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Der Hugo Award ist einer der weltweit wichtigsten Preise für phantastische Literatur. Auch dieses Jahr warten in der Shortlist englischsprachige Lieblingsbücher darauf, von begeisterten Lesern entdeckt zu werden. Wir stellen alle nominierten Romane und natürlich den Gewinner vor.

Seit 1955 verleihen die Mitglieder der World Science-Fiction Society jedes Jahr die Hugo Awards, den ältesten heute noch verliehenen Science-Fiction-Preis. Ursprünglich ein Literaturpreis, der die besten Romane, Novellen und Kurzgeschichten des Jahres sowie die einflussreichsten Magazine kürte, zeichnet die silberne Rakete inzwischen auch Comics, Filme und Serien aus. Für viele Fans englischsprachiger Science-Fiction- und Fantasyliteratur ist es ein Event, das man sich im Kalender anstreicht. Die lange Reihe der Hugo-Gewinner enthält neben Robert A. Heinlein und Ursula K. Le  Guin auch in jüngerer Zeit große Namen. Neil Gaiman wurde für American Gods, George R. R. Martin für eine Frühversion von A Game of Thrones ausgezeichnet und allgemein gilt der Preis als guter Prädiktor, wessen Bücher man im Auge behalten sollte.

Freitagabend war es mal wieder soweit. Zum 75. Mal und wegen technischer Probleme leider wieder einmal ohne Livestream wurden auf der Worldcon, die dieses Jahr in Helsinki stattfand, die Hugos verliehen. Unter den Nominierten für den besten Roman waren allerdings so viele großartige Bücher, dass wir euch kurzerhand alle vorstellen möchten. Da die Hugo Awards nicht von einer Fachjury gewählt werden, sondern alle Mitglieder der WSFS stimmberechtigt sind – über 2000 Stimmen wurden in der Kategorie Roman abgegeben –, ergibt sich so auch ein Bild davon, welche Themen Fans im letzten Jahr besonders umgetrieben haben. Klassische Abenteurer, die umherziehen und Hindernisse überwinden, sucht man dieses Jahr vergeblich. Stattdessen dreht sich alles um Gesellschaften, die das Gleichgewicht zu verlieren drohen, Menschen, die ihre Prinzipien hinterfragen müssen, und überall droht der Weltuntergang.

Zu den Gewinnern in anderen Kategorien gehörten Seanan McGuire mit ihrer Novelle Every Heart a Doorway, Monstress, Volume 1 als „Best Graphic Story“ (die TZH-Rezension findet ihr hier) und Denis Villeneuves Film Arrival, der sich erfolgreich gegen Konkurrenten wie Deadpool und Rogue One durchsetzen konnte.

Die Nominierten:

All the Birds in the Sky – Charlie Jane Anders (Titan Books)

Charlie Jane Anders gewann bereits 2012 den Hugo-Award in der Kategorie „Beste Novelle“ für Six Months, Three Days, doch erst ihr neuester Roman All the Birds in the Sky (dt. Alle Vögel unter dem Himmel) verhalf ihr zu allgemeiner internationaler Anerkennung. Die charmante Mischung aus Fantasy und Science-Fiction wurde dieses Jahr bereits mit Preisen überhäuft und ist als einziges Buch unter den diesjährigen Nominierten nicht Teil einer Reihe.

Schon als Kind bemerkt Patricia, dass sie mit Tieren sprechen kann. In der Schule begegnet sie Laurence, Technik-Geek und stolzer Erfinder einer Zwei-Sekunden-Zeitmaschine. Rasch verbünden sich die beiden Außenseiter gegen ihre verständnislosen Eltern und grausamen Mitschüler. Doch die vorsichtige Freundschaft der beiden steht unter einem schlechten Stern: Patricia wächst zu einer Hexe heran und Laurence zu einem genialen Wissenschaftler – in der großen Frage danach, wie die Zukunft des von Umweltverschmutzung und globaler Erwärmung geplagten Planeten aussehen soll, stehen sie auf verschiedenen Seiten. Dennoch begegnen sich die beiden im San Francisco der Zukunft immer wieder. Ist die Prophezeiung, nach der die beiden im Zentrum eines apokalyptischen Kampfs zwischen Magie und Wissenschaft stehen werden, etwa wahr?

