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Nordic-LARP ist bekannt für hoch emotionale Inhalte und sehr intensives Spiel. Doch wie finde ich heraus wie weit ich mit meinem Gegenüber gehen darf, ohne dabei den Spielfluss nachhaltig zu stören? Wie verhalte ich mich wenn mir eine Szene zu intensiv wird, ohne direkt „Stopp“ zu signalisieren?

Im ersten Teil des Artikels über End of the Line, wurden verschiedene LARP-Spielansätze verglichen und mit ihren individuellen Vor- bzw. Nachteilen gegenübergestellt. In diesem Artikel möchte ich die Spielmechanismen des Nordic-LARPs, so wie sie durch das Team von Odyssé vermittelt wurden, ein wenig tiefer beleuchten.

Die Vorbereitungen

Ein paar Wochen vor dem Spiel bekam jeder Spieler eine E-Mail mit seinem Charakter und den Spielregeln. Das ist wohl der erste Punkt, an den sich Spieler im Nordic-LARP gewöhnen sollten. Charaktere werden nicht selber erschaffen, Charaktere werden zugeteilt. Während einer vorangegangenen Umfrage (vgl. End of the Line Teil 1) konnten die Spielleiter sich ansehen, in welche Richtung die einzelnen Spieler spielen wollten. So wurde aus einem Pool, von vorher erschaffenen Charakteren, der jeweils passende Charakter ausgesucht. Darauf konnten Anpassungen an den Charakteren vorgenommen oder gar ganz neue erschaffen werden. Die Charaktere waren möglichst offen aufgebaut, mit dem Ziel möglichst viel Potential für spielergenerierten Plot zu schaffen. Die Idee der Figur, die einem zugewiesen wurde, ließ genügend Spielraum, um ihr eine eigene Persönlichkeit zu verleihen. Generell galt der Grundsatz: Gibt es einen Punkt den du an deinem Charakter nicht magst – ändere ihn. Der vorgenerierte Charakter sollte eher als Gerüst und nicht als eine Zwangsjacke dienen. Bei wichtigen Änderungen, wie z.B. die Beziehung zu anderen Charakteren, war es jedoch wichtig, Rücksprache mit der Spielleitung und den entsprechenden Spielern zu halten. In verschiedenen Facebook-Gruppen konnten die Teilnehmer sich kennenlernen und im Vorfeld Pläne schmieden.

Der Spieltag

Als es dann soweit war, ging es nicht sofort mit dem Spiel los. Das ist wohl ein weiterer großer Unterschied zu allen anderen LARPs. Vor dem offiziellen “Time-In” nahmen die Spieler an ein paar “In Character” – und “Out of Character”-Übungen in verschiedenen Workshops teil. Diese Übungen sollten helfen, die vorher angelesenen Regeln zu verinnerlichen, und eine Beziehung zwischen den Spielern als Spieler, sowie eine Beziehung zwischen den Spielern als Charaktere zu schaffen.

Die aktive Teilnahme an den Workshops war für die Teilnahme an End of the Line obligatorisch. Ich möchte an dieser Stelle betonen, dass ich die Workshops für absolut notwendig für diese Art von Spielerlebnis halte, und diese, auch wenn ich bereits an verschiedenen Nordic-LARPs teilgenommen habe, immer wieder sinnvoll bleiben.

Die Spielmechanismen

Grenzen signalisieren

Die erste und wichtigste Spielmechanik war, diskret herauszufinden, ob es meinem Gegenüber gerade gut geht. Wenn ich als Spieler unsicher bin, wie es meinem Mitspieler gerade geht, so kann ich mit einem kleinen O.K.-Zeichen vor der Brust (entnommen aus dem Tauchsport) diese Frage OT stellen. Mein Gegenüber hat dann die Möglichkeit mit Daumen hoch, Daumen schräg, Daumen runter, mir sein Wohlbefinden mitzuteilen. Ist die Antwort eine andere als Daumen hoch, begleite ich den Spieler sofort in den OT-Bereich. In dem OT-Bereich gab es Getränke, Snacks, bequeme Stühle und eine Spielleitung, die bei Bedarf sich um den Spieler kümmerte. Gerade die Mitverantwortung für und von jedem Beteiligten, ist bei solchen emotional hochgeladenen Spielen sehr wichtig. Auch wenn ich als Spieler das Gefühl habe, dies nie in Anspruch nehmen zu müssen, hilft das Wissen um solch ein Netz doch ungemein.

