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Ein Mord in der Zukunft mit Wurzeln tief in der Vergangenheit: Ein klarer Fall für die Helden aus Joachim Sohns neuer Novelle Die Zeitagenten. Also fahrt den DeLorean vor und schmeißt die TARDIS an, denn wir verraten euch, ob der Zeitreise-Krimi eure Zeit wert ist.

Zeitreisen sind ein schwieriges Thema für Erzählungen jeder Art, und ich habe großen Respekt vor allen, die sich daran versuchen. Nicht nur gehorcht jede Zeitreisefiktion ihren eigenen Regeln, es ist auch fast unmöglich, sich in diesem Sub-Genre zu bewegen, ohne dabei das eine oder andere Paradoxon in Kauf zu nehmen. Es ist die große Kunst hinter solchen Geschichten, die Leser so durch die inneren Widersprüche zu führen, dass sie diese entweder nicht bemerken oder gerne bereit sind, darüber hinwegzusehen. Insofern weckt Joachim Sohns neue Novelle, die als Zeitreisekrimi beworben wird, sofort große Erwartungen.

Story

Der Zeitagent Johann und sein Gehilfe Karl werden aus dem späten 19. Jahrhundert auf die Raumstation Neu-London in der Zukunft beordert, wo sie der Time Agent Organisation (TAO) 2223 bei der Klärung eines rätselhaften Mordes helfen sollen. Dabei führt die Spur aus dem Jahre 2239 direkt wieder ins Wiesbaden der Jahrhundertwende und sogar noch weiter zurück, bis sich unsere Helden plötzlich in einen spätmittelalterlichen Glaubenskonflikt verwickelt sehen. Auf dem Opfer lastet ein Fluch, der mit einer Jahrhunderte umspannenden Mordreihe zusammenhängt, an deren Beginn ein grausames Massaker steht. Gemeinsam mit Kontaktpersonen aus der jeweiligen Zeit machen sich Johann und Karl daran, die Wahrheit herauszufinden. Dabei begegnet ihnen neben einigen realen realhistorischen Figuren ein buntes Potpourri an kuriosen Gestalten, vom Flaschenpost-Archivaren bis hin zur Assassinen-Nonne. Aber können die Agenten eine Tragödie derartig historischen Ausmaßes wirklich verhindern?

Unerschrockene Abenteurer, ein mysteriöser Fluch, reale historische Begebenheiten: Eigentlich sind in Die Zeitagenten alle Elemente versammelt, die eine fesselnde Geschichte braucht. Dennoch zündet die Novelle nicht so, wie man es sich wünschen würde. Das liegt primär an der Handlung, die gut und gern für einen kompletten Roman gereicht hätte, für die Novelle daher extrem gerafft werden musste und sich nie komplett entfalten kann. Mitunter erwischt man sich bei dem Gedanken, der eine oder andere Twist weniger hätte es auch getan, wenn dafür die vorangegangenen Ereignisse etwas ausführlicher erklärt worden wären. Die drei wichtigen Etappen der Geschichte – der Tatort in Neu-London, Wiesbaden im 19. Jahrhundert und Frankreich im Jahre 1243 – werden nur von einigen dünnen Handlungsfäden zusammengehalten, und man muss sich geistig schon ein wenig verrenken, um das Ziel der ganzen Mission nicht aus den Augen zu verlieren. Da Wendungen und Enthüllungen sich in der ersten Hälfte des Buches geradezu gegenseitig jagen, während die zweite Hälfte wenige Überraschungen bereithält, fühlt sich der Plot zudem unausgewogen an.

Die TAO, eine intergalaktische Organisation im Orbit der Erde, die unter anderem Morde verhindert, bevor sie überhaupt passiert sind, ist natürlich der Dreh- und Angelpunkt der Novelle, sodass den Lesern neben Johann und Karl auch andere Agenten verschiedener Nationalitäten und Spezies begegnen. Die Idee hat definitiv Potential. Allerdings wird verhältnismäßig wenig über die Hintergründe der Organisation verraten, und alles, was man erfährt, wirft Fragen auf. So gibt es jährliche Treffen, die viel Spaß und Abwechslung versprechen, doch unsere Helden schaffen es zeitlich leider nicht, daran teilzunehmen. Bereits an dieser Stelle bildet sich über meinem Kopf ein großes Fragezeichen: Zeitagenten, die keine Zeit haben? Diese anfängliche Verwirrung möchte auch bezüglich des Mordfalls nicht wirklich verschwinden. Es geht in der Story offenbar weder darum, den Täter zu ermitteln, noch darum, den Tathergang zu rekonstruieren, sondern um ein komplettes Umschreiben der Geschichte, sodass es am Ende kein Mordmotiv mehr gibt. Das scheint eine spannende und riskante Vorgehensweise zu sein, für die es bestimmt Regeln gibt, von denen man aber kaum etwas erfährt. Wer entscheidet, welche Fälle von der TAO übernommen werden? Wieso kann es, wie die Figuren versichern, nicht zu einem sogenannten Schmetterlingseffekt kommen, bei dem kleine Veränderungen in der Vergangenheit große Konsequenzen für die Zukunft haben? Warum vergessen die gewöhnlichen Menschen, dass es mal eine andere Zukunft gab, die Zeitagenten aber nicht? Wer auf derartige Antworten hofft, sei direkt gewarnt: Sie werden nicht kommen.

