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Der erfolgreiche Webcomic Nimona von Noelle Stevenson wurde vom US-Verlag HarperCollins 2015 auch als Taschenbuch herausgegeben. Hier war der Erfolg ebenfalls durchschlagend, fand sich die Geschichte doch für mehrere Wochen auf der Bestsellerliste der New York Times wieder. Ende 2016 erschien das entsprechende deutsche Taschenbuch, das zugleich den Auftakt zum neuen Sublabel Minisplitt des Splitter-Verlags darstellt.

Handlung

Als eines Tages im Unterschlupf des Schurken Ballister Blackheart das junge Mädchen Nimona auftaucht und sich ihm als neuer Sidekick aufdrängt, ahnt dieser noch nicht, wie sehr sie sein Leben umkrempeln wird. Die ungestüme Teenagerin ist eine Gestaltwandlerin, und auch sonst sorgt sie für eine Menge Wirbel. Gemeinsam entwickeln sie einen Plan, um die verdeckten Aktivitäten des Instituts für Strafverfolgung und Heldentum (und von dessen Direktorin) aufzudecken, das große Mengen der verbotenen Substanz Jadewurzel lagert. So sollen erste Krankheitsfälle durch eine harmlose Tinktur die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf das Institut lenken, doch dessen Direktorin, die im Hintergrund alle Fäden in der Hand hält, hat natürlich etwas dagegen. Auch Nimonas zunehmend mächtigere Kräfte wecken mehr und mehr das Interesse und die Furcht des Instituts, das des Schurkenduos einfach nicht habhaft zu werden vermag.

Charaktere

Der Titel von Nimona zeigt bereits die drei zentralen Figuren, um die der Comic sich dreht. Ballister Blackheart wird schon zu Anfang als Schurke wider Willen vorgestellt, der noch eine Rechnung mit dem Institut für Strafverfolgung und Heldentum offen hat: Dessen größter Kämpfer, Ambrosius Goldenloin, war mit Blackheart auf der Heldenschule, wo der goldgelockte Kämpe Blackheart nach einem verlorenen Duell den Arm abschoss. Derart verstümmelt und trotz eines mechanischen Ersatzarms in den Augen des Instituts kein Heldenmaterial mehr, entschied sich Blackheart für die Rolle des Erzbösewichts. Doch selbst in dieser Funktion folgt er immer noch strikten Regeln, so etwa, dass niemand durch seine Hand umkommen soll. Ist er also wirklich der Schurke, den ihn alle in ihm sehen?

Immer wieder begegnet Blackheart seiner Nemesis Ambrosius, der den „Bösewicht“ im Auftrag des Instituts stellen und dingfest machen soll. Der Held mit der blonden Haarpracht besteht zwar beständig darauf, dass der Zwischenfall auf der Heldenschule ein Unfall war, beginnt aber im Laufe der Geschichte seine Vergangenheit zu hinterfragen – nicht zuletzt wegen der Gnadenlosigkeit, mit der die Direktorin des Instituts Blackheart stoppen und Nimona beseitigen will.

Leider werden genau diese vielversprechenden Beziehungen unter jenen zwei Hauptfiguren im Laufe der Geschichte kaum ausgearbeitet. Stattdessen erfährt der Leser schon innerhalb der ersten zwanzig Seiten alles Nötige über die freundschaftliche Feindschaft zwischen Blackheart und Goldenloin. Das Potential für überraschende Wendungen, Enthüllungen und moralischen Zwiespalt wird kaum genutzt; nur gegen Ende ist es eben Goldenloin, der seine Rolle als Held von Gnaden des Instituts in Frage stellen muss.

So ist es dann auch die titelgebende Figur der Nimona, deren Entwicklung für die meisten Überraschungen sorgt. Das impulsive Mädchen, das die Aufgaben als Bösewicht sichtlich genießt, verbirgt ein dunkleres Geheimnis, als es zunächst den Anschein hat. Es ist weitaus mehr als das reine Ändern ihres Erscheinungsbildes, das die Kleine vermag, so dass sich zunehmend die Frage stellt, was Nimona eigentlich ist. Ist sie wirklich nur ein junges Mädchen, das sich hinter dem Aussehen eines Monsters versteckt, oder ist es vielleicht doch umgekehrt?

Aber erst zum Finale hin nimmt die Geschichte um dieses zentrale Rätsel an Fahrt auf. Während die Möglichkeiten der Figur Nimonas, durch ihre Zusammenarbeit mit Blackheart zu reifen, leider nicht ausgenutzt werden, so erhält der Leser letztlich doch zumindest eine vage Ahnung, was Nimona genau ist und was sie durchgemacht hat. Eine exakte Antwort durch die Autorin hätte dieses behutsam aufgebaute Mysterium wohl nur zerstört, aber hier hätte ich mir gewünscht, dass ein etwas größerer Bogen über die Zusammenhänge zwischen den Figuren gespannt worden wäre.

