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Retro ist Trend. Spectrum Games bringt uns dafür in eine Zeit zurück, die manchen noch als Kindheit in Erinnerung sein dürfte, anderen nur noch aus Legenden bekannt ist: die 70er und ihre Science-Fiction-Serien. Hier entsteht der Brückenschlag zwischen dem Gefühl der guten alten Zeit und aktuellen, erzählerischen Rollenspielmethoden.

Auf faszinierende Weise pendelt Retrostar zwischen fixem Setting und Universallösung hin und her. Einerseits ist Immersion oberstes Gebot, andererseits schwebt beständig die Abrissbirne über der vierten Mauer. Während einzelne Handlungen in einem weiten Rahmen skizziert werden, ist die generelle Möglichkeit zu handeln streng limitiert. Beinahe alles ist von solchen Gegensätzen durchzogen. Nur in einer Sache sind sich die Regeln absolut sicher, und damit so retro wie man es sich nur vorstellen kann. Alles liegt in der Hand der Spielleitung.

Die Spielwelt

Das generelle Setting, in das Retrostar eingebettet ist, sind die 1970er und die Science-Fiction-Serien jener Zeit. Weite Teile des ersten Kapitels widmen sich auf sehr liebevolle Art und Weise dieser Ära. Dabei wird sowohl der Stil der 70er im Allgemeinen, als auch in Bezug auf das Science-Fiction-Genre im Speziellen beleuchtet. Dabei geht es nicht nur um Kleidung, Frisuren und Musik. Die typischen Themen und Konventionen der Serien-Ära wurden gewissenhaft zusammengetragen und erläutert. Wer diese Zeit und ihre Serien noch selbst kennt, freut sich sicher über die Auffrischung und den sachlichen Blick darauf.

 Das Gefühl der 70er wird gut transportiert
Das Gefühl der 70er wird gut transportiert

Sollte man erst später das Licht der Welt erblickt haben, hat man nach diesem Grundkurs zumindest eine klare Idee davon, wohin es gehen soll. Ob dabei auf gefühlt jeder zweiten Seite jedoch die knappen Budgets erwähnt werden müssen, mit denen die Serien seinerzeit auskommen mussten, sei dahingestellt. Die zweite Hälfte des Settings ist die Serie, die man spielen möchte. Oder besser, die Serie, welche die Spielleitung spielen möchte. Sagt einem keine der zehn bereits erstellten Serien als Hintergrund für die eigene Runde zu, gilt es eine eigene von Grund auf zu entwerfen. Zu diesem Zweck wird der Showrunner, wie der Posten der Spielleitung in Retrostar bezeichnet wird, mit einer Art Charakterbogen für die Serie ausgestattet. Diese sogenannte Series Bible ist zur Einsicht für die gesamte Gruppe gedacht, weshalb man um seine eigenen Notizen nicht herumkommt.

Aufgabe des Showrunners ist es also nun vom Pitch, einer schmissigen, spoilerfreien Synopsis, über das Gesamtkonzept bis hin zu den Dials, einer Regelmechanik, die wir uns noch ansehen werden, alles im Alleingang auszuarbeiten. Das Gesamtkonzept beinhaltet übrigens neben Überlegungen zum Werdegang des Settings und darin vorkommenden Antagonisten auch einen ersten Entwurf der Protagonisten. Somit liegt der erste Schritt der Charaktererstellung ebenfalls in der Hand der Spielleitung. Ein interessanter, und für manche Ideen sicherlich auch notwendiger, Ansatz, der aber doch gegen die Gewohnheiten einiger Spielrunden gehen dürfte. Die Dials schließlich drücken einen Teil der Serie in Zahlenwerten aus. Hierbei handelt es sich jedoch um Dinge außerhalb der Serienwelt. Thematic legt fest, wie häufig die Serie auf gesellschaftliche und soziale Themen eingeht. Natürlich streng im Geiste der 70er. Plot bestimmt die generelle Entwicklung der Serie. Gibt es einen Metaplot und Charakterentwicklung, oder wird jede Woche aufs Neue nur irgendeine außerirdische Bestie umgelegt? Recurring teilt uns mit, ob die Serie bestimmte Elemente häufig wiederholt.

