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Eine mysteriöse Mumienhand wird aus einem buddhistischen Kloster in Nepal gestohlen. Angeblich stammt sie von einem Yeti. Die Mönche sind entsetzt: Der Verlust der Reliquie soll großes Unglück über das Tal und seine Bewohner bringen. Die Diebe interessiert indes nur eines: Ist der „Schreckliche Schneemensch“ real oder nur eine Legende?

Projekt H.E.L.D. – Historische Ereignisse Legendär Definiert

Ein abgelegenes Dorf in Nepal, in den frühen 1990er Jahren: Die Mönche im Kloster von Pangboche sind in Aufruhr. Eine alte und ungeheuer wichtige Reliquie ihres Ordens wurde gestohlen! Es handelt sich um die mumifizierte Hand eines Yeti, die seit Jahrhunderten im Kloster aufbewahrt wurde. Der Verlust der Hand trifft die Einheimischen doppelt hart: Nicht nur hatte das Artefakt große religiöse Bedeutung für sie, es war auch, so die örtlichen Legenden, der Garant für die Sicherheit des Tals und seiner Bewohner.

Worum geht es?

Pangboche gilt in Nepal als äußerst heiliger Ort. Im 17. Jahrhundert soll Lama Sangwa Dorjee, der den Buddhismus nach Nepal brachte, hier gelandet sein, nachdem er über den Himalaya geflogen war. Europäischen Touristen und Bergsteigern ist das kleine Dorf auf knapp 4000 Metern Höhe wohl eher deswegen bekannt, weil es eine der letzten Stationen auf dem Weg zum Mount Everest ist. Eine weitere Besonderheit, von der Reisende des zwanzigsten Jahrhunderts gerne berichteten, ist, dass die Mönche des örtlichen Klosters behaupteten, die Hand eines Yeti zu besitzen. Heute weiß man, dass auch in mehreren anderen Klöstern in der Region Reliquien verehrt werden, die von Skeletten dieser mythischen Kreaturen stammen sollen.

Der Yeti, eine Art Mischung aus Mensch, Affe und Bär, mit langem Fell und chronisch schlechter Laune, wurde 1957 mit dem Horrorfilm „The Abominable Snowman“ (Deutscher Titel: „Yeti, der Schneemensch“) in der westlichen Hemisphäre weithin bekannt. Die legendären Schneemenschen stammen ursprünglich aus der Mythologie der Himalaya-Region und spielen in der dortigen Auslegung des Buddhismus, in der die lokalen Gottheiten der Vorgängerreligion teilweise übernommen wurden, eine wichtige Rolle. Wahrscheinlich geht die Legende auf einen prä-buddhistischen Jagdgott zurück. Das Volk der Sherpa, das in den Höhenlagen des Himalaya heimisch ist, fürchtet die Schneemenschen bis heute. Doch nicht nur Einheimische glauben an die Existenz des Yeti: Manch ein Bergsteiger, der den Everest oder einen seiner Nachbarn bestiegen hat, schwört Stein und Bein, mit eigenen Augen ein Exemplar – oder zumindest eindeutige Spuren eines solchen – gesehen zu haben. Bisweilen brechen sogar mehr oder weniger wissenschaftliche Expeditionen auf, um die Existenz der Kreaturen zu beweisen oder zu widerlegen.

Das Kloster von Pangboche wurde offenbar Opfer dieses kryptozoologischen Forscherdrangs.

Was ist passiert?

Finanziert von Thomas Baker Slick, Erbe eines texanischen Öl-Konzerns und Förderer von allerlei grenzwissenschaftlichen Expeditionen, besuchte der Abenteurer Peter Byrne gemeinsam mit seinem Bruder Bryan 1958 Pangboche. Ein Mönch erzählte Byrne, dass das Kloster im Besitz der Hand eines Yeti sei und bot an, sie ihm zu zeigen. Byrne war begeistert und meldete seinen Fund direkt – indem er einen Boten zur nächsten Telegrafenstation nach Indien schickte – an seinen Gönner Slick. Dieser wies ihn an, die Hand käuflich zu erwerben. Die Äbte des Klosters, im Buddhismus Lamas genannt, verweigerten die Herausgabe jedoch strikt: Die Hand sei der Garant für das Wohlergehen des Tales, ohne sie würde großes Unglück über die Bewohner Pangboches kommen.

