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Was wäre, wenn? Das durch Crowdfunding finanzierte Pulp-Rollenspiel Dime Adventures spielt im Jahr 1904, allerdings in einer Welt, in der die Geschichte anders – nämlich bedeutend cooler – verlaufen ist. Mit vier furchtlosen Spielern habe ich mich in die Paralleldimension gewagt und das System einmal angespielt.

Braucht die Welt wirklich ein weiteres Pulp-Action-Steampunk-Abenteuer-Rollenspiel? Die Macher von Dime Adventures fanden: ja, unbedingt. Und zwar so dringend, dass sie es auf sich nahmen, selbst eines zu schreiben und eine Kickstarter-Kampagne dafür ins Leben zu rufen. Herausgekommen ist ein System, in dem statt Würfel zu rollen Pokerkarten umgedreht werden, und ein Setting, in dem die Weltgeschichte ganz anders verlaufen ist. Inzwischen kann man das Machwerk als PDF oder Hardcover (oder auch in Kombination) über DriveThru-RPG beziehen.

Die Spielwelt

Irgendwie bekannt, aber doch ungewöhnlich: Arth 

Der Hintergrund, vor dem Dime Adventures spielt, ist die so genante Belle Époque, Anfang des 20. Jahrhunderts. Es ist eine Zeit des Aufbruchs und der Entdeckung: Die viktorianische Periode ging gerade zu Ende, die Verheerungen der kommenden Weltkriege sind noch unvorstellbar, die Welt wird mit Schienen, Telegrafen und anderen Transport- und Kommunikationstechnologien immer enger vernetzt, und die letzten „weißen Flecken auf der Landkarte“ harren ihrer Erforschung.

So weit, so ähnlich ist die Spielwelt der Realität und anderen Steampunk- Pulp- oder Mysterysettings. Doch auf „Arth“, wie der Autor seine alternative Erde getauft hat, ist die Geschichte anders verlaufen als bei uns: Zwar umspannt auch hier das britische Empire unter Regierung von Edward VII. ein Viertel des Globus, doch sein größter Konkurrent ist nicht Frankreich oder Spanien, sondern das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, das ebenfalls ein weltweites Kolonialreich beherrscht. Von Kambodscha aus kontrolliert das neue Khmer-Reich ganz Südostasien mit Hilfe seiner überlegenen Luftschiffflotte. China unterhält Kolonien in Afrika, Australien und an der amerikanischen Westküste. In Nordamerika haben sich die konföderierten Südstaaten nach dem Bürgerkrieg unabhängig erklärt und die Stämme der amerikanischen Ureinwohner haben es geschafft, den Vormarsch der Weißen am Mississippi aufzuhalten.

Auch viele andere indigene Kulturen, die im zwanzigsten Jahrhundert unserer Welt längst den europäischen Eroberern zum Opfer gefallen waren, sind in Arth noch durchaus präsent und teilweise auf der Höhe ihrer Macht, wie etwa die Reiche der Parther, Inka und Azteken.

Die finsteren Geheimnisse des Dschungels
Die finsteren Geheimnisse des Dschungels

Über- und Außerirdisches

Dies sind nur einige Beispiele für die politische Weltkarte der Parallelwelt von Dime Adventures, die tatsächlich den ganzen Globus berücksichtigt. Statt allerdings unzählige Buchseiten darauf zu verschwenden, historisch wasserdichte Erklärungen für diese Umstände zu liefern, beruft sich der Autor auf „the rule of cool“: Die Frage, ob eine historische Entwicklung realistisch oder auch nur hypothetisch möglich ist, ist ihm bei Weitem nicht so wichtig wie die, ob sie Spaß bringt! Einschränkungen eines Charakters aus Gründen von Geschlecht, Herkunft, Hautfarbe oder Sexualität, wie sie in „realistischeren“ Settings vorkommen, sind hier ebenfalls ausdrücklich nicht vorgesehen.