Erster Grundsatz: “Spieler sind wichtiger als das Spiel!”
Es gab auch andere Mechanismen, die nicht sofort zu einem Spielabbruch führten.

  1. Die Hand mit den Augen beschatten und nach unten schauen, während man den Raum verlässt.

Nehmen wir an, ich platze in eine Spielszene, in der eine Handlung simuliert wird, an der ich OT nicht beteiligt werden möchte (Die Darstellung von Gewalt, Folter oder sexuellen Handlungen). Dann würde genau dieser Spielmechanismus greifen. Die an der Szene Beteiligten sollten der Person dann nicht folgen, sondern einfach in ihrer Szene fortfahren.

  1. Jemanden oder sich selbst 2x abklopfen

Angenommen es gibt eine großartige verbale Wut-Szene. Zwei Spieler giften und schreien sich an, und steigern sich immer weiter in ihre Emotionen hinein. Adrenalin und Testosteron kochen über. Nun klopft einer der Beiden sich 2x mal auf den Oberarm. Alle wissen nun, dass Ihr Gegenüber sich OT gerade unwohl über die Intensität der Rage fühlt, aber gerne in der Szene bleiben möchte. Die Szene wird also weniger intensiv weitergespielt.

Diese beiden Spielmechanismen haben wir in Übungen mit verschiedenen Mitspielern ausprobiert. Das gab den Spielern die Gelegenheit sich gegenseitig persönlich kennenzulernen, und diese Spielmechanismen zu verinnerlichen. Es liegt ein großer Unterschied zwischen dem theoretischen Wissen, was zu tun ist, und dies dann in einer Stresssituation tatsächlich anzuwenden. Das wurde durch die Übungen sehr deutlich.

Der “enthusiastische Konsens” – das Kalibrieren

Wie weit kann und darf ich mit meinem Gegenüber gehen? Das ist eine wichtige Frage, der, meines Erachtens nach, auch im Deutschen LARP noch zu wenig Beachtung geschenkt wird. Aber auch hier sind spannende Entwicklungen zu beobachten. So gibt es z.B. auf dem Drachenfest ein Symbol, dass meinem Gegenüber zeigt, dass ich auch einem Handgemenge, über den normalen LARP-Kampf hinaus, nicht abgeneigt bin.

Uns wurde ein Spielmechanismus gezeigt, wie man kurz und ohne große Spielunterbrechung absprechen kann, wie man gemeinsam eine Spielszene ausgestalten möchte.

Wenn beispielsweise Peter gegen Paul ein Handgemenge einleiten möchte, könnte das wie folgt aussehen:

  1. Peter tritt an Paul heran und fragt: „OT – Gewalt?“

 

Paul hat nun zwei Möglichkeiten:

  1. „Ja klar“ oder
  2. „Nein, danke“ (oder wie auch immer er Zustimmung bzw. Ablehnung äußern mag) zu antworten.

 

Bei einem “Nein” wird nicht hinterfragt: “Warum nicht?”. Der Mitspieler muss sich vor dem Initiator der Szene nicht rechtfertigen oder erklären. Die Entscheidung wird so akzeptiert.

Zweiter Grundsatz: Es geht nicht um dich.

Niemand weiß, wie sein Gegenüber sich gerade fühlt, oder warum er oder sie gerade diese Szene so mit einem selbst nicht spielen mag. Jedem sollte jedoch klar sein, dass es nicht um einen persönlich geht. Meist kennen sich die Spieler noch nicht einmal privat. Also noch einmal: Es geht nicht um dich.

Paul hat sich jedoch für Variante a. entschieden. Er möchte den Konflikt mit Peter ausspielen.

  1. Der Initiator fragt also im nächsten Schritt: „Wie möchtest du das machen?“

 

Die Frage auf diese Art zu stellen, ist absolut wichtig. Es sollte nicht gefragt werden: „Ich möchte dich gegen die Wand drücken und dich etwas würgen“ oder „Ich möchte dich zu Boden werfen und mit dir Ringen, ist das O.K. für dich?“.

Durch solche Fragen würde eine Erwartungshaltung ausgedrückt und unser Mitspieler unter Druck gesetzt werden, diese Erwartungshaltung erfüllen zu wollen. Also lautet die Frage:

„Wie möchtest du das machen?“ (Ich wiederhole das hier, weil es wirklich wichtig ist.)

Der Angesprochene beschreibt seinen Komfortlevel. Wenn der höher liegt als der eigene, dann beschreibt der Initiator den eigenen. Ist der Komfortlevel gleich oder niedriger dem eigenen, wird ein O.K. signalisiert, und man passt sich eventuell dem Spiel des Gegenübers an.

