Geschätzte Lesezeit: 7 Minuten

Bitte, liebe Leser, nehmt euch ein paar Minuten und überfliegt kurz einmal den Wikipedia-Artikel zu Vincent van Gogh. Ich trinke solange ein Bier, so tschechisch wie der Autor des Comics, den ich euch heute vorstellen möchte.

Fertig? Gut, aber ihr könnt direkt wieder vergessen, was ihr da gerade gelesen habt. Van Gogh ist nämlich gar keine Figur aus der Vergangenheit, sondern stammt aus unserem Jahrhundert – zumindest aus einer grotesken und abstoßenden Version unserer Zeit. Stellt euch eine Welt vor, die nur Katerstimmung und Rausch kennt. Dort, zwischen bitterer Armut und ekelhaftem Reichtum, in Spelunken, deren dunkle Ecken abartige Exzesse gebären, wartet ein gebrochener Mann, der euch die Geschichte von Vincent van Gogh erzählt.

Handlung

Die Geschichte orientiert sich sehr grob an der Biografie der historischen Figur Vincent van Gogh. Im Mittelpunkt steht aber auch sein Neffe Albert, der nach Vincents Tod von dessen posthumem Ruhm profitiert und stinkreich wird. Ja, tut mir leid für den Spoiler, aber Vincent wird schon nach einigen Kapiteln der Schädel von seiner gewalttätigen Ehefrau eingeschlagen. Danach bleibt er uns aber noch über das ganze Buch erhalten, keine Sorge.

Immer wieder werden rückblickend einzelne Episoden aus Vincents abenteuerlichem Leben geschildert, der (wenn auch sehr dünne und zerfaserte) rote Faden zwischen den Kapiteln ist aber das Schicksal seines Neffen Albert. Erst nach einem Viertel des Buches wird zudem klar, dass der Erzähler in den Textkästen ein Ich-Erzähler ist, der sich schließlich vorstellt. Albert habe ihn angeheuert, die Geschichte des toten Vincent zu erzählen, was ihn aber nicht davon abhält, auch eigene Ansichten und Anekdoten einzustreuen.

Das klingt alles verwirrend? Ist es auch ein wenig, aber es passt zu der Welt, die eine wirre Mixtur aus der Stadt aus Transmetropolitan und Interzone aus Naked Lunch darstellt. Es gibt zwar die gleichen Länder, die es auch in unserer Welt gibt, aber jede Dystopie und grausame Verschwörungstheorie, die wir kennen, ist dort bittere Realität. Sklaven werden in Scharen aus Afrika nach Europa geschleppt, wo es aber eigentlich keine Jobs mehr gibt. Also gibt es auch noch Massen an Obdachlosen, die in Konzentrationslagern zusammengetrieben und als Versuchskaninchen missbraucht werden. Der US-Präsident ist nur ein Roboter, gesteuert von bösartigen Mächten im Hintergrund und es gilt das Recht des Reicheren.

Ich könnte hier noch viel mehr beschreiben, aber ihr solltet nun hoffentlich den Eindruck gewonnen haben, dass dieser Comic nichts für Zartbesaitete ist und ihn nicht unbedacht ordern. Der unbekümmerte Schreibstil lässt Massenmorde, Vergewaltigungen und Kastrationen noch drastischer erscheinen, auch wenn sie visuell nie explizit dargestellt werden. Ein Beispiel gefällig?

Im ersten Kapitel ist der kleine Albert unterwegs zur Post und fühlt sich von einer Bande Jugendlicher bedroht, die offensichtlich nichts im Viertel der Besserverdienenden zu suchen hat. Er ruft daraufhin die Polizei an, welche die pickligen Ganger sofort exekutiert, während Albert weiter zur Post geht und dabei eine senile alte Frau tötet, die ihm zu nahe kommt. Bei der Post angekommen stolpert Albert in das nächste Blutbad, das gerade durch eine Horde Räuber verübt wird, die glücklicherweise aber von einem anrückenden Sonderkommando niedergemäht werden. Albert schwimmt durch ein Meer aus Blut nach draußen, wo ihm ein ekelhafter alter Mann anbietet, ihn mitzunehmen und zum Kinderpornostar zu machen, falls sich seine Eltern unter den Toten befinden und er nun Waise sein sollte. Auch hier zögert Albert nicht lange und kastriert den Mann. Ach ja, Albert ist übrigens erst zwei Jahre alt. Das klingt alles sehr deftig und verstörend, ja, ist aber im Detail nicht zu sehen, sondern wird nur in Erzählkästen beschrieben, während die eigentlichen Bilder nur wenig zeigen, sondern das Geschehene eher andeuten. Wirkliche Splatterszenen gibt es kaum und Gewalt wird nur selten explizit dargestellt.

Der Erzählstil passt also sehr gut zu der beschriebenen Welt, deren Bewohner meistens zwischen Lakonie und gewalttätigen Exzessen schwanken. Sie sind abgestumpft und unzurechnungsfähig, genau wie der Erzähler, über den man im Verlauf des Buches etwas mehr erfährt.

Eine richtig zusammenhängende Handlung hat dieser Band nicht. Es kann natürlich sein, dass der Genuss bewusstseinserweiternder Mittel einen Zusammenhang erkennen lässt, aber unterm Strich muss man diesen Band als das nehmen was er ist: eine Sammlung von Geschichten, die ein fiktiver Erzähler ohne feste Reihenfolge zum Besten gibt. Mal drehen sie sich um Vincent van Gogh, mal um dessen Neffen Albert, mal auch um den herumstreunenden Erzähler selbst, oder gar um eine völlig andere Person.

