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Der geniale Physiker Shevek ist frei, zu tun was er will, schließlich stammt er von einem anarchistischen Planeten. Aber um seine wichtigste Theorie formulieren zu können, muss er das einzige tun, was in seiner Heimat verboten ist: sie verlassen. Wie frei also sind die Freien Geister im gleichnamigen Roman wirklich?

Dieses Buch, das im Original den Titel The Dispossessed trägt, gilt wahlweise als Utopie, Klassiker der Science-Fiction oder eine entsprechende Mischung. Eine Weile war es auf Deutsch nur noch gebraucht zu bekommen, bis FISCHER Tor ihm 2017 eine neue Übersetzung und den mittlerweile dritten deutschen Titel spendierte. Höchste Zeit, dem Buch Aufmerksamkeit zu schenken.

Story

Die Planeten Urras und Anarres bilden ein Doppelplanetensystem und sind jeweils der Mond des anderen. Urras ist reich und fruchtbar, Anarres dagegen karg und trocken. Urras ist in verschiedene Reiche zerfallen, von denen die beiden mächtigsten ihre Konflikte in einem Stellvertreterkrieg ausfechten, Anarres ist eine anarchistische Gesellschaft ohne Herrscher oder Besitz. Urras importiert Bergbauprodukte von Anarres, auf Anarres grenzt man sich bewusst von Urras ab und hält den Kontakt auf einem Minimum. Denn vor 160 Jahren kam es auf Urras zu einer großen Revolution. Um diese zu beenden, bekamen die anarchistischen Revolutionäre den Mond. Hier haben sie eine anarchistische Gesellschaft aufgebaut, die auf Freiheit basiert, mit den „Propertariern“ auf Urras wollen sie nichts mehr zu tun haben.

Aus dieser Welt stammt Shevek, der sich seit Kindertagen mit Zeit auseinandersetzt und im Verlauf des Buchs zu einem genialen Physiker heranreift. Doch bei der Entwicklung seiner Theorien stößt er immer wieder an die Grenzen, die auch eine grenzenlose Gesellschaft haben kann: eine Hungersnot, aber auch Gruppendynamiken, Rechthaberei, Bürokratie und der Wunsch, den Ist-Zustand zu erhalten. Auf Urras dagegen wäre er mehr als willkommen und könnte dort in Ruhe seine große Temporaltheorie ausarbeiten. Allerdings geriete er dann mit einem der wenigen Verbote auf Anarres in Konflikt, und auch die Einladung nach Urras ist keinesfalls so altruistisch, wie es den Anschein hat.

Erzählt wird auf zwei unterschiedlichen Ebenen, die sich sowohl zeitlich als auch räumlich unterscheiden. Die eine Ebene behandelt Sheveks Leben auf Anarres, angefangen beim Säuglingsalter bis zu dem Zeitpunkt, an dem er die Entscheidung trifft, nach Urras zu gehen. Die andere Ebene behandelt Sheveks Erlebnisse auf Urras, beginnend mit seiner Ankunft über verschiedene Stationen des Kennenlernens, Staunens und Verstehens. Dabei wird kapitelweise zwischen den Schauplätzen abgewechselt, die beiden Handlungsebenen entfalten sich also parallel. Dabei gelingt es der Autorin, beide Teile parallel zueinander zu steigern, sodass Ruhepunkte und Konflikte immer wieder wie gleichzeitig stattfinden und sich Ereignisse auf Urras immer wieder fast zwangsläufig aus den Erlebnissen auf Anarres zu ergeben scheinen.

Nicht nur die Geschichte ist gut durchdacht, auch die Figuren sind es. Nebenfiguren werden teilweise nur in kurzen Halbsätzen charakterisiert, die ausreichen, um sie überaus plastisch und nachvollziehbar zu machen. Helden oder Schurken gibt es hier nicht, nur Menschen mit Stärken und Schwächen und oft genug entgegenstehenden Interessen. Dabei sind sie immer glaubhaft, realitätsnah und oft auch sympathisch, egal ob sie von Anarres oder Urras stammen.