Da sich die Novelle vor allem auf die Story konzentriert, erfährt man über die Figuren selbst recht wenig. Dass Johann in Wiesbaden eine Ballonwiese unterhält, oder dass der junge Karl ein langes Training hinter sich hat, wird am Rande erwähnt, trägt aber nichts zur eigentlichen Handlung bei. Irgendwann wird zwischen den beiden die Grundfrage aufgeworfen, wie sehr Zeitagenten überhaupt in die Geschichte eingreifen dürfen, was ein guter Ansatzpunkt für einen Konflikt oder etwas charakterliche Entwicklung gewesen wäre. Allerdings ist den Lesern zu diesem Zeitpunkt bereits bekannt, dass die TAO Hitler unschädlich gemacht und so den Holocaust verhindert hat, und vor diesem Hintergrund wirkt diese Frage ein wenig belanglos. Die Möglichkeit, im Zusammenhang mit dem sich andeutenden Konflikt zwischen den beiden auf ihre jeweiligen Erwartungen, Wünsche oder langfristigen Ziele einzugehen, bleibt ungenutzt. Auch die Nebenfiguren wirken ein wenig blass und austauschbar. Einzig die obligatorisch nackte Außerirdische Nina bleibt länger im Gedächtnis.

Letztendlich ist es wohl doch primär der knappen Novellenform zu verdanken, dass einen Die Zeitagenten eher unbefriedigt zurücklässt. Viele der in der ersten Hälfte einsetzenden Handlungsstränge werden entweder nicht im Beisein des Lesers oder auch gar nicht abgeschlossen. Das fällt besonders stark auf, weil das Genre bestimmte Erwartungen weckt. Zu einer Kriminalgeschichte gehört nun mal für gewöhnlich eine Rekonstruktion des Tatherganges und letztlich die Auflösung des Falles. Beides hätte man doch gerne irgendwie miterlebt und nicht nur aus einer kurzen Nebenbemerkung geschlossen.

Schreibstil

Die Novelle lässt sich problemlos am Stück herunterlesen, was vor allem Sohns einfacher Sprache zu verdanken ist. Dessen eindeutige Stärke liegt im Bereich der Situationsbeschreibungen. Insbesondere im Zusammenhang mit seiner Heimat Wiesbaden liefert er wirklich schöne Momentaufnahmen, die phantastische Situationen mit historischem Lokalkolorit nachzeichnen. Gelegentlich verheddert er sich zwar in begrifflichen Feinheiten und verfehlt den Ton, doch die kleineren Fehler lassen sich größtenteils ganz gut überlesen.

Die Erzählperspektive ist ebenfalls einfach. Zwar erfährt man als Leser ungefähr das, was die Figuren wissen, doch werden einzelne Perspektiven nie so stark in Szene gesetzt, dass man viel über das Innenleben unserer Helden erfahren würde. Erzählt wird vor allem, was Johann und Karl widerfährt, gelegentlich begleitet die Novelle aber auch ihre Agentenkollegen. Entscheidende Informationen werden meist im Rahmen von Dialogen vermittelt, was der Novelle eine beinahe filmische Note verleiht, die einen mehr zum Zuschauer als zum Leser macht. Das ist zwar unterhaltsam, wird aber immer da problematisch, wo Hintergründe und Zusammenhänge in etwas bemüht wirkenden Expositionsmonologen erklärt werden müssen.

Was den Lesefluss zudem immer wieder etwas bremst, sind die kurzen historischen Exkurse, in denen die Figuren den Glauben der Katharer erörtern, jener christlichen Glaubensbewegung, in deren Verfolgung sie sich einmischen wollen. Wer sich von dem Buch ohne großes Nachdenken mitreißen lassen will, wird an diesen Stellen etwas ausgebremst, denn religiöse Fragen des 13. Jahrhunderts sind wirklich kein einfaches Thema. All jenen, die sich für diese historischen Zusammenhänge interessieren, wird die Darstellung hingegen etwas zu kurz gegriffen erscheinen, zumal sie mit der Handlung letztlich wenig zu tun hat. Es bleibt das Gefühl zurück, dass man ihn problemlos gegen einen beliebigen anderen gewaltsamen Konflikt einer beliebigen anderen Epoche austauschen könnte, ohne dass sich an der Novelle viel ändern würde.

Ein netter Wink an Fans deutscher Steampunk-Literatur sind die Anspielungen auf Anja Bagus’ Aetherwelt-Romane (hier unsere Rezension zu Waldesruh) und die Runenzeit-Saga von Mark Bredemeyer. Kennt man diese nicht, ist man von den entsprechenden Exkursen allerdings zusätzlich verwirrt und fragt sich, welche Relevanz sie für die Geschichte haben.