Byrne reiste nach London, um sich mit Slick und einem englischen Zoologieprofessor namens William Osman Hill zu beraten. Für Slick und Hill war klar: sie mussten mindestens einen Finger von der Hand haben, wie, das war ihnen egal. Die anatomische Analyse, durchgeführt von dem angesehenen Wissenschaftler Hill, so hoffte Slick, würde endlich den Beweis erbringen. Er schickte Byrne zurück nach Nepal, ausgestattet mit einer mumifizierten menschlichen Hand, die Hill in einer Papiertüte zum Lunch mitgebracht haben soll. Es ist nicht eindeutig überliefert, was dann geschah: Laut einer Version stahl Byrne den Zeigefinger der Hand im Kloster und ersetzte ihn heimlich. Byrne selber hingegen behauptet, er habe mit den Lamas ausgehandelt, einen Finger mitnehmen zu dürfen. Voraussetzung dafür war, dass er einen Ersatz zur Verfügung stelle und einen finanziellen Beitrag zur Erhaltung des Klosters leiste. Dieser, so Byrne weiter, sei von Slick zur Verfügung gestellt worden und habe sich auf 10.000 Rupien belaufen – umgerechnet etwa 160 US-Dollar. Eine weitere Version besagt, Byrne habe die Mönche betrunken gemacht, damit sie zustimmten.

Nun stellte sich ein neues Problem: Der Finger musste am britischen Zoll vorbei nach London geschmuggelt werden. Doch auch dafür hatte der Millionär Slick eine Lösung. Er schickte Byrne mit seiner Beute nach Kalkutta, wo der Schauspieler James Stewart und seine Frau Gloria gerade Urlaub machten. Nach einem gemeinsamen Abendessen erklärte sich das Ehepaar bereit, den Finger nach Großbritannien zu bringen. Gloria, so heißt es, versteckte ihn in ihrem Dessouskoffer – denn kein englischer Zollbeamter würde je den Dessouskoffer einer Dame öffnen! So landete der Finger schließlich bei Osman Hill im Labor. Doch der Zoologe konnte ihn weder eindeutig einem Menschen, noch einem Affen, und schon gar nicht einer bislang unbekannten Spezies zuweisen.

1962 kam Slick bei einem Flugzeugabsturz ums Leben. Damit versiegte die Geldquelle für großangelegte Yeti-Suchaktionen. Der Finger in Hills Sammlung geriet allmählich in Vergessenheit. Bis 1991: In diesem Jahr brachte die amerikanische Fernsehsendung Unsolved Mysteries ein viertelstündiges Special über die Jagd nach dem Yeti, in dem Peter Byrnes Geschichte von der Yeti-Hand und ihr Aufbewahrungsort in Pangboche genau beschrieben wurden. Nur kurze Zeit nach der Ausstrahlung stahlen Unbekannte die Hand aus dem Kloster. Sie wurde bis heute nicht gefunden.

Der abgetrennte Finger indes wurde mit dem gesamten Nachlass des Professor Hill 1975 an das Royal College of Surgeons‘ Hunterian Museum in London vermacht. Erst 2011 kamen Forscher dazu, die schlecht sortierte Sammlung ordentlich zu katalogisieren und stießen dabei auf das angebliche Yeti-Relikt. Eine DNA-Analyse ergab: der Finger stammt von einem Menschen.

Was könnte passieren?

Ein Öl-Millionär mit kryptozoologischen Ambitionen, ein Artefakt, dessen Diebstahl ein friedliches Tal ins Unglück stürzen könnte, ein verrückter Professor und schließlich ein Filmstar, der zum Schmuggler wird: Die abenteuerliche Geschichte um den Diebstahl erst des Fingers, dann der ganzen Hand von Pangboche schreit geradezu danach, rollenspielerisch verarbeitet zu werden. Sowohl Horror- und Survival-Szenarien, in denen die Charaktere Jagd auf den „Schrecklichen Schneemenschen“ machen (oder er auf sie), als auch ein klassisches Krimi-Setting sind vorstellbar.

Auf der Jagd nach dem Yeti

Die Jagd nach einer geheimnisvollen, möglicherweise gefährlichen Kreatur, die auch noch in schwer zugänglichem Gelände lebt, bietet reichlich Gelegenheit für einen handfesten Abenteuer-Plot. Dabei ist es im Grunde relativ egal, ob der Spielleiter die Geschichte in der Jetzt-Zeit, in den 1950ern, oder sogar noch früher spielen lassen will: Schon in den 1920er Jahren, mit der ersten britischen Mission zum Mount Everest, hörten Europäer die Legende vom Yeti. Es wäre sogar möglich, die Geschichte noch früher anzusetzen und eine Gruppe unerschrockener Charaktere aus viktorianischer Zeit auf die Spur der Schneemenschen zu schicken, ausgestattet mit dem Wissen der Mönche, dem nötigen Entdeckergeist und einigen einheimischen Bergführern.

