränderung sehr beängstigend und schmerzvoll.

Jason: Ja, ist es. Ich kenne viele Menschen, die lieben Werewolf. Werewolf ist ihre Leidenschaft, es ist das, was sie am meisten in ihrem Leben lieben. Die Idee, dass jemand daherkommt und ihre Komfortzone verändert, verändert was sie kennen und was ihnen Sicherheit gibt, stört sie. Das zwingt sie, sich ggf. selbst zu verändern. In der World of Darkness (WoD) sollte man sich jedoch nie sicher und zuhause fühlen. Die WoD sollte ein Spiegel der Ängste der heutigen Gesellschaft sein, und diese Angst werden wir in unserem Spiel immer wieder neu aufgreifen.

Teilzeithelden: Wir danken für ein spannendes Interview.

Artikelbild: By night Studios, Fotografie: Karsten Zingsheim

 

3 Kommentare

  1. FunFact: es gab hierzulande tatsächlich einige – auch durchaus langlebige – Chroniken, die nach dem MET-System spielten; besonders gern denke ich da an die alte Mainzer „Uni-Chronik“ zurück.
    Wie Andrew ja andeutet und es die gespielte Erfahrung zeigt(e): gerade das MET, also Schnick-Schnack-Schnuck/Stein-Schere-Papier, eignet sich ganz besonders, um in der Öffentlichkeit zu spielen, quasi tatsächlich die Maskerade zu wahren; außerdem bot und bietet dieses System auch jenen, die keine LARP-Kampf-Erfahrung haben/hatten die Möglichkeit, „mitzumischen“ und zu „gewinnen“; beides Fakten, die hierzulande gerne unterschätzt werden.

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