Der Autor

Joachim Sohn wurde 1968 in Wiesbaden geboren. Nach seinem Studium der Sprachwissenschaften, Romanistik und Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften besuchte er die Animation School Hamburg und arbeitete als Animationsdesigner freiberuflich an deutschen Trickfilmproduktionen mit. Seit 2004 arbeitet er als Flash-Designer und Animation-Director in Düsseldorf.

2009 entstand Sohns erstes Werk PERM – eine Urzeit-Heldenreise, ein Animal-Fantasy-Roman, der vom Action Verlag als Hörbuch produziert wurde und 2012 unter dem Titel Keldris & Kandia als eBook erschien. Seine Vorliebe für flauschige Helden stellte er 2015 mit Sunnie & Polli – im Land der Monate erneut unter Beweis. Mit Die Elochanten, das 2014 in Exotische Welten: Science-Fiction & Fantasy erschien, sowie seinem Mitwirken am dystopischen Gemeinschaftsprojekt UMRAY: Die Story tut er sich außerdem als Kurzgeschichtenautor hervor.

Erscheinungsbild

Die Novelle besticht mit einem für den Art Skript Phantastik Verlag durchaus üblichen wunderschönen Coverdesign: Auf dem dunkelblauen und an den Rändern mit einigen rostigen Zahnrädern verzierten Hintergrund prangt in verschlungenen cremefarbenen Buchstaben der Titel. Darüber sieht man das Logo der Zeitagenten: eine Rakete mit vier Antrieben, die von dem Schriftzug TAO 2223 und einem weiteren Zahnrad geziert wird. Das gleiche Logo zeigt auch im Buch an, dass ein neues Kapitel beginnt.

Der Textsatz ist im ersten Moment etwas ungewohnt, da jede Seite am unteren Rand mit einem verschlungenen Schnörkel versehen ist, was den Text unüblich weit nach oben rückt. Das tut dem Lesefluss aber keinen Abbruch, zumal Papierqualität und Schriftgröße nichts zu wünschen übrig lassen. Mehrere schwarz-weiße Illustrationen von Fabia Zobel unterstützen die Stimmung der Novelle sehr wirkungsvoll. Leider sind in der ersten Auflage zwei der Bilder vertauscht, sodass sie die Geschichte nicht wirklich begleiten und das Auftreten einer Figur sogar vorwegnehmen. Ein kurzes Nachwort klärt über die intertextuellen Verweise auf die Werke anderer Steampunk-AutorInnen auf. In einer Danksagung gibt Joachim Sohn außerdem ein Chatgespräch wieder, von dem er inspiriert wurde.

Das eher ungewöhnlich kleine Format – mit ca. 11×18 cm liegt die Novelle deutlich unter DIN A5 – und das entsprechend geringe Gewicht machen das Buch nicht nur extrem handtaschentauglich, sondern auch zu einem idealen Reisebegleiter.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Art Skript Phantastik Verlag
  • Autor: Joachim Sohn
  • Erscheinungsjahr: 2017
  • Sprache: Deutsch
  • Format: Taschenbuch
  • Seitenanzahl: 230
  • ISBN: 978-3-94-504507-7
  • Preis: 7,00 EUR (Druck)
  • Bezugsquelle: Amazon

 

Bonus/Downloadcontent

Wer sich für Entstehungsgeschichte und Hintergründe der Novelle interessiert, kann auf Joachim Sohns Homepage einige zusätzliche Informationen finden, zum Beispiel ein Unboxing-Video.

Fazit

Die Zeitagenten ist weniger ein Zeitreisekrimi als eine Abenteuernovelle, deren schön beschriebene Schauplätze über die konfuse Handlung nicht ganz hinwegtäuschen können. Gerade im Zusammenhang mit der Zeitreisethematik treten etwas zu viele Widersprüche auf, die neben den Twists und Wendungen der Geschichte nur noch mehr verwirren. Ist der Plot zu kompliziert, sind die Figuren unterm Strich etwas zu einfach geraten. Der Konflikt zwischen individueller Verantwortung und allgemeinen Richtlinien, der thematisch als roter Faden hätte fungieren können, bleibt ebenfalls unterdefiniert. Die TAO 2223 ist zwar eine vielversprechende Erfindung, wirft aber ständig zusätzliche Fragen auf, welche die Novelle ob ihres geringen Umfangs unbeantwortet lassen muss.

Wer schnelle Unterhaltung sucht und bereit ist, über Ungereimtheiten aller Art großzügig hinwegzulesen, kann natürlich trotzdem zugreifen. Das gleiche gilt für Fans von Anja Bagus und Mark Bredemeyer, die sich hier über Anspielungen auf vertraute Welten freuen dürfen. Allen anderen Lesern sei geraten, vielleicht lieber auf den nächsten Fall der Zeitagenten zu warten.

Artikelbild: Art Skript Phantastik Verlag
Dieses Produkt wurde kostenlos zur Verfügung gestellt.

 

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