Den eigenen Komfortlevel zu beschreiben hat eine Stolperfalle, die beachtet werden muss!

Grenzen müssen klar und deutlich aufgezeigt werden! “Du kannst machen was du möchtest” ist keine gültige Aussage, vor allem, weil diese Aussage niemals der Wahrheit entspricht.

“Ich möchte mit leichtem Kontakt boxen, aber nicht ins Gesicht oder in den Bauch.” ist eine Aussage mit der gearbeitet werden kann (Die Genitalien sind ohnehin tabu).

Die Bandbreite des Härtegrades ist sehr groß. Sie reicht von: Ich möchte: normale Geschwindigkeit aber keine echte Berührung, über Slow Motion, bis hin zu Vollkontakt und allem was dazwischen liegt.

Dies funktioniert auch für mögliche sexuelle Szenen, simulierter Drogengebrauch und ähnliche Sachen.

Ein weiteres Beispiel:

Peter spielt einen Vampir und entdeckt eine Frau, die alleine auf der Tanzfläche tanzt.

Sie tanzen zusammen und Peter entscheidet, dass er sich von ihr nähren möchte.

Peter: OT – Sexualität und Beißen?

Frau: Ja klar.

Peter: Wie möchtest du das machen?

Frau: Du darfst mir am Hals saugen, aber lass die Zunge aus dem Spiel.

Peter: Das ist O.K. für mich – wie spielen wir den erotischen Part?

Frau: Ich bin mir nicht sicher – was schwebt dir vor?

Peter: Ich umarme dich, fahre mit den Händen über deinen Rücken und werfe dich dann zu Boden und setze mich auf dich?

Frau: Umarmen ist O.K. – aber drücke mich lieber gegen eine Wand, ich lege dann die Beine um dich, ich mag nicht auf dem Boden liegen.

Peter: O.K.

Viele Leser könnten nun innerlich aufschreien: Das dauert doch viel zu lange, das holt mich aus dem Spiel heraus, das funktioniert doch nicht…

Habe ich auch gedacht, aber ich wurde eines Besseren belehrt.

Einen gemeinsamen Konsens zu finden, hat bei End of the Line in der Regel keine zehn Sekunden gedauert, das Spiel wurde nicht nachhaltig unterbrochen und das Spielerlebnis sogar noch intensiviert. Da alle Beteiligten sich der gesetzten Grenze bewusst waren, und sich niemand Gedanken machen musste, wie weit man denn nun noch gehen dürfe, konnten sich alle voll auf die Szene einlassen und so die Szene intensiver erleben.

Wenn alle Beteiligten für diese Szene einen gemeinsamen Konsens gefunden haben, wird gespielt. 

Auch dieser Spielmechanismus wurde geübt:

Während des Workshops haben sich alle Teilnehmer gegenseitig provoziert und geflirtet, und das nicht nur geschlechterübergreifend. Ja, es war manchmal extrem peinlich und lustig.

Tatsächlich ist das Üben peinlicher als das tatsächliche Spielen.

Eine der Workshopleiterinnen erklärte es so:

„In der Übung bist es tatsächlich du selbst, der flirtet und provoziert. Im Spiel ist es dann dein Charakter, deine dargestellte Figur. Das macht einen riesigen psychologischen Unterschied aus.“

Auch hier ist es wichtig zu wissen, dass jeder zu jeder Zeit “Nein” sagen darf und kann.

Auch wenn vorher eine gemeinsame Szene besprochen wurde.

Der oben beschriebene Spielmechanismus ist in jeder neuen Szene neu durchzuführen, denn der Komfortgrad kann sich bei allen schnell ändern. Was vor fünf Minuten noch O.K. war, kann jetzt nicht mehr so gut sein. Später im Spiel reichte meist ein kurzes: „Wie eben?“.

Es ist sehr wichtig, dass jeder, auch im Spiel, einen kurzen Moment in sich geht, um die eigenen Grenzen zu erspüren, als sich Hals über Kopf in eine Szene zu stürzen.

Seine eigenen Grenzen zu kennen und diese klar formulieren zu können, ist für alle Beteiligten angenehmer. Nehmen wir einmal an, jemand sagt, dass er mit einer Handlung einverstanden ist, auch wenn er es nicht ist. Dies verletzt beide Beteiligten: Der, der die Handlung erduldet, obwohl er sich in der Szene nicht wohl fühlt, und der Initiator, der möglicherweise Schuldgefühle bekommen könnte, weil er es so gespielt hat.