So bleibt Nimona leider auch hier hinter seinen Möglichkeiten zurück. Stets hatte ich bei der Lektüre das Gefühl, als habe die Autorin Noelle Stevenson mit ihrem ursprünglichen Webcomic erst nur eine unbekümmerte Welt erschaffen wollen, in der die Klischees von Gut und Böse ein wenig auf den Kopf gestellt werden, und dann im späteren Verlauf des Erzählens den Ehrgeiz entwickelt, mehr daraus zu machen. Dazu hätte es aus meiner Sicht aber den Mut gebraucht, die schon ganz am Anfang festgelegten Beziehungen der drei Hauptfiguren zu hinterfragen – Nimona einfach nur zunehmend stärkere und verstörendere Kräfte zuzuschreiben reicht für meinen Geschmack dafür nicht aus.

Zeichenstil

Der Strich von Noelle Stevenson gefällt mir außerordentlich gut. Mit feinen Linien und leicht abstrahierten Formen gelingen ihr ausdrucksstarke Bilder, die die Dramaturgie der Geschichte gut einfangen. Auch die Kolorierung in dezenten aber kräftigen Erdtönen vermag durchgehend zu gefallen.

Faszinierend ist die eigenartige Mischung aus Fantasy und Hightech, die die gesamte Geschichte durchzieht. Zwar sind Blackheart und Goldenloin eindeutig Ritter mit Rüstung und Schwert, doch dazwischen finden sich Monitore für Videotelefonie, Soldaten mit SEK-Ausrüstung, Computer und Datenbanken oder hochtechnisierte Labore. Dieses kleine Detail am Rande, das zumindest mir bei der Lektüre gar nicht sofort bewusst geworden ist, verleiht Nimona zusätzlichen Charme.

Erscheinungsbild

Nimona ist ein klassisches Tradepaperback im großen Taschenbuchformat. Der kräftige, vollfarbige Druck ist sehr ansprechend, das dicke Papier sorgt trotz des Softcovereinbands für Stabilität. Im Anhang findet der Leser noch einige Worte der Autorin Noelle Stevenson zu der Entstehung von Nimona, dazu eine separate Weichnachts-Kurzgeschichte. Einige Entwurfsskizzen über die Entwicklung der Figuren bis hin zu ihrem finalen Erscheinungsbild runden den Band ab.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Splitter-Verlag / Minisplitt
  • Autorin / Zeichnerin: Noelle Stevenson
  • Erscheinungsjahr: 2016
  • Sprache: Deutsch
  • Format: Tradepaperback
  • Seitenanzahl: 272
  • Preis: 19,95 EUR
  • Bezugsquelle: Amazon

 

Digitale Vorschau

Auf der Verlagshomepage des Splitter-Verlags kann man sich auf der Seite zu Nimona das erste Kapitel vorab ansehen. Auch die englische Originalversion des Webcomics ist noch zu finden, hier werden aber seit Veröffentlichung des Buchs nur die ersten drei Kapitel zum Hineinschnuppern angeboten.

Fazit

Nimona hinterfragt gleich auf den ersten Seiten die gängigen Klischees von Gut und Böse. Ist Erzschurke Ballister Blackheart mit seinem strikten Ehrenkodex wirklich der Schurke, und Ambrosius Goldenloin wirklich der Held, als den das Institut ihn nach außen verkauft? Die Gestaltwandlerin Nimona stellt dabei mit ihrem impulsiven Charakter und überraschenden Fähigkeiten die Welt der beiden Widersacher endgültig auf den Kopf. Autorin und Zeichnerin Noelle Stevenson entführt in eine faszinierende Welt, in der Wissenschaft und mittelalterliche Märchen eine einzigartige Mischung eingegangen sind.

Genau diese auf den ersten Seiten etablierten Beziehungen der Charaktere untereinander bleiben aber fast über die gesamte Geschichte erhalten. Das Potential der moralischen Dilemmas und überraschenden Wendungen wird für meinen Geschmack zu wenig genutzt. So nimmt die Erzählung erst zum Finale hin die nötige Fahrt auf, als der Leser zunehmend mit der zentralen Frage konfrontiert wird: Versteckt sich hier ein Kind hinter einem Monster, oder ist es doch umgekehrt?

So bleibt unter dem Strich ein ordentliches Erstlingswerk, das ich zwar durchaus weiterempfehlen kann, das aber auch hinter seinen Möglichkeiten zurückbleibt.

Artikelbild: Splitter Verlag
Dieses Produkt wurde kostenlos zur Verfügung gestellt.

 

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