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Jedes Tischrollenspiel, das Würfel einsetzt, enthält bereits ein Zufallselement. Aber auch über reine Fertigkeitsproben hinaus können zufällig bestimmte Elemente in eine Geschichte eingebracht werden. Sind solche Zufälle das Salz in der Suppe oder hinterlassen sie einen faden Beigeschmack?

Wo gewürfelt wird, regiert der Zufall. Manchmal wird nicht gewürfelt, stattdessen werden Karten gezogen. Die Methoden gleichen sich aber: Früher oder später verlässt fast jedes Tischrollenspiel die Ebene des reinen Erzählens und überlasst bestimmte Entscheidungen dem Zufall. Der Vorgang folgt zwar einem Regelsystem, bleibt aber trotzdem ein Stück weit unvorhersehbar. In den meisten Regelwerken wird diese Art der Entscheidungsfindung immer dann gefordert, wenn ermittelt werden soll, ob ein Charakter eine bestimmte Aufgabe erfolgreich bewältigen kann.

Das nennt sich dann Fertigkeitsprobe oder Angriffswurf und es herrscht größtenteils Konsens darüber, dass ein Tischrollenspiel einen solchen Zufallsmechanismus braucht. Über die klassischen Würfelwürfe hinaus kann ein Spielleiter aber auch andere Elemente seiner Geschichte vom Zufall bestimmen lassen. Auch wenn der erste Impuls vieler Spielleiter eventuell darin besteht, diese Vorgehensweise abzulehnen, lohnt es sich, eingehender darüber nachzudenken. Der Zufall bietet Potenzial für unsere Abenteuer und Geschichten, wenn er richtig dosiert und genutzt wird. Anfänger und auch Fortgeschrittene unter der Spielleitern können Gewinn daraus ziehen, hin und wieder einfach zu würfeln und die eigene Erzählung der Richtung folgen zu lassen, die der Zufall diktiert.

Ein Abend in der neunten Welt

Das Thema Zufall begegnete mir, wie sollte es anders sein, ganz zufällig. Während ich eine Runde Numenera leitete, fiel mir auf, dass einer meiner Mitspieler immer wieder Würfelwürfe durchführte, ohne dass ich ihn dazu aufgefordert hatte. Darauf angesprochen antwortete er: „Ich würfle nur aus, ob mein Charakter bestimmte Sachen bemerkt, die beschrieben werden.“ Ich war erstmal irritiert und auch etwas verstimmt. Der Spielleiter in mir verlangte direkt, dass ein Spieler nur dann zu würfeln habe, wenn er von mir dazu aufgefordert würde. Glücklicherweise nahm ich Abstand davon, diese Gedanken auch auszusprechen und setzte die Runde einfach fort. Im Nachhinein dachte ich dann aber eingehender über diese Begebenheit nach. Der Spieler hatte sich offensichtlich einen größeren Anteil Zufallselemente im Verlauf der Handlung gewünscht. Mit seinen selbstauferlegten Proben hatte er sogar auf automatischen Erfolg verzichtet. Dieser sehr offene Umgang mit dem Zufallselement passte auch zum bespielten System.

Numenera bietet mit seinem Cypher-System die Möglichkeit, den Charakteren in regelmäßigen Abständen kleine Einweg-Gegenstände zukommen zu lassen. Diese lassen sich wunderbar aus ellenlangen Tabellen auswürfeln. An diesem Punkt der Überlegung wurde mir klar, dass unsere Spielrunde auch von mir als Spielleiter sehr viel zufälliger gestaltet wurde, als es für gewöhnlich meine Art ist. Da mir das Ergebnis gefiel, habe ich seitdem kontinuierlich immer wieder bewusst einzelne Elemente meiner Geschichten einem Würfelwurf überlassen. Grund dafür ist das große Inspirationspotential, das der Zufall bereithält.

“Darauf wäre ich nie gekommen.”- Ideen aus dem Zufall

Ein erfahrener Spielleiter nutzt jede Gelegenheit, um sich mit neuen Ideen für seine Geschichten zu versorgen. Nachdem der neueste Blockbuster im Kino lief, schreibt sich das entsprechend angelehnte Abenteuer fast wie von selbst. Ein Musikstück, das unter die Haut geht und im Kopf bleibt, kann Inspiration für eine Szene oder sogar eine ganze Geschichte sein.

Auf ähnliche Art kann ein Würfelwurf auf einer Zufallstabelle wirken. Einen Bestandteil der eigenen Geschichte zufällig zu generieren kann die Gedanken in eine Richtung lenken, die vorher überhaupt nicht als Option wahrgenommen wurde. Wenn dieser Effekt eintritt, muss man sich nur noch auf die Eingebung einlassen und kann mit den gewonnenen Ideen die eigene Geschichte bereichern.