Schreibstil

Le Guin erzählt aus außenstehender Sicht, jedoch immer eng an Sheveks Gedanken- und Gefühlswelt. Die physikalischen Gedankengänge sind nicht ganz einfach zu lesen, aber durchaus verständlich und letztlich nicht komplizierter als die übrigen Ausführungen. Generell wird außerhalb zahlreicher Dialoge wenig erklärt, die Welten werden durch die Geschichte selbst beschrieben und erklärt. Die Autorin hat ein überaus hohes Sprachniveau, das die Übersetzerin unaufgeregt und ohne große Interpretationen ins Deutsche übertragen hat. Der neue Titel ist eine interessante Wahl, der inhaltlich der Doppeldeutigkeit des Originaltitels näherkommt als die beiden oft kritisierten vorherigen. The Dispossessed bedeutet sowohl die Enteigneten als auch die Nicht-Besessenen, was auf die Bewohner von Anarres beides zutrifft: Weder besitzen sie, noch sind sie vom Streben nach Besitz besessen. Freie Geister trifft diese Mehrdeutigkeit zwar auch nicht direkt, aber setzt den Fokus inhaltlich passender als Planet der Habenichtse oder Die Enteigneten.

Freie Geister liest sich flüssig, dabei ist es nicht im klassischen Sinne spannend, schließlich weiß der Leser von Anfang an, dass Shevek nach Urras geht, aber aufregend. Ein wenig lässt sich noch erkennen, dass das Buch von 1974 ist: Die beiden großen Staaten auf Urras ähneln mit ihrem Staatssozialismus auf der einen Seite und dem Kapitalismus auf der anderen Seite den beiden Großmächten des irdischen Kalten Krieges. Wie dort wird auch auf Urras der eigentliche Krieg auf einen fernen Schauplatz in einem weniger entwickelten Land auf dem eigenen Planeten ausgetragen. Dennoch ist das Buch mit seinen Grundgedanken zeitlos, die Autorin reflektiert nicht nur über den Kalten Krieg, sondern auch über das Wesen der Zeit, die Freiheit des Individuums und vor allem die Frage, ob und wie eine anarchistische Gesellschaft – ein Staat kann es ja per Definition nicht sein – funktionieren kann. Zu einem eindeutigen Ergebnis kommt sie dabei nicht, Anarres ist nicht das Paradies und Urras nicht die Hölle. Der Untertitel Eine zwiespältige Utopie zeigt dies bereits im Vorfeld und auch bei der Lektüre wirft das Buch auf diesen Ebenen mehr Fragen auf, als Antworten zu liefern. Daneben lässt es sich aber auch unabhängig aller politischer Gedankenspiele lesen, weil es einfach eine wirklich gute Lektüre bietet.

Die Autorin

Ursula K. Le Guin gilt heute als Grand Dame der englischsprachigen Science-Fiction, ist sie doch Autorin zahlreicher einflussreicher Bücher. Sie wurde 1929 in Berkeley als Tochter einer Autorin und eines Anthropologieprofessors geboren. Sie studierte Literatur und begann früh mit dem Schreiben von Romanen, die vorwiegend der Science-Fiction zugeordnet werden. Dabei liegt der Fokus jedoch nie auf Raumschlachten oder technischen Entwicklungen, sondern immer auf sozialen Systemen und Strukturen. 1969 gewann sie mit Die linke Hand der Dunkelheit (auch bekannt als Der Winterplanet) sowohl den Hugo- als auch den Nebula-Award. Beide Preise sollte sie später für weitere Bücher mehrfach erneut gewinnen, unter anderem für Freie Geister.

Neben Science-Fiction hat sie Fantasy verfasst, unter anderem den bekannten Erdsee-Zyklus, Kinderbücher, Übersetzungen, zahlreiche Kurzgeschichten und Essays.

Ihre offizielle Webseite findet ihr hier.