Dritter und wichtigster Grundsatz: Versuche niemals Druck auf jemanden auszuüben.

Niemand soll eine Szene spielen, weil jemand anders das gerne möchte.

Der Antrieb, eine Szene spielen zu wollen, sollte immer aus einem selbst heraus kommen.

Das sind die grundlegenden Spielmechanismen und Grundsätze eines klassischen Nordic-LARPs. Da es sich in diesem Fall um ein Vampire-LARP handelte, gab es noch ein paar kleine Sonderregeln.

Sonderregeln

Nahkampf

Faustkämpfe waren möglich und wurden wie auf dem Drachenfest durchgeführt. Nachdem man sich auf den Grad der Gewalt geeinigt hat, zeigt jeder Beteiligte mit den Fingern seinen Nahkampfwert an. Der höhere Nahkampfwert gewinnt die Szene, und die Größe des Unterschieds zeigt wie deutlich. Natürlich darf der Gewinner sich auch entscheiden dieses Mal verlieren zu wollen. Bei gleichwertigen Nahkampfwerten wurde über Schere-Stein-Papier schnell entschieden wer Gewinner sein würde, wenn beide gewinnen wollten.

Übernatürliches

Es gab einen Satz, der angezeigt hat, dass eine Disziplin eingesetzt wurde. Immer wenn jemand “wirklich, wirklich” sagt, bedeutete dies den Einsatz von übernatürlichen Kräften. Beispiele: “Du solltest mich wirklich, wirklich fürchten” “Ich bin doch wirklich, wirklich sehr attraktiv, oder?” “Du solltest jetzt wirklich, wirklich fort gehen und vergessen was hier passiert ist.”

Vierter Grundsatz: Das Ziel entscheidet wie es reagieren möchte, nicht der Initiator.
Sollte jemand eine Kraft auf einen Mitspieler anwenden und dies wird ignoriert, lasst es gut sein. Noch einmal: Es geht nicht um dich. Jeder soll darauf vertrauen, dass der Mitspieler sehr gute Gründe für sein Verhalten hat. Diese wird er dir nicht verraten, und du wirst nicht fragen. Das Verhalten sollte einfach so akzeptiert werden.

Als von der Spielleitung vorgegebene Grenze wurde uns noch mitgeteilt, dass die simulierte sexuelle Nötigung oder sexuelle Übergriffe nicht gespielt werden. Nicht alle Nordic-LARPs haben diese Grenze, doch in unserem Fall war dies ein “no-go”.

Das Beißen

Wem ein tatsächliches Saugen am Handgelenk oder am Hals zu intim war, dem wurde eine alternative Technik vorgestellt: Der Kuss auf den eigenen Handrücken. Bei dieser Technik legt man die eigene Hand auf die Stelle wo das Opfer gebissen werden soll, beispielsweise an den Hals oder auf die Innenseite des Handgelenks, und küsst bzw. saugt dann seinen eigenen Handrücken.

Die letzten Schritte

Nachdem die Spielmechanismen besprochen waren, gab es noch ein paar Übungen um das Eis zu brechen, und um sich an das mögliche Gefühl der Verlegenheit zu gewöhnen. Wir haben uns angelächelt, uns in die Augen gesehen, uns Komplimente gemacht und Nettigkeiten ausgetauscht. Es war verblüffend zu beobachten, wie viele Menschen an solche Selbstverständlichkeiten nicht mehr gewohnt sind. Während der Übungen kamen wir uns oft sehr blöd vor, und ja, es war stellenweise wirklich unangenehm die eigenen Grenzen zu erkunden, und diese hier und da ein wenig zu überschreiten. Ich bin mir jedoch sicher, dass diese Schritte notwendig und wichtig waren, um das volle Potential eines Nordic-LARPs zu erfahren.

Nach den Workshops gab es eine Stunde Pause. Anschließend trafen wir uns alle auf der Tanzfläche im Spielbereich. Langsam wurden die Spieler, mit Musik und einem einführenden Text, ins Spiel geleitet.

Du willst auch?

Kannst du! Die Grand-Masquerade mit einem groß angelegten Nordic-LARP kommt am 11-14. Mai 2017 nach Berlin. Tickets und weiterführende Infos findest du hier: http://www.worldofdarkness.berlin oder direkt auf http://www.worldofdarkness.berlin/endoftheline

Fotos von: Bjarke Pedersen – Participation | Design | Agency – www.participation.design und Karsten Zingsheim – www.teilzeithelden.de

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