Ein kurzer Ausflug in die Küchenpsychologie

Diese Form der Inspiration funktioniert, weil das menschliche Denken auf eine bestimmte Art und Weise abläuft. Menschen denken in Mustern. Unser Gehirn ist darauf trainiert, Zusammenhänge und Verknüpfungen herzustellen. Werden wir mit Sinneseindrücken und Information konfrontiert, versuchen wir unbewusst, diese mit unseren Erfahrungen und unserem Wissen in Einklang zu bringen. Deswegen sehen wir Schiffe und Schlösser, wenn wir lange genug in die Wolken schauen. Der Verstand sucht nach Anknüpfungspunkten, um alle Erfahrungen miteinander verbinden zu können.

Den Zufall an der eigenen Geschichte mitwirken zu lassen, fordert genau diese Art des Denkens heraus. Welches Element die Würfel auch immer hervorbringen, ein guter Spielleiter wird immer sofort darüber nachdenken, wie dieses Element bestmöglich in die Geschichte eingefügt werden kann. Wie im Improvisationstheater wird er auf die Eingebung des Zufalls im Idealfall mit einem „Ja“ reagieren, dann den Faden aufnehmen und weiterspinnen. Es hilft, sich den Zufall als Spieler zu denken. Jede Geschichte am Spieltisch wird durch die daran teilnehmenden Spieler mitbestimmt und jeder Spielleiter, der sein Handwerk versteht, sieht in dieser Beteiligung der Spieler eine willkommene  Bereicherung. Genau so muss auch das Zufallselement betrachtet werden, um seine Wirkung zu entfalten.

Es gibt keine absolute Kontrolle

Zufall bedeutet immer auch Kontrollverlust. So mancher Spielleiter, und hier nehme ich mich nicht aus, muss sich erstmal an den Gedanken gewöhnen, die dramaturgischen Zügel aus der Hand zu geben. Eine der Kernfunktionen eines SL besteht darin, den Rahmen der Geschichte vorzugeben, sozusagen die Grenzen abzustecken. Deshalb tut sich so mancher Spielleiter schwer damit, nicht immer alles unter Kontrolle zu haben, was innerhalb seines Abenteuers geschieht. Eine solche Denkweise wird unser aller Hobby aber nicht gerecht. Gerade die gemeinsame Gestaltung durch Spieler und Spielleiter macht den Reiz des Tischrollenspiels aus.

Es darf nicht darauf hinauslaufen, dass eine Person erzählt und alle anderen passiv daneben sitzen und berieselt werden. Spieler sollen sich beteiligen und Ideen einbringen, die Geschichte aktiv mitgestalten. Jedes Zufallselement wirkt wie ein Spieler an der Gestaltung der Geschichte mit und bietet dem Spielleiter die Möglichkeit, sich inspirieren zu lassen. Und sich auf den Kontrollverlust durch den Zufall einzulassen, kann sogar eine gute Übung für den Umgang mit den eigenen Spielern darstellen.

Wenn man es als Spielleiter also schafft, sich von einigen zufällig bestimmten Bestandteilen der eigenen Geschichte mitreißen zu lassen, dann läuft alles richtig. Das Werkzeug des Zufalls wird erfolgreich eingesetzt und kommt allen Personen am Spieltisch zugute. Wie bei allen Werkzeugen gelten aber auch hier ein paar Grundregeln zur Benutzung. Die im Folgenden aufgelisteten Handreichungen können den Einsatz von Zufallselementen erfolgreicher und, auch wenn es paradox klingt, berechenbarer machen.

1. Nichts von Bedeutung sollte dem Zufall überlassen werden

Eine eiserne Regel diverser Regelsysteme lautet: Der Erfolg der Spielercharaktere sollte niemals von einem einzelnen Würfelwurf abhängen. Aus dieser simplen Weisung leite ich die erste Regel für den Einsatz von Zufallselementen ab: Bedeutsame Herausforderungen, dramatische Schlüsselszenen und ikonische Momente der Charakterentwicklung sollten niemals dem Zufall überlassen werden. Das bedeutet im Umkehrschluss nicht, dass diese Elemente der Geschichte von jedwedem Zufall bereinigt sein müssen. Ein Endkampf, bei dem nicht gewürfelt wird, sondern der Triumph der Charaktere automatisch feststeht, ist mutmaßlich langweilig und deprimiert die Spieler. Aber auf der anderen Seite sollte auch nicht mittels Würfeltabelle bestimmt werden, welche Zauber der böse Magier gerade wirkt. Dadurch geht das dramatische Moment verloren, das diese Szenen zu etwas Besonderem macht.

Den Zufall kann der Spielleiter besser mit ins Boot holen, wenn es an die Randbereiche der Geschichte geht. Kleine Entscheidungen wie erbeutete Gegenstände oder die Haltung eines Nebenrollen-NSC gegenüber den Charakteren kann man auf jeden Fall dem Würfel überlassen. Manchmal reicht es sogar, etwas so Banales wie den Namen der Taverne auszuwürfeln, in der die Helden absteigen, um eine spontane Eingebung zu haben, die das Abenteuer bereichert.