Anders leichte Erzählweise und phantasievolle Welt sind unwiderstehlich, sodass man das Buch, hat man einmal angefangen, eigentlich nicht aus der Hand legen mag. Von Zauberschulen über Assassinen hin zu einer eigensinnigen KI steckt es voller alter und neuer Ideen, die mit dem Thema globale Erwärmung einen beklemmenden Realitätsbezug erhalten. Doch im Kern ist All the Birds in the Sky eine Liebesgeschichte, welche geschickt alle Klischees umgeht, die man von ihrem jugendbuchartigen Stil erwarten könnte. Künstlich aufgeregten Herzschmerz und schmachtende Blicke sucht man hier vergeblich, an ihrer Stelle steht die Möglichkeit eines langsamen, freundschaftlichen  Zusammenwachsens trotz großer persönlicher Differenzen im Mittelpunkt. Ein Fokus, der so selten gesetzt wird, dass man über ein paar lose Enden, die im Finale nicht nochmal aufgegriffen werden, gerne hinwegsieht.

Die harten Fakten

  • Verlag: Titan Publ. Group Ltd.
  • Autorin: Charlie Jane Anders
  • Erscheinungsdatum: Januar 2016
  • Sprache: Englisch
  • Seitenanzahl: 431
  • ISBN: 978-1-7856-5055-0
  • Preis: 7,99 EUR
  • Bezugsquelle: Amazon

 

Too Like the Lightning – Ada Palmer (Terra Ignota)

Dieser Roman wäre neben dem Gewinner mein persönlicher Favorit gewesen. Historikerin und Musikerin Ada Palmer mag ja ein Multitalent sein und neben jahrelanger wissenschaftlicher Schreibpraxis auch einen Harvard-Abschluss in der Tasche haben, dennoch übertrifft ihr Debüt alle Erwartungen. Der erste Band der Terra-Ignota-Reihe ist ein Roman von unwahrscheinlichem Ideenreichtum. Da kann es kaum überraschen, dass sie am Freitag zumindest den Hugo für „Best New Writer“ erhielt.

Mycroft Canner ist der schlimmste Mörder des 25. Jahrhunderts, und die ansonsten friedliche Menschheit erzittert bei dem Gedanken an seine vergangenen Taten. Ausgerechnet ihm begegnet Bridger, ein kleiner Junge mit magischen Fähigkeiten, die die Erde verändern könnten. Um für seine Sünden zu büßen, nimmt der höchstgebildete Verbrecher es auf sich, diesen wichtigsten Menschen der Welt zu beschützen und großzuziehen. Doch Mycroft hat noch andere Verpflichtungen, bei denen alle Mächtigen dieser schönen neuen Welt des Friedens ihre Hände im Spiel haben …

Too Like the Lightning ist erstklassige politische Science-Fiction. Palmers führt die Menschheit in eine globalisierte Zukunft ohne nationale Grenzen, lässt dabei aber historisches und kulturelles Erbe nie außer Acht. Sie spekuliert über eine Welt absoluter Glaubensfreiheit, völlig aufgelöster Geschlechterunterschiede und ohne Krieg und Hunger, um anschließend die Schattenseiten dieser Utopie zu erkunden. Dass der Einstieg in dieses hochkomplexe, aber in jeder Hinsicht durchdachte Setting nicht ganz einfach ist, liegt auf der Hand. Dies ist keine leichte Lektüre für nebenbei. Dass Mycroft Canner, unser Erzähler, seine eigene Zeit stark als parallel zur Epoche der Aufklärung wahrnimmt und regelmäßig Literatur und Philosophie des 18. Jahrhunderts heranzieht, um seine eigene Lage zu erklären, macht die Lektüre nicht einfacher. Es ist jedoch zugleich eine der größten Stärken des Romans. Palmer weiß, wovon sie schreibt, und ihre  historischen Referenzen sind nicht nachträglich eingefügt, sondern bilden vielmehr das Fundament der ganzen Geschichte. Einer der besten Romane der letzten Jahre. Mutig. Ambitioniert. Brillant.

Wer vor anspruchsvoller spekulativer Literatur im Stil von Neal Stephensons Anathem nicht zurückschreckt, wird Too Like the Lightning lieben.

Die harten Fakten

  • Verlag: Terra Ignota
  • Autorin: Ada Palmer
  • Erscheinungsdatum: Mai 2016
  • Sprache: Englisch
  • Seitenanzahl: 448
  • ISBN: 978-0-7653-7801-9
  • Preis: 13,84 EUR
  • Bezugsquelle: Amazon

 

Ninefox Gambit – Yoon Ha Lee (Solaris)

Der in den USA aufgewachsene Koreaner Yoon Ha Lee erhält dieses Jahr mit seinem ersten Roman seine erste Hugo-Nominierung, blickt aber auf eine lange und erfolgreiche Karriere als Verfasser von Kurzgeschichten zurück. Die erfolgreichsten sind inzwischen unter dem Titel Conservation of Shadows gesammelt verfügbar.

