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Rollenspiel vereint Menschen. Diese Idee hat sich der Verein Dragon Legion e. V. auf die Fahnen geschrieben, um Pen-&-Paper-Spieler aus ganz Europa zusammenzubringen. Doch es geht nicht nur ums Zocken: Bildung und Jugendförderung stehen an oberster Stelle. Unterstützung bekommen sie sogar von der EU und der evangelischen Kirche.

Rollenspieler zusammenzuführen, und das nicht nur auf lokaler Ebene, sondern über Landesgrenzen hinweg, das ist vermutlich für viele Pen-&-Paper-Freunde eine spannende Vorstellung. Das Organisieren und Ausweiten einer internationalen Spielervereinigung ist jedoch eine enorme Herausforderung, an der schon einige Projekte gescheitert sind. Eine Aachener Gruppe veranstaltet seit einigen Jahren Rollenspielevents an verschiedenen europäischen Standorten und hat so ein wachsendes Netzwerk geschaffen. Seit letztem Jahr sind sie ein eingetragener Verein, der sogar eigene Spielsysteme veröffentlicht.

Bewegung ins Rollenspiel bringen

Wie so oft in Rollenspielen beginnt, auch diese Geschichte damit, dass sich einige Freunde zusammentaten, um Abenteuer zu erleben. Ras Pechuel, Mario Weißkopf und weitere langjährige Rollenspielveteranen aus Aachen hatten die Idee, internationale Events zu veranstalten, um gerade junge Leute wieder verstärkt für Pen-&-Paper-Rollenspiele zu begeistern. Neben dem reinen Spielspaß sollte auch die Vermittlung von Wissen und sozialen Fähigkeiten im Mittelpunkt der Initiative stehen. Die Gründer fanden, dass gerade das Gruppenerlebnis im Rollenspiel besonders gut zum Lernen einsetzbar sei.

Dabei stand ihnen ein Hindernis im Weg: Die heutige Generation von Kindern und Jugendlichen ist nicht mehr so einfach für Tischrollenspiele zu begeistern, wie das noch vor 20-30 Jahren der Fall war. Andere Unterhaltungsformen, gerade Videospiele, sind leichter und schneller für ein junges Publikum zugänglich. Die Hürde, sich in komplexe Regeln einzulesen, Abenteuer zu entwerfen und dann eine Gruppe Gleichgesinnter um sich zu scharen, ist deutlich höher, als eine Software zu installieren und loszulegen. Als ehemaliger Mitarbeiter beim MMORPG D&D Online war sich Ras Pechuel darüber im Klaren, dass klassische Pen-&-Paper-Rollenspiele sich weiterentwickeln müssen, um die digitale Konkurrenz einzuholen. Er und seine Mitorganisatoren setzten dabei auf eine Doppelstrategie: Zugänglichere Spielsysteme entwickeln, aber auch neue Konzepte für den Aufbau von Spielrunden präsentieren. Alles unter dem Motto: „Bewegung in die Rollenspielszene bringen und Neues ausprobieren“.

Treffen der Dragon Legion in Schweden
Treffen der Dragon Legion in Schweden

2014 stellte die Gruppe, damals noch nicht unter dem späteren Vereinsnamen, auf Island ihr erstes Event vor. In einem Spielecamp trafen sich mehrere Gruppen, um vernetzte Abenteuer in einem eigens erfundenen System zu spielen. Das Setting war an die nordische Mythologie angelehnt und gezielt darauf ausgerichtet, spielerisch historische und kulturelle Inhalte zu vermitteln. Durch dieses Konzept des kulturellen Lernens konnten die Organisatoren Jugendfördergelder der EU gewinnen, denn die Veranstaltung brachte 30 junge Rollenspielfreunde aus ganz Europa zusammen. Ein wesentliches Lernkonzept waren dabei die vernetzten Abenteuer: Die Entscheidungen und Spielweisen jeder einzelnen Gruppe hatten Auswirkungen auf die gesamte Spielwelt und damit auch auf andere Gruppen. So lernten die Spieler, dass ihre Handlungen Konsequenzen für alle Campteilnehmer hatten.

