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Marvels Topspione sind zurück! Mit Episode 16 beginnt der dritte Handlungsstrang der 4. Staffel: Dank virtueller Technologie besuchen wir eine comic-typische Was-wäre-wenn?-Parallelwelt, in der Hydra die Macht übernommen hat. Lohnt es sich, nach sechs Wochen Kreativpause weiterzuschauen?

Wir erinnern uns: Agent Carter wurde 2016 von ABC zum Leidwesen vieler Fans eingestellt. Da der Spinoff mit Hayley Atwell bislang immer im Frühjahr lief, konnten die Produzenten von Agents of S.H.I.E.L.D. die Ausstrahlung nutzen, um die restlichen Folgen ihrer laufenden Staffel zu drehen. Ohne Agent Carter musste AoS im Februar die vierte Staffel ohne Ersatzserie unterbrechen, zum zweiten Mal nach den Weihnachtsfeiertagen. Doch die kreativen Köpfe hinter H.I.E.L.D., Maurissa Tancharoen und Jed Whedon, machten aus der Not eine Tugend und teilten die Serie in drei Handlungsstränge, oder Pods. Pod 1 führte den Fan-Liebling Ghost Rider ein, und mit ihm auch magische Elemente, was zum etwa zeitgleichen Kinostart von Doctor Strange passte.

In Pod 2 kamen die aus den Nick Fury-Comics bekannten Life Model Decoys (LMD) zum Einsatz. Um den Fans die lange Pause zu versüßen, beendeten die Drehbuchautoren die LMD-Story mit einem Paukenschlag: In der Episode „Self Control“ hatte AIDA ihren Schöpfer Dr. Radcliffe überwältigt und ihn mitsamt Coulson, May, Fitz, Mack und Direktor Mace in einer virtuellen Realität namens Framework eingesperrt. In dieser Parallelwelt verlief die Geschichte anders: Inhumans werden unterdrückt, Amerika ist eine Diktatur unter der Knute von Hydra, und Daisy ist mit Grant Ward zusammen …

Story

Mit diesem Cliffhanger startet Pod 3, Agents of Hydra. Daisy und Simmons betreten das Framework und schlüpfen in die Avatare, die AIDA für sie programmiert hat. Die beiden Agentinnen müssen feststellen, dass der Plan, ihre Mitstreiter aus ihren Illusionen zu befreien, sich nicht so einfach gestaltet. Daisy und ihr Freund, der virtuelle Ward, sind Agenten von Hydra und jagen Inhumans. Ihre Quake-Kräfte besitzt sie in dieser Realität nicht. May ist eine hochrangige Hydra-Offizierin, und Fitz stellt sich als sadistischer Folterarzt heraus. Coulson indes ist kein Spion, sondern ein biederer Geschichtslehrer, und indoktriniert an einer Highschool Jugendliche mit offizieller Hydra-Propaganda. Am schlimmsten hat es Simmons getroffen, die in dieser Realität von Hydra ermordet wurde, und daher in ihrem eigenen Grab aufwacht.

Während Daisy also in einer privilegierten Position die Apparate der Macht ausnutzen kann, muss Simmons als totgeglaubte S.H.I.E.L.D.-Loyalistin um ihr Leben rennen. Über alldem thront AIDA als Madame Hydra, die Direktorin der faschistischen Organisation. Doch die Lage ist nicht so düster, wie sie den beiden Heldinnen erscheint, denn einige Personen in dieser Simulation hüten Geheimnisse vor dem Staat …

Darsteller

Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass das gesamte Ensemble in Staffel 4 bislang seine besten Schauspielkünste präsentiert. Hatten viele Fans noch in Staffel 1 kritisiert, dass Coulsons Team aus eindimensionalen Tugendbolden besteht, konnten die Schauspieler durch die Weiterentwicklung ihrer Charaktere in den späteren Folgen mit Ausdrucksstärke und Tiefgang glänzen. Vor allem Ming-Na Wen als Melinda May zeigte immer wieder herausragende Momente, insbesondere in der Episode, in der ihr Trauma infolge der Bahrain-Mission endlich enthüllt wird. Ming-Na Wen spielt in Staffel 4 also insgesamt drei unterschiedliche Charaktere: Agentin May, die sich endlich ihrer Vergangenheit stellt; die zweifelnde LMD-Kopie, die sich fragt, was es bedeutet, May zu sein; und letztlich die Handlangerin eines totalitären Regimes.