2. Die Dosis macht das Gift

Vor einigen Jahren habe ich mit einigen Spielern ein spontanes Experiment gestartet. Wir hatten uns ohne konkrete Pläne getroffen und kamen im Verlauf des Abends zu der Entscheidung, eine Runde D&D 3.5 zu spielen. Der Clou dabei war, dass der Aufhänger des Abenteuers sowie sämtliche Begegnungen und Beute mit Tabellen aus dem Regelwerk ausgewürfelt wurden. Nach etwa 20 Minuten waren alle Charaktere von einer Schreckensfledermaus gefressen worden, wertvollste Beute war bis dahin ein meisterhaft gearbeitetes Vorhängeschloss, das einigen Elfen abgenommen wurde. Letzten Endes war es gut, dass der Tod der Charaktere das Spiel frühzeitig beendete, denn Spaß hatte sich nicht eingestellt.

Aus dieser Erfahrung leitet sich eine einfache Regel ab: Zu viel Zufall zerstört das Spiel. Wenn ein Großteil oder sogar alle Elemente der Geschichte willkürlich bestimmt werden, wird nur selten etwas erschaffen werden, das Begeisterung beim Konsumenten hervorruft. Andernfalls hätte längst jemand einen Mechanismus entwickelt, der auf Zufallsbasis Romane oder Drehbücher produziert.

Um Zufallselemente gewinnbringend einzusetzen, gilt es also, sie behutsam zu dosieren. Wenn zu Vieles ausgewürfelt wird, verliert die Geschichte an Dramatik und die Spielwelt an Glaubwürdigkeit.

3. Der Spielleiter ist kein Sklave des Würfels

Wie oben betont, ist es wichtig und richtig, als Spielleiter auch mal die Kontrolle abzugeben und sich durch Fremdeinflüsse inspirieren zu lassen. Dass darf aber nicht bedeuten, sich auf das Ergebnis eines Würfelwurfs festzunageln. Es gibt keine Garantie für gute Ideen aus dem Zufall. Manchmal ist das vom Zufall generierte Element einfach unpassend für die Geschichte. In solchen Fällen kann und sollte einfach ignoriert werden, was der Würfel aufgezeigt hat. Man wirft noch einmal oder bestimmt schlicht selbst.

Wichtig ist dabei aber: Ist die Entscheidung für ein Storyelement einmal getroffen worden, sollte man als Spielleiter dabei bleiben. Mangelnde Kontinuität führt zu unnötigen Diskussionen und stört die Immersion.

4. Zufall ist keine Ausrede für Faulheit oder mangelnde Motivation

Zufällig bestimmte Elemente sollten niemals eingesetzt werden, um den Aufwand beim Leiten einer Spielrunde zu verringern. Wenn es zur Last wird, Abenteuer zu entwerfen oder für die Spieler zu improvisieren, sollte man nicht zur Würfeltabelle greifen, sondern nach den Gründen für diese Problematik suchen. Der Posten des Spielleiters ist in den meisten Gruppen mit Mehraufwand verbunden. Viele Tischrollenspieler fühlen sich aus genau diesem Grund auf dem Stuhl des Spielers weitaus wohler. Diese Einstellung ist völlig in Ordnung.

Der leider immer wieder auftretende Fall, dass dem Spielleiter der Arbeits- und Zeitaufwand im Weg steht, ist deshalb immer ernst zu nehmen. Die Arbeit auf Würfelwürfe abzuwälzen stellt aber keine Lösung dar. Vielmehr empfiehlt es sich, das Gespräch mit den Mitspielern zu suchen und das Problem offen zu diskutieren.

Fazit

Dem Zufall eine größere Rolle am Spieltisch zuzugestehen ist mit Sicherheit kein Garant für bessere Geschichten. Trotzdem können zufällig bestimmte Elemente ein Abenteuer bereichern und für den Spielleiter ein Quell der Inspiration sein. Der Einsatz solcher Elemente erfordert Fingerspitzengefühl und sollte immer nur eine Ergänzung am Rande darstellen.

Dann aber lohnt es, als Spielleiter auch abseits der üblichen Proben einfach mal die Würfel entscheiden zu lassen. Im Idealfall hilft diese Form der Entscheidung sogar dabei, sich von der Illusion absoluter Kontrolle zu lösen.

Artikelbilder: depositphotos.com | JrCasas

 

1 Kommentar

  1. Aus meiner Erfahrung heraus kann man auch zentrale Handlungselemnte vom Zufall abhängig machen, solange sich aus einem möglichen Scheitern interessante Anschlüsse ergeben können. Beispielsweise könnte ein verlorener „Endkampf“ dazu führen, dass die Helden vor ihrem Gegner in einer dramatischen Verfolgungsjagd fliehen und eine spätere Revanche vorbereiten. Ein späterer Erfolg wirkt dann umso wertiger.

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