Stattdessen bestehen völlige Freiheit für Charakterkonzepte und schier unendliche Möglichkeiten für Romantik, Heldentum und Abenteuer. Übertriebener Realismus ist sowieso fehl am Platze. Das Setting bietet nämlich nicht nur eine alternative Weltgeschichte, sondern auch paranormale Phänomene aller Art: Mit Magie, Wahrsagerei und Schamanismus können die Spieler es zu tun bekommen, mit Außerirdischen, aber auch mit Vampiren, Werwölfen oder gar Engeln. Seltsame Erfindungen und mystische Artefakte gilt es entweder zu entdecken oder unschädlich zu machen. Dinosaurier, Bigfoots und andere seltsame Kreaturen tummeln sich in den Tiefen der Dschungel und unterirdischen Kavernen der Alternativerde.

Und hohl ist die natürlich sowieso. Alles in allem ist die Spielwelt von Dime Adventures äußerst schrullig. Dafür ist sie aber von Anfang an liebevoll ausgearbeitet. Das Grundregelwerk enthält eine alternativhistorische Zeitleiste sowie Kurzbeschreibungen zu sämtlichen Ländern, sortiert nach Kontinenten und aufgepeppt mit allerlei kleinen Plotaufhängern.

Die Regeln

Karten statt Würfel 

Die Regeln in Dime Adventures basieren auf Saga Machine, einem System, das Autor Thorin Tabor und sein Verlag Tab Creations für mehrere ihrer Rollenspielsysteme selbst entwickelt haben. Statt Würfeln verwendet Saga Machine Spielkarten, was wahrscheinlich der gewöhnungsbedürftigste Teil des Systems ist.

Benötigt wird ein Standard 52-Karten-Pokerset pro anwesender Person inklusive Spielleiter. Bei einer Probe addiert sich der Wert der Karte, die ein Spieler ausspielt, zum Fähigkeitswert seines Charakters und wird dann mit der vom Spielleiter festgelegten Schwierigkeitsstufe festgelegt. Die Werte der Karten entsprechen dabei der aufgedruckten Zahl, Ass entspricht der 1, Bube, Dame und König jeweils 1, 2 und 3. Im Falle der drei Letztgenannten darf der Spieler zusätzlich eine Karte blind vom Stapel aufdecken und die Werte addieren.

Zu Anfang der Spielsession hat jeder Spieler fünf Karten auf der Hand (außer, wenn der Charakter durch gewählte Vor- oder Nachteile mehr oder weniger bekommt), die er im Laufe des Abends ausspielt. Spieler, die keine Karten mehr auf der Hand haben, decken bei jeder Probe blind vom Stapel auf. Beim ersten Testspiel haben sich meine vier Spieler recht schnell an dieses System gewöhnt. Wer Würfelsysteme kennt, bei denen eine Schwelle erreicht werden muss, wird nicht allzusehr unter der Umstellung auf Spielkarten leiden.

Ein erwähnenswerter Sonderfall ist der Joker: Dieser ersetzt den in vielen Würfelsystemen bekannten Patzer und führt zu einem dramatischen Misserfolg. Als kleine Wiedergutmachung darf der Pechvogel, der ihn aufgedeckt hat, aber fünf neue Karten ziehen.

UFOs über Kornfeldern
UFOs über Kornfeldern

Aktionen und Konsequenzen

Nach einer Probe kann der Spielleiter, je nachdem ob und um wie viel die Schwelle übertroffen oder verfehlt wurde, den jeweiligen Spieler oder die ganze Gruppe mit so genannten Konsequenzen belegen: Das kann je nach Situation ein Bonus oder Malus auf bestimmte Aktionen sein, etwa, weil der Charakter nach einem Kampf verletzt ist oder sich durch eine erfolgreiche Charisma-Probe bei einem NSC beliebt gemacht hat, aber auch Informationen, Zugang zu bestimmten sozialen Kreisen und alle anderen möglichen Folgen einer Spieleraktion.