Das Hexarchate, das mit seinen auf einem kalendarischen Zahlensystem aufbauenden Kriegsstrategien große Teile der Galaxis beherrscht, ist in Aufruhr: Häretiker, die sich nicht an den Kalender halten, haben das Fortress of Scattered Needles in ihre Gewalt gebracht, eine Raumstation von unschätzbarem strategischem Wert. Captain Kel Cheris, die wegen ihrer für eine Kel-Kriegerin unüblichen auf eigenen Berechnungen basierenden Taktik gerade ihren Rang verlieren sollte, bekommt die undankbare Aufgabe, die Station zurückzuerobern. Als Unterstützung dient ihr dabei der längst verstorbene General Shuos Jedao, dessen Verstand und Erinnerungen digital konserviert sind und nun in Cheris Körper wiederbelebt werden sollen. Doch sich das Bewusstsein mit dem brillanten Taktiker zu teilen, ist eine zweifelhafte Ehre. Jedao ist nicht nur kriegserprobt, sondern auch hoffnungslos verrückt – und ein Massenmörder. Kann Cheris diese Stimme in ihrem Kopf lange genug beherrschen, um ihren Auftrag abzuschließen? Ein Rennen gegen die Zeit beginnt …

Ninefox Gambit ist gute Science-Fiction, bleibt aber hinter den anderen diesjährigen Kandidaten etwas zurück. Die komplexe Welt, ihre verschiedenen Faktionen, Ränge und Abzeichen sind so schwer verständlich, dass das Buch endet, gerade als man den Einstieg endlich geschafft hat. Ironischerweise erschwert gerade der Versuch, den Lesern mathematische Exkurse zu ersparen, die Lektüre. Da man die Rechnungen, die Dreh- und Angelpunkt der Geschichte sind, nicht einmal andeutungsweise gezeigt bekommt, bleiben die Vorstellungen vom Wesen des Hexarchates und seines Kalenders eher vage. Auch das mathematische Genie der Protagonistin muss man als Tatsache hinnehmen, ohne sich je selbst davon überzeugen zu können. Dennoch steckt dieser Einstieg in Lees erste Romanreihe voller mutiger Ideen, und das Katz-und-Maus-Spiel im eigenen Kopf wird Fans militärischer Science-Fiction nicht enttäuschen.

Die harten Fakten

  • Verlag: Solaris
  • Autor: Yoon Ha Lee
  • Erscheinungsdatum: Juni 2016
  • Sprache: Englisch
  • Seitenanzahl: 384
  • ISBN: 978-1-7810-8449-6
  • Preis: 9,49 EUR
  • Bezugsquelle: Amazon

 

Death’s End – Cixin Liu (Head of Zeus)

2015 wurde Cixin Lius The Three Body Problem (dt. Die drei Sonnen) als erster nicht-englischsprachiger und nur in Übersetzung vorliegender Roman mit dem Hugo ausgezeichnet. Das Buch feierte weltweit Erfolge und katapultierte den ehemaligen Computertechniker Liu in die erste Liga zeitgenössischer Science-Fiction-Autoren. Nach The Dark Forest bringt nun Death’s End, erneut in einer exzellenten Übersetzung von Ken Liu, die Remembrance of Earth’s Past-Trilogie zu einem schwermütigen Abschluss. Der anhaltende Konflikt zwischen der Erde und dem Planeten Trisolaris geht in die letzte Runde, und die kosmologischen, soziologischen und moralischen Fragen, die Liu mit seinen Lesern auslotet, erreichen eine noch ungekannte Tiefe.

Während der ersten Jahre der Trisolaris-Krise kauft der todkranke Yun Tianming einer ehemaligen Kommilitonin, in die er früher heimlich verliebt war, einen Stern. Dieses Ereignis verändert den Lauf der Geschichte. Es sendet die Raumfahrtingenieurin Cheng Xin auf eine Reise, die Jahrhunderte umspannt, in denen sie sich einfrieren lässt, um den technischen Fortschritt und die Zukunft der Menschheit mit eigenen Augen sehen zu können. Als sie erwacht, herrscht ein brüchiger Frieden, doch noch immer steuert eine trisolarische Belagerungsflotte die Erde an. Als die Last der globalen Verantwortung auf Cheng Xins Schultern zunimmt, droht das fragile Gleichgewicht zu kippen und die Menschheit in einen Krieg zu stürzen, den sie nicht gewinnen kann. Die Wahl, die getroffen werden muss, ist keine geringere als jene zwischen blankem Überleben der Spezies und den humanitären Werten, welche ihr Selbstverständnis ausmachen. Die Lage scheint verzweifelt, als plötzlich ein Geist aus Cheng Xins Vergangenheit auftaucht – und eine alte Schuld zur neuen Hoffnung der Menschheit macht.