Diese neueste Rolle erfüllt sie mit einer geradezu gruseligen Kaltschnäuzigkeit, was sich bestens mit Iain de Caestecker als Leo Fitz ergänzt. Der schottische Schauspieler stellt ebenfalls sein Talent durch die Wandlung vom wohlmeinenden Techniknerd zum menschenverachtenden Folterknecht unter Beweis. Einziger Schwachpunkt unter den Darstellern ist leider mal wieder Chloe Bennet als Daisy Johnson. Die abgebrühte Superheldin, die erst in der vorigen Episode mit einer emotional ergreifenden Ansprache die verzweifelte Simmons zum Kämpfen motiviert hatte, wird jetzt zum Mäuschen, das vor Ward zurückschreckt und sich mit ihrer Naivität beinahe verrät. Das mag natürlich auch dem Drehbuch geschuldet sein, aber Bennet fügt sich zu sehr in diese Weißbrot-Persönlichkeit, die eigentlich seit Staffel 1 überwunden schien.

Inszenierung

Die gesamte Folge ist mit einem matschbeigen, leicht verzerrenden Farbfilter unterlegt, der die Hoffnungslosigkeit dieser Realität unterstreicht. Dies merkt man besonders gut bei den ersten Außenszenen auf Simmons‘ Flucht. Helligkeit und bunte Farben gibt es in einer Diktatur nicht! Auch die Musik bleibt durchgehend bei bedrohlichen, tiefen Tönen, die nur bei der obligatorischen Actionszene zum Schluss an Fahrt aufnehmen. Man kann das für dick aufgetragen halten, aber hey – wir sind hier in einer Comicverfilmung. Apropos Action, die vielperspektivische Kameraführung bei den dramatischeren Szenen ist wie bei den meisten AoS-Folgen auf einem hohen Niveau. Dennoch, an Daisys grandiose John Wick-Hommage in Staffel 2 (gedreht in nur einer Einstellung mit Handkamera) kommt „What If…“ nicht heran.

Erzählstil

Der Zuschauer fühlt sich zu Beginn, ähnlich wie Daisy und Simmons, ins kalte Wasser geworfen. Eine feindselige, zynische Welt ist es, die das Framework ihnen vorspielt. Dabei hatte AIDA doch nur Dr. Radcliffes Vision umsetzen wollen: eine Welt, in der die Ereignisse, die ihre Bewohner am meisten bereuen, nie stattgefunden haben. Doch die künstliche Intelligenz versteht nicht, dass solche Erlebnisse Persönlichkeiten prägen. Die Entfernung von Mays größtem Schmerz setzt eine Kettenreaktion in Gang, die es Hydra erlaubt, die Macht zu ergreifen. Paradoxerweise ist diese verflochtene Erzählweise gleichzeitig die größte Stärke und Schwäche der Serie. Whedon und Tancharoen haben sich viel Zeit gelassen, die Hintergrundstories der Agenten über mehrere Staffeln hinweg auszubauen. „What If…“ knüpft an diese verschiedenen Stränge an und erfordert somit Disziplin von den Fans, die sich Schlüsselmomente wie Bahrain wieder in Erinnerung rufen müssen. Gelegenheitszuschauer werden hier völlig aufgeschmissen sein, der kurze Was-bisher-geschah-Teaser zu Beginn reicht nicht aus.

Die Entscheidung, Staffel 4 in drei Pods zu unterteilen, zahlt sich jedoch voll aus. Die Autoren haben es nicht mehr nötig, einen Konflikt auf 22 Episoden auszudehnen und dann Füllmaterial einzubauen (wobei dies nach der Hydra-Enthüllung in Staffel 1 eigentlich kaum noch vorkam). Jetzt können Coulsons Agenten sich unterschiedlicher Problemen annehmen, die jedoch alle miteinander verwoben sind: Ghost Rider bekämpft das Darkhold, das schließlich Dr. Radcliffe in die Hände fällt, der wiederum mit dem übernatürlichen Wissen mörderische LMDs und dann die Framework-Illusion erschafft. Überraschende Wendungen, die direkt aus den Seiten eines Comics entsprungen sein könnten.

Die harten Fakten:

  • Regie: Oz Scott
  • Darsteller: Clark Gregg, Ming-Na Wen, Chloe Bennet, Mallory Jansen, Brett Dalton et al.
  • Erscheinungsjahr: 2017
  • Sprache: Englisch
  • Format: TV-Episode

 

Fazit

Agents of S.H.I.E.L.D. ist ein furioser (Wieder-)Einstieg nach der Frühjahrspause gelungen. Die verdichtete Erzählweise, der straffe Spannungsbogen mit mehreren überraschenden Wendungen, und nicht zuletzt die Rückkehr von Hassliebling Ward bieten S.H.I.E.L.D.-Fans bestes Gourmet-Serienfutter und Comicnostalgikern die erste echte What-If?-Geschichte des MCU.

Einzige Wermutstropfen: Einige Charaktere kommen viel zu kurz, und die ständigen Verweise auf frühere Storylines verlangen dem Zuschauer viel Serienwissen ab. Dadurch hat es nicht ganz zum senkrechten Daumen gereicht. Dennoch: eine großartige Episode, die Lust auf weitere Framework-Abenteuer macht! Können Coulson & Co. diese virtuelle Realität in zukünftigen Staffeln nicht einfach behalten?

Artikelbild: ABC Studios

 

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