Bekommen wir jede Folge eine Raumschlacht zu sehen, ist das definitiv ein wiederkehrendes Element. Um der Ära des Settings gerecht zu werden, gibt es den Wert Cheese. Alles, was so abgedreht, albern oder so tief dem Zeitgeist geschuldet ist, dass man schon eine Generation später wegen Fremdschämens im Boden versinken will, fällt in diesen Bereich. Die letzte Dial wird als SFX bezeichnet und stellt das Budget für Spezialeffekte dar. Dieser Wert dürfte einen während des Spielens am häufigsten begegnen. Denn in der Anwendung unterscheidet sich SFX von allen anderen Dials und hat den spürbarsten Regeleffekt.  

Die Regeln

Im Kern möchte Retrostar ein erzählerisches System sein. Daher steht vor dem eigentlichen Würfelwurf zunächst der sogenannte Intent einer Handlung. Man erläutert nicht eine einzelne, kleinteilige Aktion seines Charakters, sondern erklärt gleich einen größeren, szenischen Handlungsablauf. Statt also eine Aktion für den Sprint durch den Raumschiffhangar zu nehmen, eine weitere, um auf die bösen Androiden zu schießen, und eventuell dann noch eine, um das eigene Schiff zu besteigen, beschreibt man den gesamten Ablauf durchgehend. Dabei kommt es weniger auf die konkreten Aktionen an, als vielmehr auf die Idee, welches Resultat man am Ende haben möchte. Dieser große Handlungsspielraum ist allerdings auch absolut notwendig. Denn das Spiel sieht vor, dass jede Episode, sprich, jedes Abenteuer, in fünf Akte aufgeteilt ist.

Und pro Akt stehen allen Beteiligten, also Spielern wie Showrunner, zusammen nur zwölf Würfelwürfe zu. Auf diese Art soll das Gefühl einer 60 Minuten langen Fernsehfolge entstehen, in der Zeit ein rares Gut ist und eben nur eine bestimmte Anzahl an Szenen unterzubringen ist. Ist die Absicht eines Charakters erklärt, wird zu den Würfeln gegriffen. Retrostar kommt hier ausschließlich mit Sechsseitern aus. Aus dem Intent ergibt sich, welches der drei Attribute, namentlich Adventure, Thought und Drama, als Grundlage dient. Die Werte reichen von -1 bis 2, wobei 0 den Durchschnittswert darstellt. Der Showrunner erklärt, welche Hindernisse, die ebenfalls mit einem bestimmten Zahlenwert versehen sind, sich in der Szenerie befinden und überwunden werden müssen. Die sich daraus ergebende Zahl wird vom verwendeten Attribut abgezogen. Danach hat man die Möglichkeit, auf verschiedene Arten den eigenen Wert wieder anzuheben, seien es Charaktereigenschaften, Special Effects oder ein Spotlight Token. Letztere sind die Entsprechung zu Schicksalspunkten, Stuntwürfeln und Gummipunkten in

Artwork und Stil passen gut
Artwork und Stil passen gut

Retrostar. Ist alles miteinander verrechnet, hat man den finalen Wert, der festlegt, wie der Würfelwurf aussieht. Der Standardwert 0 gibt einem zwei Würfel, deren einzelne Ergebnisse nach dem Wurf addiert werden. Jede Verschiebung von 0 in den positiven Zahlenraum spendiert uns einen Würfel mehr, und es dürfen die beiden höchsten Werte zusammengezählt werden.

Für jeden Punkt unter 0 erhält man zwar auch einen weiteren Würfel, jedoch müssen die beiden niedrigsten Ergebnisse addiert werden. Resultiert die Summe in einem Wert von 10 oder höher, kann man einen Erfolg für sich verbuchen. Alles von 2 bis 6 ist ein Fehlschlag. Erreicht man einen Wert von 7 bis 9, hat man die Wahl. Entweder misslingt die geplante Handlung, es gibt aber keine weiteren negativen Auswirkungen für den Charakter, oder die Aktion ist erfolgreich, dafür erleidet der Charakter jedoch Konsequenzen wie bei einem Fehlschlag. Diese Entscheidung will wohlüberlegt sein. Denn ein Fehlschlag in Retrostar bedeutet Kontrollverlust. Der Showrunner übernimmt das Ruder komplett und erzeugt ein möglichst serientypisches Resultat. Der handelnde Charakter wird von den bösen Androiden überwältigt und gefangen genommen. Oder er stürzt von der Landeplattform hinab in die Wolken und verschwindet so aus der Sicht und aus der Szene. Die Spielleitung nimmt das Schicksal des Charakters gänzlich aus der Hand des Spielers und lässt alle am Tisch im Ungewissen. Das soll Spannung am Tisch und das Gefühl, eine spannende Folge der eigenen Lieblingsserie zu sehen, erzeugen.