Die Geschichte, die Kunst, genügt sich in diesem Falle selbst und bemüht sich nicht um große moralische Botschaften oder Themen. Außer vielleicht der Frage nach dem Wert, den solch abstrakte Kunst angesichts des Schreckens hat, in dessen Rahmen sie gestaltet wird. Und die wird, ihrer Natur gemäß, nicht beantwortet.

Charaktere

Vincent van Gogh ist ein begnadeter aber irgendwie gestörter Maler, der so kaputt ist, wie alle anderen Menschen in seiner Umgebung auch. Er ist ein Herumtreiber, der in den Tag hinein lebt und es liebt, anderen Menschen die Ohren abzuschneiden. Meistens hat er einfach nur unglaubliches Pech, hinterlässt selber aber auch viel verbrannte Erde. Als er durch sinnlose Gewalt stirbt, wird er schließlich doch noch berühmt.

Albert van Gogh ist Vincents Neffe und erbt die Rechte an dessen Bildern, wodurch sein Vermögen weiter und weiter wächst. Albert will selber Künstler werden, sucht nach Erleuchtung, findet sie und erteilt anderen Menschen danach weise Ratschläge. Doch Achtung! Kommt bloß nicht auf die Idee, er sei so etwas wie die Hauptfigur oder der Sympathieträger der Geschichte. Er ist genauso verrückt wie alle anderen auch, wenn auch nicht so sadistisch.

Haltet euch lieber an den Erzähler, der sich nach und nach als eigenständige Figur aus seinen Erzählungen herausschält. Doch auch er ist ein drogensüchtiges und heruntergekommenes Wrack, das nur noch schwimmt, weil Albert es zeitweise mit Geld füttert. Gleichzeitig dient er als Alter Ego des Autors Peter Mérka und gibt als einzige Figur etwas über sein Inneres preis. Die restlichen Figuren lernen wir nur durch seine Interpretation kennen. Was natürlich auch die Frage zulässt: Spielen diese Geschichten in einer fiktiven, wahnsinnig gewordenen Welt? Oder spielen sie nur im Kopf eines wahnsinnigen Erzählers?

Zeichenstil

In jener dreckigen Welt hat jeder Mensch unreine Poren, Falten, Narben und schlecht gestutzte Bartstoppel. Dávid Marcin versteht es gut, das Hässliche aus den Menschen heraus zu kitzeln. Wie oben beschrieben driftet er dabei aber nie in pure Gewalt- und Splatterorgien ab, auch wenn die Erzählung dies zulassen würde. Ein paar Blutspritzer, grobe Hände auf weiblicher Haut oder gequälte Gesichter reichen in Verbindung mit den beschreibenden Texten aus, um ein Gefühl der Beklemmung zu erzeugen. Der Zeichner ist dabei auch nicht um beinharten Realismus bemüht, sondern erlaubt sich Ausflüge ins Cartoonesque. Das ist auch gut so, denn so bleibt die unverbindliche Distanz zu der beschriebenen Gewalt erhalten, die der Erzähler durch seinen lakonischen Stil bewahrt.

Preis-/Leistungsverhältnis

Für 12,80 Euro kann man dieses Werk bei Interesse im Online-Shop des Kid Verlags erstehen, könnte aber auch in einigen wenigen Comicläden fündig werden. Das ist ein fairer Preis für fast 200 Seiten, die viel erzählen und zwei bis drei Abende füllen dürften.

Erscheinungsbild

van-gogh-21-jahrhundert-rezension-coverDer Band liegt gut in der Hand, die schwarzweißen Seiten lassen sich gut durchblättern und bieten den perfekten Hintergrund für die verschrobenen Zeichnungen von abgehalfterten Menschen, deren Gesichter Abgründe erkennen lassen, die tief in ihre Seelen reichen. Dabei ist erfreulich, dass der Band im gut lesbaren Großformat gedruckt wurde. Zwar wirkt er nicht besonders langlebig, aber aufgrund seines positiv perversen Inhalts eignet er sich ohnehin nur bedingt für Ausflüge an den Strand oder als Lektüre im vollbesetzten Bus.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Kid-Verlag
  • Autor(en): Pétr Mérka
  • Zeichner(in): Dávid Marcin
  • Erscheinungsjahr: 2016
  • Sprache: Deutsch
  • Format: Softcover
  • Seitenanzahl: 192
  • Preis: 12,90 Euro
  • BezugsquelleAmazon

 

 

Fazit

Ihr habt es vielleicht schon gemerkt: Dieser Comic ist nichts für schwache Nerven und sanfte Gemüter. Drogen, Sex, Gewalt und sehr tiefe menschliche Abgründe sind hier allgegenwärtig. Es gibt auch keine positive Botschaft, dass irgendwann alles besser wird, oder einen aufrechten Helden, der trotz der Abartigkeiten in seinem Umfeld moralische Integrität beweist. Hier gibt es nur gebrochene Gestalten, die sich zynisch oder desinteressiert durch den chaotischen Strom treiben lassen.

Dennoch möchte ich diesen Band jenen ans Herz legen, die nun nicht abgeschreckt, sondern interessiert sind. Wer Maximal-Dystopien abfeiert, in denen die Menschheit wirklich alles verbockt hat, sollte einen Blick riskieren. Wem sich schon beim Lesen dieser Rezension die Fußnägel hochrollten, sollte diesen Band lieber in einer dunklen Ecke liegen lassen.

Daumen4maennlichNeu

Artikelbilder: Kid Verlag
Dieses Produkt wurde kostenlos zur Verfügung gestellt.

 

 

Kommentieren Sie den Artikel

Bitte geben Sie Ihren Kommentar ein!
Bitte geben Sie hier Ihren Namen ein