2015 folgte ein weiteres Spielecamp auf Rhodos mit 50 Teilnehmern; diesmal basierte die lebendige Spielwelt auf der griechischen Mythologie. Mittlerweile führt die Dragon Legion in zahlreichen europäischen Ländern Rollenspielveranstaltungen durch oder hat zukünftige Events geplant. Auf diese Weise entstand in den letzten drei Jahren ein stetig wachsendes internationales Pen-&-Paper-Netzwerk (siehe Grafik). Von diesen Erfolgen angespornt, entschied sich die eher lose agierende Gruppe für eine Vereinsgründung, um ihre Organisationsstrukturen zu festigen und sich einheitlicher nach außen präsentieren zu können. Im Dezember 2016 wurde der Dragon Legion e. V. als gemeinnütziger Verein in Deutschland anerkannt. Seitdem tritt der Verein verstärkt auf europäischen Spielemessen wie der RPC auf, um neue Interessenten für ihre Events und Systeme zu gewinnen.

Ohne Spielleiter, ohne Würfel: Die Eigenkreationen der Dragon Legion

Auf der diesjährigen RPC in Köln bot die Dragon Legion mehrere Spielerunden an, in denen man ihr selbstentwickeltes System Runestones testen konnte. Andrus, einer der anwesenden Spielleiter, war aus seiner Heimat Lettland angereist, um ein englischsprachiges Abenteuer mit Bezug zur finnischen Mythologie zu präsentieren. Die Spieler verkörperten darin die Sami, Ureinwohner Lapplands. Jedem Charakter war eine Klasse zugeteilt, die den Berufen in einem mittelalterlichen Sami-Dorf entsprach: Jäger, Wächter, Heiler usw. Eine besondere Rolle spielte die Klasse der Noaidi – Schamanen, die mit den Göttern und Ahnen der Sami kommunizieren.

Die Mission der Spieler bestand darin, die Vorkommnisse in einem Nachbardorf zu untersuchen, wo mehrere Noaidi nach einem Ritual spurlos verschwunden waren. Die Spielmechanik von Runestones setzt dabei auf ein interessantes Element: Anstatt bei einer Attributsprobe zu würfeln, ziehen die Spieler blind verschiedenfarbige Glassteine aus einem Beutel. Jede Farbe repräsentiert einen eigenen Zahlenwert, sodass die Kombination aus mehreren Steinen eine zufällige Zahl ergibt. Auch sonst geben sich die Charakterzettel sehr einsteigerfreundlich und intuitiv. Die Spieler müssen nur wenige Attribute und Fertigkeiten im Blick behalten, der Fokus liegt auf kreativem Charakterspiel. Am Ende der messebedingt kurzen, zweistündigen Einführungsrunde hatten alle fünf Spieler nicht nur spielerisch die Grundzüge der Sami-Kultur kennengelernt, sondern auch neue Bekanntschaften geschlossen.

Die Weltkarte von Nesciamus
Die Weltkarte von Nesciamus

Ein weiteres Eigensystem des Vereins, das dieses Jahr bereits auf einer öffentlichen Veranstaltung präsentiert wurde, ist Nesciamus. Die fragliche Veranstaltung war nichts Geringeres als der evangelische Kirchentag in Berlin. Wie das kam? Die Dragon Legion wurde vom Jugendreferat des Kirchenkreises Aachen kontaktiert, da der Verein sich lokal einen Namen mit Jugendprojekten gemacht hatte. Im Rahmen des Lutherjahres 2017 interessierte sich die evangelische Kirche für die spielerische Auseinandersetzung mit dem Thema Reformation. Mit diesen Vorgaben und der finanziellen Förderung des Kirchenkreises ersann die Dragon Legion die Spielwelt von Nesciamus.

Trotz des Bezugs zur Reformation wählte das Designteam bewusst eine Fantasiewelt als Hintergrund, um im Sinne der Einsteigerfreundlichkeit keine historischen oder religiösen Kenntnisse voraussetzen zu müssen. Nesciamus ist auf einem Kontinent angesiedelt, welcher Europa während der Renaissance ähnelt. Diese Welt wird von realen Dämonen geplagt, die Unheil über die Länder bringen. Durch böse Taten der Menschen entstehen neue Dämonen, die zunehmend an Macht gewinnen. Die Hüter der Wahrheit, ein religiöser Kult, haben sich dem Schutz der Menschheit verpflichtet und legen ihren Anhängern strenge Verhaltensregeln auf, um dämonenfördernde Handlungen zu verhindern. Doch trotz immer schärferer Gesetze wächst die Bedrohung durch die Dämonen, und Forderungen nach Veränderung werden laut.