In der Praxis stellt es wohl vor allem eine rollenspielerische Herausforderung für alle Beteiligten dar. Auf Seiten des Showrunners ist viel Improvisationstalent und Gespür für Drama gefragt. Die Spieler und Spielerinnen brauchen großes Vertrauen in den Spielleiter und darin, dass alles, was geschieht, schlussendlich dazu dient, die Charaktere die Helden der Geschichte sein zu lassen. Die restlichen Regeln drehen sich vornehmlich um die oben erwähnten Dials. Je nach Konzept der Serie kann einer solchen Dial vom Showrunner einen Wert zwischen 0 und 6 zugewiesen bekommen. Vor jeder neuen Episode wird mit dem Wurf eines W6 pro Dial ermittelt, ob diese im kommenden Abenteuer eine Rolle spielt. Dieses Zufallselement, in einem System, das eigentlich eine sehr strikte Planung des Showrunners erwartet, mutet ein wenig seltsam an und schraubt den Anspruch an die Erfahrung des Spielleiters noch einmal nach oben. Eine Ausnahme bildet die SFX-Dial. Diese stellt einen Pool dar, aus dem sich alle Beteiligten bedienen dürfen, um Würfe schwieriger oder leichter zu machen. Natürlich sollte diese Funktion als cooler Spezialeffekt innerhalb der Szene verpackt werden.  

Charaktererschaffung

Eine Übersicht über die genutzten Bögen
Eine Übersicht über die genutzten Bögen

Der Charakterbau ist, abgesehen von der Schöpfung einer eigenen Serie, der kreativste Teil der Regeln. Zunächst besteht der Charakter aus seinem Background. Dies ist eine kurze, präzise Beschreibung der Rolle, die durch den Charakter in der Serie eingenommen wird. Diesen Teil übernimmt der Showrunner bereits bei der Erstellung seiner Serie. Als Nächstes folgt das Casting. Hier darf nun der Spieler erstmals tätig werden. Das Casting definiert den Schauspieler, der die im Background definierte Rolle spielt. Hierfür stehen allerdings nur 25 Worte zur Verfügung. Da keine ganzen Sätze ausformuliert werden müssen, sondern Stichpunkte wie Kinderstar, rauchige Stimme oder ehemaliger Footballspieler ausreichen, sollte man mit der begrenzten Anzahl an Worten eigentlich ganz gut hinkommen. All diese Eigenschaften dienen im Spiel dazu, unter bestimmten Umständen Bonuswürfel für einen Intent zu generieren.

Anschließend werden die Werte für die Attribute, hier Traits genannt, festgelegt. Man verteilt die Zahlen 1, 0 und -1 auf die drei Traits. Danach darf man einen der Werte noch um einen Punkt erhöhen. Um auch in die blanken Zahlen ein wenig Individualisierung einzubringen, darf man noch so genannte Descriptors definieren. Jeder Trait, dessen Wert nicht 0 ist, darf mit mindestens einem solchen Descriptor versehen werden. Dabei handelt es sich um eine besondere Eigenschaft, passend zum entsprechenden Trait. Legt man eine Probe ab, bei der ein solcher Descriptor zum Tragen kommen könnte, erhält man einen Bonus. Zuletzt verfügt auch noch jeder Charakter über Dials. Auch diese stellen eine mögliche Quelle für Bonuswürfel dar, sofern die Dial zu Beginn der Episode durch einen Würfelwurf aktiviert wurde. Bei der Charaktererschaffung muss man sich hierüber jedoch noch keine Gedanken machen. Die Regeln raten an, erst ab der dritten Episode, wenn man schon ein gutes Gefühl für den Charakter hat, die persönlichen Dials mit Werten zu versehen. Durch den erzählerischen Charakter des Spiels stellt sich die Frage nach der Mächtigkeit eines Charakters eigentlich gar nicht so sehr.

Da es in den Regeln jedoch ziemliche Auswirkungen hat, ob ein Trait nun einen Wert von 0 oder 2 hat, entsteht ein ziemliches Gefälle zwischen Charakteren, die eigentlich ein ähnliches Aufgabengebiet innerhalb einer Gruppe abdecken. Wie sehr sich dieser Unterschied im Spiel auswirkt, lässt sich allerdings erst in der Praxis bewerten. Der Charakterbogen ist sehr aufgeräumt gestaltet und bietet Platz für alle notwendigen Informationen. Tatsächlich ist er sogar so schlank, dass die zwei spielerrelevanten Tabellen, die es im Spiel gibt, auch noch auf den Bogen passen.  