Death’s End übertrifft alle Erwartungen. Dies ist Hard-Science-Fiction vom Feinsten, von genau der Art, die einem seitenlange Exkurse über physikalische Grundlagenforschung so spannend erscheinen lassen wie eine Weltraumschlacht. Dabei sind Lius Figuren lebendig wie nie, und ihre tragische Geschichte entwickelt eine geradezu kosmische Poetik, von der die ersten beiden Bände noch weit entfernt waren.

Die harten Fakten

  • Verlag: Head of Zeus Ltd.
  • Autor(en): Cixin Liu, Ken Liu (Übers.)
  • Erscheinungsdatum: September 2016
  • Sprache: Englisch
  • Seitenanzahl: 724
  • ISBN: 978-1-7849-7165-6
  • Preis: 8,99 EUR
  • Bezugsquelle: Amazon

 

 

A Closed and Common Orbit – Becky Chambers (Hodder)

Becky Chambers Erfolgsgeschichte geht weiter. Ihr crowdgefundeter und zunächst selbstverlegter Roman The Long Way to a Small, Angry Planet (dt. Der lange Weg zu einem kleinen, zornigen Planeten) wurde 2015 von großen Verlagen aufgegriffen und für den Arthur C. Clarke Award nominiert. Mit ihrem zweiten Roman erhält sie nun ihre erste Hugo-Nominierung. A Close and Common Orbit erzählt die Geschichte von Figuren, die im Vorgänger nur am Rande erwähnt wurden. Dabei übertrifft Chambers ihr erstes Buch was Handlung, Erzählweise und Thematik angeht um Längen.

Die künstliche Intelligenz Sidra ist in einem illegalen synthetischen Körper gestrandet und muss auf dem von vielerlei Spezies bevölkerten Mond Coriol untertauchen. Nur die Technikerin Pepper und ihr Freund Blue kennen das Geheimnis und versuchen, der verängstigten jungen Frau ein normales Leben zu ermöglichen. Doch das erweist sich als schwierig, denn KIs sind nicht auf Körperlichkeit ausgelegt, und Sidra fühlt sich in diesem Ding, das einfach nicht zu ihr gehören will, gefangen. Doch Pepper gibt ihre ungewöhnliche Ziehtochter nicht auf, denn auch sie selbst musste einst um einen Platz in einer intergalaktischen Gesellschaft kämpfen, in der es sie eigentlich gar nicht hätte geben dürfen …

Indem es neben Sidras Geschichte Kapitel um Kapitel auch Peppers Vergangenheit ans Licht bringt, führt A Close and Common Orbit zwei Handlungsstränge so meisterhaft nebeneinanderher, dass man die vielfältigen Bezüge zwischen den beiden Lebensgeschichten begreift, ohne sie alle paar Seiten um die Ohren geschlagen zu bekommen. Dabei büßt keine der beiden Handlungen an Spannung ein.

Außerdem ist alles, was im Buch geschieht, von der Frage durchdrungen, was eine Person ausmacht und wie sehr Geist und Körper aneinander gebunden sind. Doch wie bei dem oft mit Joss Whedons Kultserie Firefly verglichenen Vorgängerroman stehen Freundschaft und Zusammenhalt im Mittelpunkt, und die außergewöhnliche Wärme, mit der Becky Chambers ihre Welt erzählt, ist ein Phänomen für sich. Ein Buch wie eine heiße Tasse Kakao.

Die harten Fakten

  • Verlag: Hodder Paperbaccks
  • Autorin: Becky Chambers
  • Erscheinungsdatum: Oktober 2016
  • Sprache: Englisch
  • Seitenanzahl: 384
  • ISBN: 978-1-4736-2147-3
  • Preis: 6,99 EUR
  • Bezugsquelle: Amazon

 

Der Gewinner:

The Obelisk Gate – N. K. Jemisin (Orbit)