Wie lang eine solche Konsequenz hält und wie schwerwiegend sie ist, hängt davon ab, wie weit die durch den addierten Fähigkeits- und Kartenwert erreichte Zahl von der Schwierigkeitsstufe der Probe abweicht. Das Regelwerk hat hierfür eine praktische Tabelle, die hilft, das Spiel im Fluss zu halten. Bei Kämpfen allerdings werden Erfolge, die über den Verteidigungswert des Gegners hinausgehen, direkt von dessen Trefferpunkten abgezogen.

Dabei gilt außerdem: Ein Treffer ist immer ein Treffer, Rüstungen und Ähnliches helfen nur als Schadensreduktion, nie aber, um den Schaden ganz zu negieren. Ein angenehmes Detail des Systems, da es hilft, Kämpfe nicht bis in die Unendlichkeit auszudehnen.

Charaktererschaffung

Die Charaktererschaffung im Saga Machine-System verhält sich angenehm einfach. Jeder Charakter hat acht Attribute (Stats). Die Stats teilen sich in jeweils vier körperliche (Stärke, Geschick, Schnelligkeit und Ausdauer) und vier mentale (Intelligenz, Wahrnehmung, Charisma, Entschlossenheit). Die Spieler bekommen Werte, die sie auf diese acht verteilen können, sowie auf die 22 verschiedenen Fertigkeiten.

Jaguarmenschen auf der Jagd
Jaguarmenschen auf der Jagd

Zudem ist je zwei der Stats eine Trumpffarbe zugeordnet. Wenn die Karte, die bei einer Probe gespielt wird, zum Trumpf des dazugehörigen Attributs passt, darf der Spieler eine weitere Karte aufdecken – ist diese ebenfalls Trumpf, kann er das Ergebnis zusammenzählen, ist sie es nicht, darf er immerhin wählen, welche er nimmt. Zocker dürften Spaß an diesem System haben.

Der so genannte Hintergrund, den ein Spieler wählt – also so etwas Ähnliches wie Klasse oder Beruf – bringt dem Charakter dann noch Boni auf manche Stats und Fertigkeiten, und das ist es im Wesentlichen auch schon. Nach einer kurzen Einführung in die Spielwelt kamen meine Spieler schon sehr gut damit klar, sich nach diesem System eigene Charaktere zu bauen.

Eher nervig bei der Erschaffung war allerdings, dass die Erklärung etwa mancher Fertigkeiten im Spiel an einer ganz anderen Stelle des Regelwerkes zu finden waren, und deswegen ständig hin- und hergeblättert werden musste. Insgesamt wirkt der Aufbau des Regelwerks recht chaotisch und nicht besonders gut durchdacht, da die Kampfregeln erklärt werden, bevor die Leser wissen, wie die Charaktererschaffung funktioniert. Zwar gibt es im Einführungskapitel der Kampfregeln einen kurzen Abriss über Stats, Fertigkeiten und Trumpffarben, aber diese Dopplung ist doch eher befremdlich als hilfreich. Dieser Umstand ist umso trauriger, da das System großes Potenzial für spontane One-Shots und Runden mit neuen Spielern hätte, wenn das Regelwerk nur einem nachvollziehbaren roten Faden folgen würde.

Erscheinungsbild

Artwork und generelle Aufmachung des Regelwerks passen durchgehend gut zu einem historischen Setting, das Abenteuer, Entdeckertum und Begegnungen der mysteriösen Art verspricht. Der Haupttext steht auf bräunlich-beigem Hintergrund, Zusatzinformationen in dunkelbraunen Kästen, die zerknittertes Pergament darstellen sollen. Dazwischen lockern immer wieder farbige Illustrationen das Gesamtbild auf. Diese sind nicht nur wunderschön, sondern zeigen auch die abenteuerliche Welt von Arth, seien es überwucherte Tempel im Dschungel, fliegende Untertassen über der amerikanischen Prärie oder Zombiehorden in Afrika.