Eine in der Gegenwart spielende Geschichte könnte allerdings schon früh eine unheimliche Wendung nehmen: Was, wenn die DNA des Fingers, den Peter Byrne und das Ehepaar Stewart seinerzeit aus Nepal nach London schmuggelten, eben doch nicht menschlich wäre, sondern einer bislang unbekannten Primatenspezies angehörte? Es gibt wohl kaum einen besseren Grund, eine wissenschaftliche Expedition in den Himalaya zu entsenden. Was die Helden am Ende ihrer Suche finden, hängt davon ab, in welchem System man spielt: Für halbrealistische Survival-Settings bietet sich das bittersüße Erfolgserlebnis an, eine Kolonie echter Yetis zu finden – die allerdings gar nicht gern in ihrer Lebensweise gestört werden und sich wortwörtlich mit Zähnen und Klauen wehren.

Die Frage, was ein Yeti denn nun sei, sollte sich der Spielleiter auf jeden Fall beantworten. Es gibt zahlreiche Möglichkeiten: Eine unbekannte Spezies, etwa das lang gesuchte fehlende Bindeglied zwischen Mensch und Affe, wie manche Yeti-Gläubige vermuten? Eine sonst ausgestorbene Menschenart, zum Beispiel ein Neandertaler? Oder gar etwas Übernatürliches? In einem Setting wie der World of Darkness könnte es sich auch um einen Gestaltwandler handeln: Damit wären die Sichtungen des Schneemenschen zum Beispiel durch einen Werwolf in seiner Kriegsform zu erklären. Die Beschreibung „zottig, auf zwei Beinen gehend, aggressiv und gefährlich“ passt jedenfalls. Womöglich lebt da ein Rudel von Wolfsmenschen unbemerkt inmitten der einheimischen Sherpas! Oder sind es die scheinbar so friedlichen Mönche, die das Mal von Mutter Luna tragen?

In der Welt von Call of Cthulhu könnte es sich bei den legendären Schneemenschen gar um Außerirdische handeln – die entsetzliche Rasse der Mi-Go. Jedenfalls hat ihr Schöpfer H. P. Lovecraft den Namen dieser zweibeinigen Pilzkreaturen einem in Tibet gebräuchlichen Wort für den Yeti entlehnt. Die Mi-Go sind Diener der Großen Alten Nyarlathotep und Shub-Niggurath, gelten als äußerst bösartig und können aufgrund ihrer andersweltlichen Anatomie nicht auf Kameraaufzeichnungen festgehalten werden. Eine Kultistengruppe, die sich die „Bruderschaft des Gelben Zeichens“ nennt, hat sich der Vernichtung dieser Fabelwesen verschrieben. Könnten furchtlose Yeti-Jäger wie die Gebrüder Byrne und ihr Finanzier Slick nicht diesem Kult angehört haben?

Allerdings muss nicht alles, was am Ende der Suche nach dem Yeti liegt, tödlich sein: Irgendwo in den Höhen des Himalaya soll das mythische Königreich Shambhala liegen. Die Legende, die aus den Schriften des tibetischen Buddhismus stammt, besagt, dass von hier aus der zukünftige Buddha die Erde erobern und ein Goldenes Zeitalter einleiten wird. Diese Prophezeiung inspiriert seit Jahrzehnten Esoteriker und Okkultisten aus aller Welt. In den 1920er und 30er Jahren brachen gleich mehrere Expeditionen auf, um dieses Paradies auf Erden zu suchen. Ähnlich wie den Yeti hat zwar niemand es je gefunden, doch das muss eine Gruppe von Spielercharakteren ja nicht abhalten, rein zufällig darauf zu stoßen. Möglicherweise steht dieser Ort der Erleuchtung nur denen offen, die reinen Herzens sind? In Hollow Earth Expedition befindet sich Shambhala – wie sollte es anders sein – auf der Innenseite der Erde. Ein Portal, versteckt auf einem schwer zugänglichen Bergpass, eröffnet den Weg dorthin. Wann und warum dies passiert, bleibt dem Spielleiter überlassen. Doch wenn das Portal offen ist, können Heilssuchende hinein- und manchmal Yetis hinausspazieren.