Das Besondere am System von Nesciamus ist, dass es sowohl mit als auch ohne Spielleiter gespielt werden kann. Die Handlung wird durch Szenenkarten erzählt, die die Situation darlegen, und die Spieler können mithilfe von Aktionskarten darauf reagieren. Nichtspielercharaktere werden abwechselnd von Spielern verkörpert, die allerdings dadurch keinen speziellen Vorteil gegenüber ihren Mitspielern haben. Auf diese Weise können auch Neulinge schnell einsteigen und kurze Spielrunden von einer bis zwei Stunden durchführen. Das System bietet aber auch die Möglichkeit, lange Runden und zusammenhängende Kampagnen zu entwerfen. Und man kann Nesciamus auch ganz klassisch mit Spielleiter spielen.

Nesciamus
Nesciamus

Eine der Kernideen bei der Entwicklung war, dass die Spieler historisch-religiöse Themen erleben, anstatt sie einfach nur zu lernen. Das Konzept kam bei der evangelischen Kirche so gut an, dass die Dragon Legion auf den diesjährigen Kirchentag in Berlin eingeladen wurde. Weißkopf und Pechuel schmunzelten bei der Frage, wie es sich anfühlte, ein Buch über Dämonen auf den Kirchentag mitzunehmen. Die beiden Vereinsvorsitzenden freuten sich, dass sie im Rahmen dieser Großveranstaltung dazu beitragen konnten, Rollenspiel gesellschaftlich zu etablieren. Dafür spricht auch die positive Berichterstattung der Kirche unter anderem in einem Presseartikel, der vier jugendliche Nesciamus-Spieler bei ihrem Abenteuer begleitet. Im Nachgang hatten die Designer so viele zusätzliche Ideen, dass die Förderung durch die Kirche nicht mehr ausreichte. Die Dragon Legion setzte daher im Juli ein Kickstarter-Projekt an, um 1000 Euro für die Weiterentwicklung zu gewinnen. Nach nur vier Wochen hatte der Verein fast 2400 Euro eingenommen, mit denen sie zusätzliche Regelbücher und Extras herstellen können. Das fertige Spiel soll Ende August verfügbar sein.

Das ambitionierteste Projekt der Dragon Legion ist Rune, trotz der Namensähnlichkeit unabhängig von Runestones. Dieses System baut das bereits erprobte Konzept einer „shared world“ aus und nimmt das Internet zu Hilfe. Die Idee ist, dass die Spielkampagne lebt und mit den Aktionen der Spielern wächst. Jede Aktion der Spielercharaktere verändert die Welt nachhaltig, so entsteht bei den Spielern ein Gefühl der Verantwortung sowie eine stärkere Identifikation mit der Spielwelt und ihren Bewohnern. Rune wird ganz klassisch mit sechsseitigen Würfeln gespielt. Auf einer Plattform können sich Spieler und Spielleiter mit einer Wiki über die Welt informieren, sich für Events anmelden, untereinander kommunizieren und den Spielfortschritt ihrer Gruppe bekanntgeben. Jedes Abenteuer ist Teil einer auf etwa zwei Jahre ausgelegten Kampagne. Diese verändert sich stetig durch jedes veröffentlichte Ergebnis der teilnehmenden Spielrunden. Wie bei Nesciamus auch ist die Spielwelt von Rune eine fiktionalisierte Version realer Kulturen, in diesem Fall der nordischen Mythologie.

Runestones auf der RPC2017
Runestones auf der RPC2017

Das noch nicht fertiggestellte Projekt soll unabhängig von einer Mitgliedschaft bei der Dragon Legion oder einer Teilnahme an Spielevents sein. Damit sollen möglichst viele Spieler erreicht werden. Auch die Kosten sollen möglichst niedrig gehalten werden. Die Regeln soll man kostenlos herunterladen oder als Buch kaufen können. Ein Großteil der Finanzierung von Rune kommt nach wie vor aus Jugendfördergeldern der Europäischen Union. Im Moment ist die Dragon Legion dabei, die Onlineplattform zu entwickeln. Sollte das Projekt die hoch gesteckten Ziele erreichen, wäre die Spielwelt von Rune dynamischer als jedes Computer-MMORPG.

Realität durch Fantasy begreifen

Die Förderung durch Institutionen wie der EU oder der evangelischen Kirche bekam die Dragon Legion nicht zuletzt durch ihre pädagogischen Konzepte. Die Grundannahme bei der Entwicklung ihrer Eigensysteme und Spielerunden war, dass Rollenspiele die Gruppe vor Problemsituationen stellt, die durch Diskussionen gelöst werden müssen. Dabei wird nicht nur der Teamgeist gestärkt, sondern auch die Individualität der einzelnen Mitglieder, die ihre Meinungen vor der Gruppe vertreten müssen. Durch die Verkörperung eines fiktiven Charakters kommt noch eine weitere Ebene hinzu, in der die Spieler eventuell Ansichten wiedergeben müssen, die dem eigenen Standpunkt widersprechen. Argumentationsfähigkeit und Selbstreflexion werden durch jeden einzelnen Abenteuerkonflikt geschult.