Das Buch ist dabei keineswegs überladen mit Illustrationen. In den Kapiteln, wo die Regeln behandelt werden, kommen sie kaum vor. Im Kapitel zur Charaktererschaffung dominieren Personen die Bebilderung, in der Beschreibung der Welt Landschafts- und Stadtansichten. Allgemein geben die Illustrationen dem Leser gerade genug Information, um als visuelle Inspirationsquelle zu dienen und lenken nicht zu sehr vom Inhalt ab.

Die übrige grafische Gestaltung ist gut lesbar, wo nötig sind Tabellen eingefügt. Der Charakterbogen zum Ausdrucken ist zwar hübsch gestaltet, was aber leider der Übersichtlichkeit nicht gerade hilft. Insbesondere für diejenigen unter uns, die sich nicht im Besitz eines Farbdruckers befinden, wird der Ausdruck des Bogens schnell sehr dunkel und verschwendet Toner.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Tab Creations
  • Autor: Thorin Tabor
  • Erscheinungsjahr: 2017
  • Sprache: Englisch
  • Format: PDF, Print
  • Seitenanzahl: 265
  • ISBN: kein deutsches Produkt
  • Preis: USD 14,99 (PDF), USD 34,99 (Hardcover), USD 36.99 (PDF und Hardcover Kombi)
  • Bezugsquelle: DriveThruRPG

 

Fazit

Schönes Setting, aber chaotisch geschrieben

Nach Lektüre der Regeln und einem ersten kurzen Testspiel lautet das Urteil: Spielbar und spaßig, aber nicht gerade benutzerfreundlich. Hauptproblem ist dabei der chaotische Aufbau des Regelbuches: Manche Regeln werden zunächst nur kurz angerissen und mit einem Querverweis auf eine spätere Seite versehen, was für Verwirrung sorgt. Andere verstecken sich in Seitenkästen und kommen im Haupttext gar nicht erst vor. Der Abschnitt über die Kampfregeln steht im Text vor dem über die Charaktererschaffung, was zu Dopplungen und unnötigem Blättern und Suchen führt.

Wer die Konzentration aufbringt, alle Regeln zu lesen und zu verstehen, wird allerdings mit einem im Ersteindruck recht gut ausbalancierten Spielsystem belohnt. Nach einer ersten Gewöhnungsphase dürfte es auch niemanden mehr stören, Spielkarten umzudrehen statt zu würfeln. Für begeisterte Pokerspieler mag das sogar ein Bonus sein.

Das Setting selbst ist Geschmackssache: Ein bisschen Steampunk, ein bisschen Fantasy, ein bisschen Science-Fiction, ein bisschen Pulp, und das alles in einer Welt, die der unseren ähnlich, aber eben doch nicht zu ähnlich ist.

Wer das mag, den können die detailreiche Spielwelt und die ästhetische Gestaltung des Buches sicher teilweise für die frustrierende Unübersichtlichkeit des Regelwerks entschädigen. Dennoch kann man nur schwer darüber hinwegsehen, dass dieses eine gründliche Überarbeitung vor der Drucklegung nötig gehabt hätte. Wirklich uneingeschränkt zu empfehlen ist Dime Adventures daher nur für große Fans von Pulp- und Alternativweltgeschichte-Settings, die gern Karten spielen und zudem äußerst geduldige Leser sind.

Artikelbild: Tab Creations
Dieses Produkt wurde kostenlos als PDF zur Verfügung gestellt.

 

1 Kommentar

  1. Danke für den Artikel!
    Mir erscheint das Spiel zu überladen, um mich zu interessieren. Ich mag es da lieber etwas dezenter wie etwa HEX oder Castle Falkenstein (die beide auch nicht sonderlich dezent daherkommen).

    Und dass das Regelwerk nicht benutzerfreundlich ist… schade.
    Ich mag kartenbasierte Systeme.

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