Auf der Jagd nach der Hand

Anstelle einer Monsterjagd könnten Charaktere natürlich auch eine ganz andere Position einnehmen: Die des Jägers nach den Dieben der gestohlenen Yetihand. Ein mögliches Szenario wäre etwa, die Gruppe, Bergsteiger oder Touristen aus dem Westen, gerade zu dem Zeitpunkt des Diebstahls im Kloster Station machen zu lassen. Einer oder mehrere Charaktere mögen die Einbrecher des Nachts beobachten, eventuell sogar konfrontieren, jedoch ohne sie aufhalten zu können. Erst am nächsten Tag erfahren sie, welche schrecklichen Folgen der Verlust der Hand für das Tal haben könnte. Fern der nächsten Polizeistation, fleht der oberste Lama die Charaktere an, bei der Suche nach den Dieben zu helfen. Sind sie dazu nicht bereit, kann der Spielleiter nachhelfen, indem er die düstere Prophezeiung wahr werden lässt: Erdbeben, Schneestürme, mysteriöse Todesfälle oder ein Yeti-Angriff. Der Fantasie sind kaum Grenzen gesetzt.

Man könnte die Geschichte aber auch irgendwo sonst auf der Welt spielen lassen: Ein alter buddhistischer Mönch, verhärmt und abgemagert, ein wettergegerbter Abenteurer oder ein mysteriöser Mittelsmann tritt an eine Gruppe von Ermittlern mit einem seltsamen Auftrag heran: sie sollen eine mumifizierte Hand finden, deren letzte Spur sich in ihrer Stadt (in Amerika, Europa, Russland, Japan?) verliert und deren Rückkehr in nach Nepal von immenser Wichtigkeit ist. Wen sie am Ende ihrer Suche schließlich stellen, liegt wieder ganz im Ermessen des Spielleiters. Ein exzentrischer Milliardär, der ein besonderes Geschenk für seine nicht minder exzentrische Gattin suchte? Ein Zirkel von Kultisten? Ein verrückter Wissenschaftler, der davon träumt, sich eine Armee von Yetis zu klonen? Das Regelwerk von Hollow Earth Expedition kennt die Geheimorganisation „Terra Arcanum“, deren Zweck es ist, die Eingänge zur Inneren Erde geheim zu halten. Wenn Yetis tatsächlich aus Shambhala kommen, ist dies Grund genug, eventuelle Beweise für ihre Existenz verschwinden zu lassen – und jeden, der danach sucht.

Dieses Szenario lässt sich indes sogar in einem Zukunfts-Setting verwenden: In Shadowrun sind Yetis intelligente Critter, die asiatischen Verwandten des Sasquatch. Einer von ihnen soll, so beschreibt es der Runner’s Companion der vierten Edition, 2011 kurz nach dem Erwachen nach Pangboche herabgestiegen sein und sich als Wiedergeburt eines Lamas aus dem 13. Jahrhundert zu erkennen gegeben haben. Seitdem lebt er als Meh-Teh Lama (Meh-Teh ist ein anderes Wort für Yeti) im dortigen Kloster. Es wäre nur naheliegend, dass dieser geistliche Führer einen Mr. Johnson in eine der Runner-Hochburgen der Sechsten Welt entsendet, um ein Team zur Zurückgewinnung der Reliquie zusammenzustellen.

Was bleibt: Requisiten und Rückgabeforderungen

Was im Rollenspiel ein breites Spektrum an spannenden Möglichkeiten eröffnet, ist im realen Leben weit weniger lustig. Sei es nun aus Profitgier, dem Wunsch nach einem „besonderen Souvenir“ oder „im Dienste der Wissenschaft“: wer immer die Hand von Pangboche gestohlen hat, hat dem Kloster und der Dorfgemeinschaft immenses Leid zugefügt – ganz egal, ob man nun an Yetis oder Flüche glaubt, oder nicht. Sicherlich könnte man auch Kampagnen spielen, in denen die Charaktere selbst die Diebe sind. Ich habe mich hier allerdings bewusst dafür entschieden, diese Möglichkeit auszuklammern.

Im Kloster von Pangboche befindet sich heute eine Nachbildung der Yetihand, die von den WETA-Filmstudios in Neuseeland (die Requisiten für Filme wie Herr der Ringe und Avatar hergestellt haben) gespendet wurde. Wer immer sich im Besitz der Hand befindet, ist aufgerufen, sie zurückzugeben, mit dem Versprechen: Es werden keine Fragen gestellt.

Artikelbild: Ernst Haas, Getty Images

 

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