Erscheinungsbild

Freie Geister kommt in einer stabilen Klappbroschur einher, bei der auch nach mehrfachem Lesen keine herausfallenden Seiten zu befürchten sind. Das Cover ist schwarz, darauf schwebt ein Planet. Er ist in mehrere Scheiben geschnitten, die leicht zueinander verschoben sind. Auf einzelnen Scheiben des ocker-rötlichen Planeten stehen in schlichtem Schwarz der Name der Autorin und der Titel. Der Name der Übersetzerin und der Verlag sind ebenso schmucklos in weiß unaufdringlich an der oberen beziehungsweise unteren Buchkante platziert.

Innen ist das Buch romantypisch unaufgeregt und gut lesbar gesetzt. Lediglich die kleinen knotenartigen Symbole, die einzelne Abschnitte trennen, stören etwas, sehen sie doch sehr nach Tribals aus, was zu keiner der geschilderten Kulturen passt.

Die harten Fakten:

  • Verlag: FISCHER Tor
  • Autorin: Ursula K. Le Guin
  • Erscheinungsjahr: 2017
  • Sprache: Deutsch/Englisch
  • Format: Klappbroschur
  • Seitenanzahl: 432
  • ISBN: 978-3596035359
  • Preis: 14,99 EUR (gedruckt), 12,99 EUR (digital)
  • Bezugsquelle: Amazon (Deutsch) / Amazon (Englisch)

 

Bonus/Downloadcontent

Das Buch enthält ein Nachwort der Übersetzerin, das Freie Geister in das Gesamtwerk der Autorin einordnet. Außerdem sind innen im Einband in Farbe die Karten der beiden Planeten abgedruckt, jeweils die östliche und die westliche Hemisphäre von Urras und Anarres. Die Namen der Orte sind dabei an die Übersetzung angepasst worden, sodass hier nicht plötzlich englische Bezeichnungen stehen wie in einer der älteren Versionen.

Zusätzlich hat FISCHER Tor auf seiner Website die Kurzgeschichte Der Tag vor der Revolution zur Verfügung gestellt. In dieser Geschichte widmet sich Le Guin der anarchistischen Theoretikerin Odo, die die geistige Mutter aller Bewohner von Anarres darstellt.

Fazit

Anarres ist ein anarchistischer Planet, auf dem Vorurteile und Bürokratie die Arbeit des genialen Physikers Shevek einschränken, aber das Angebot, in einem kapitalistischen Staat auf dem Nachbarplaneten Urras zu arbeiten, birgt Risiken, die er nicht abschätzen kann. Auf zwei verschiedenen Ebenen kann der Leser an Sheveks Entwicklung teilhaben: auf der vertrauten Welt Anarres vom Kind zum Vater und Physiker und auf der fremden Welt Urras als Physiker und staunend wie ein Kind.

Verständlich und gut zugänglich erzählt Ursula K. Le Guin von Anarchismus und Temporalphysik, von Freiheit und Liebe. Dabei gelingt es ihr auf höchstem Sprachniveau, eine Gesellschaft, die beispielsweise die Begriffe „mein“ und „dein“ nicht kennt, detailreich zu eröffnen und darzustellen, ohne sich auch nur einmal in Beschreibungen ergehen zu müssen. Ihre Figuren sind lebendig und ebenso plausibel wie die beiden Welten.

Auch wenn die Grundsetzung der Welten und besonders die politischen Verhältnisse auf Urras auf den Kalten Krieg Bezug nehmen, behandelt das Buch zeitlose Themen. Anders als bei Soylent Green prägt der zeitliche Hintergrund der Entstehungszeit das Buch nicht durch und durch, die Bewohner von Urras und Anarres sind auch heute noch gut zugänglich und verständlich.

Kurzum, Freie Geister ist ein Klassiker, den zu lesen sich immer wieder lohnt.

Artikelbild: FISCHER Tor
Dieses Produkt wurde kostenlos zur Verfügung gestellt.

 

7 Kommentare

    • Hallo, um einen Irrtum gleich vorweg auszuschließen: Wir sind ein Magazin mit > 50 Mitarbeitern und kein privater Blog. Aber wir geben das Lob gern weiter an die zuständige Redakteurin.

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