Erscheinungsbild

Aufmachung und Layout bleiben dem Stil der 1970er absolut treu. Gedeckte Pastellfarben, Textkästen, die an alte Science-Fiction-Computer erinnern, und sogar ein paar Fotos aus jener Zeit machen unmissverständlich klar, in welche Richtung es hier gehen soll. Die Bilder, durchgehend von Brent Sprecher gemacht, sind solide. Ein paar wenige Illustrationen hängen dem restlichen Niveau etwas hinterher, man merkt aber deutlich, dass man es mit einem Profi und nicht mit Fanart zu tun hat.

Der Index ist kompakt und für die 133 Seiten dieses Regelwerks absolut ausreichend, da auch innerhalb des Buches immer wieder Querverweise mit Angabe der Seiten gemacht werden. Am Ende des Buches wird man ordentlich mit Vorlagen für die Series Bible, einem Charakterbogen und einem Referenzbogen versorgt. Das PDF bleibt leider hinter seinen digitalen Möglichkeiten zurück. Trotz, oder gerade wegen, der Kürze des Regelwerks wäre ein digitaler Index eine tolle Sache gewesen. Nun gut, so trägt es dafür  auch zum Retrogefühl bei.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Spectrum Games
  • Autor: Barak Blackburn
  • Erscheinungsjahr: 2015
  • Sprache: Englisch
  • Seitenanzahl: 133
  • ISBN: –
  • Preis: 14,95 USD
  • Bezugsquelle: DriveThruRPG

 

Fazit

Retrostar ist ein spannendes Experiment. Bestimmt vom Stil der 1970er Jahre erschafft und kreiert der Spielleiter seine Vision einer Science-Fiction-Serie. Das beginnt bei der grundsätzlichen Idee des Settings, geht über den gesamten Handlungsverlauf der einzelnen Episoden und endet erst nach der Definition der möglichen Protagonisten, also der Spielercharaktere. Auch im weiteren Verlauf bleibt der Spielleiter die zentrale Figur, denn jeder Misserfolg eines Charakters führt dazu, dass sein weiteres Schicksal zunächst durch die Spielleitung bestimmt wird. Somit sind sowohl langfristige Planung, als auch gehöriges Improvisationstalent gefragt. Die Protagonisten, und somit auch die Spielerinnen und Spieler dahinter, dienen einzig und allein der Geschichte.

Die grundsätzlichen Regelmechanismen sind übersichtlich, leuchten schnell ein und unterstützen an sich das erzählerische Grundkonzept von Retrostar. Gleichzeitig gibt es einige Regeln, die sich nicht auf das Geschehen innerhalb des Abenteuers beziehen, sondern abbilden wollen, dass es sich eben um eine Serie in den 70ern handelt. Und hier liegt der Schwachpunkt des Systems. Immer wieder wird an der vierten Mauer gekratzt, ohne diese jedoch wirklich zu durchbrechen. Die einzelnen Komponenten sind tolle Ideen, die auf den vorhanden 133 Seiten jedoch im Zusammenspiel nicht ihr volles Potential entfalten können. Vielleicht wäre ein erweiterter Director’s Cut eine gute Idee. Erfahrene Rollenspielgruppen, die einen erzählerischen Stil bevorzugen, für Experimente offen sind und Science-Fiction mögen, können hier bedenkenlos zugreifen.

Auch wer generell einen Hang zu Serien wie Buck Rogers, Battlestar Galactica, die alte wohlgemerkt, oder Der Sechs-Millionen-Dollar-Mann hat, sollte einen Blick riskieren. Für andere Gruppen ist Retrostar eher nur bedingt zu empfehlen.

Dieser Ersteindruck basiert auf der Lektüre des Regelwerks. Ein baldiger Spieltest ist eher unwahrscheinlich.

Artikelbilder: Spectrum Games
Dieses Produkt wurde kostenlos als PDF zur Verfügung gestellt.

Über den Autor

Andreas Weidner, Jahrgang 1981 und aus Franken stammend, kennt eigentlich nur ein einziges Hobby: das Spielen. Egal ob Miniaturenspiele, TCGs, LCGs, Brettspiele, LARP oder der Computer: Hauptsache spielen. Doch die Königin ist und bleibt für ihn das Pen&Paper-Rollenspiel in all seinen Facetten. 

 

 

 

 

 

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