Camp in Griechenland
Camp in Griechenland

Da bei den Events Teilnehmer aus ganz Europa zugegen sind, trifft eine Vielzahl an kulturellen Hintergründen aufeinander, die die Diskussion beeinflussen. Dass die Spieler sich auf Englisch unterhalten müssen, fördert zudem Fremdsprachenkenntnisse und Ausdrucksfähigkeit. Eventuelle kulturelle Unterschiede der Spieler werden durch die fiktive Spielwelt angeglichen. Reale politische oder gesellschaftliche Probleme werden in der Fantasiewelt abstrahiert, Hemmungen über heikle Themen abgebaut. Sollte am Ende das Gruppenziel nicht erreicht werden, das Abenteuer sogar einen negativen Ausgang haben, ist dies auch eine Möglichkeit, aus Fehlern zu lernen. Die eigenen Handlungen zu reflektieren, um beim nächsten Mal bessere Entscheidungen zu treffen, ist eine wertvolle Fähigkeit, sowohl in-game als auch im realen Leben.

Didaktische Anleitungen für Lehrer oder Eltern hat die Dragon Legion allerdings noch nicht entwickelt. Zwar enthält das Grundregelwerk von Nesciamus einige Seiten mit Hinweisen für Lehrer, doch ein umfangreicheres Handbuch, davon sind Pechuel und Weißkopf überzeugt, würde zu viel Vorbereitungszeit kosten. Zudem sind sie der Ansicht, eine zu starke Ausrichtung auf Lernkonzepte würde vom Spielspaß ablenken. Allerdings hat der Verein wegen der Neuheit seiner Systeme bislang wenig Ergebnisse zu pädagogischen Erfolgen; dieses Thema will der Vorstand weiterverfolgen. Dafür bietet die Dragon Legion seit 2016 sogenannte Game Director Events an. Diese Veranstaltungen sind Workshops, in denen Spielleiter ihre Fähigkeiten trainieren und sich besser auf die vernetzten Abenteuer vorbereiten können. Die gemeinsame Vorbereitung von Abenteuern ist ein weiteres Angebot, das die Teilnehmer wahrnehmen können. Im September findet ein solcher Workshop in Island statt. Dort sollen die Spielleiter nicht nur erzählerische Talente ausleben können, sondern auch viel über nordische Mythologie lernen. Kurz darauf im Oktober führt die Dragon Legion im Rahmen der Spielemesse in Essen ein einwöchiges Rollenspielevent durch. Für beide Events kann man sich auf der Website anmelden.

Fazit

Die Dragon Legion hat innerhalb weniger Jahre ein umfangreiches Netzwerk innerhalb Europas aufgebaut und ambitionierte Zukunftspläne präsentiert. Ob diese Pläne unverändert umgesetzt werden können, wird sich noch zeigen. Die Mischung aus ehrenamtlicher Vereinsarbeit, öffentlicher Förderung und Crowdfunding könnte auf lange Sicht hin nicht ausreichen, je nachdem, wie erfolgreich die eigenen Spielsysteme werden. Die bisherigen Ergebnisse des Vereins, insbesondere die Anerkennung durch gesellschaftliche Institutionen, sprechen jedoch für sich.

Dass Tischrollenspiele als Lernmethode in Schulen und Jugendgruppen an Akzeptanz gewinnen, ist eine spannende, begrüßenswerte Entwicklung. Für den durchschnittlichen Rollenspieler jedoch werden die kommenden Veröffentlichungen von Nesciamus und Rune am interessantesten sein. Wir bleiben dran.

Artikelbilder: Dragon Legion

 

1 Kommentar

  1. Rein technisch halte ich es für einen Fehler, so früh auf eigene Systeme zu bestehen. Geld verdienen kann man auch durch Arbeit und Crowdfunding klappt auf ehrenamtlicher Ebene garantiert besser, wenn man erst mal reale Erfolge erarbeitet.

    So entsteht leicht der Eindruck, dass zumindest ein Teil der Führung nur gedachte, sich auf den EU-Fördergeldern auszuruhen.

    Trotzdem ist Jugendförderung genauso wichtig, wie das Kennenlernen von Leuten, die ganz anders leben durften oder mussten. Wir haben ja schon genug realitätsblinde Besserwisser in der BRD.

    Also viel Erfolg, Dragon Legion.

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