Vergangenes Jahr erhielt N. K. Jemisin als erste Afroamerikanerin einen Hugo-Award für den besten Roman. In der Tat ist The Fifth Season ein Buch, das man gelesen haben sollte. Jemisin webt aus Endzeitmotiven und afroamerikanischer Geschichte eine phantastische Welt am Rande des Untergangs, tieftraurig und wild verzweifelt. Der beklemmende Anfang, an dem eine Mutter nach Hause kommt und ihr erschlagenes Kind vorfindet, ist – und davon bin ich überzeugt, seit ich das Buch zum ersten Mal aufschlug – einer der größten Momente der phantastischen Literatur. Der zweite Band, The Obelisk Gate, schickt alte und neue Figuren weiter durch den Ascheregen, der den letzten Kontinent der Erde Flocke für Flocke dem Untergang weiht, und man fragt sich immer wieder, wie eine so ernste Geschichte zugleich so lustig, abenteuerlich und unterhaltsam ist. Der emotionalen Unmittelbarkeit von Jemisins Erzählweise kann sich niemand entziehen, und so wählt die WSFS auch dieses Buch zum Roman des Jahres.

Lange hatte Essun, die Heldin aus The Fifth Season, ihre seismischen Fähigkeiten versteckt, denn sie ist eine Orogene, eine Erdmagierin, deren Volk seit Jahrhunderten versklavt wird. Doch ihre Kinder erbten die Gabe, und ihr Sohn war zu jung, um sie richtig zu verbergen. Aus Angst und Hass erschlug ihr Ehemann Jija den eigenen Sohn und ist nun mit der gemeinsamen Tochter Nassun auf der Flucht. Noch immer ist Essun auf der Suche nach ihr. Doch auf dem Weg wird sie aufgehalten: Das unterirdische Dorf Castrima bietet Schutz und eine Chance zu überleben an, wenn sie und ihre Begleiter sich ihm anschließen und es gegen Angreifer verteidigen. Hier trifft sie auch auf einen alten Freund, der glaubt, dass Essun die Welt retten kann. Sie verweilt, ohne zu ahnen, dass auch Nassun inzwischen auf jemanden aus ihrer Vergangenheit gestoßen ist – und zwar auf ihren ärgsten Feind.

Die noch unvollendete Broken-Earth-Trilogie glänzt nicht nur durch die ungewöhnliche Welt und anspruchsvolle Thematik, sondern vor allem durch Jemisins Sprache, der die Bücher ihre magnetische Wirkung verdanken. Die mit einfachen, direkten Worten erzählte Geschichte ist zum Teil in der zweiten Person geschrieben und spricht die Protagonistin an, statt von ihr zu berichten. Dass sich das während der Lektüre so natürlich anfühlt, als habe man sein Leben lang nichts anderes gelesen, erhebt die Autorin über alle Genrefiktion in den Rang der begabtesten SchriftstellerInnen der Gegenwart.

Zweifellos räsonieren die aktuellen Themen, denen Jemisin sich in ihren Büchern zuwendet, ganz besonders mit einer Leserschaft, die den politischen Entwicklungen eines Amerika unter Donald Trump eher besorgt gegenüberstehen. Zwar ist Broken Earth keine plumpe Allegorie, die sich eins zu eins in unsere Wirklichkeit übersetzen lässt, doch Jemisin versucht zu keinem Zeitpunkt, ihre spezifische, eigene Perspektive zu verbergen. Wie fühlt es sich an, zu wissen, dass die eigenen Vorfahren keine Bürgerrechte hatten, dass man selbst Produkt einer Geschichte von Versklavung und Missbrauch ist? Wie viel Verzweiflung steht hinter Gewalt? Den Lesern wird ein ungewohnter Blickwinkel angeboten, und wer ihn annimmt, erwischt sich dabei, Dinge zu begreifen, an die er vorher noch nicht mal gedacht hatte. Die alte Wut und neue Frustration werden auf den Punkt gebracht, wenn das Dorf Castrima während einer Belagerung abstimmen lassen möchte, ob den Forderungen des Feindes nachgegeben und ein Teil der Bewohner ausgeliefert werden soll.

Essun, die mehr verloren hat als alle anderen, beendet diesen Akt entwerteter Scheindemokratie mit den Worten: „No part of this comm gets to decide that any other part of this comm is expendable. No voting on who gets to be people.“ Es ist ein Gänsehautmoment. Leise rascheln die Seiten. Draußen regnet es Asche. Was für ein Buch!

Die harten Fakten

  • Verlag: Orbit
  • Autorin: N. K. Jemisin
  • Erscheinungsdatum: August 2016
  • Sprache: Englisch
  • Seitenanzahl: 448
  • ISBN: 978-0-3565-0836-8
  • Preis: 8,49 EUR
  • Bezugsquelle: Amazon

 

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