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LARPer reden gerne von blutigen Schlachten, von Fabelwesen und von dunklen Mächten, gegen die es zu kämpfen gilt. Nicht jedem gefällt diese Fixierung auf das Nicht-Reale. Dabei sind LARPer unwissentlich Kulturbewahrer – denn das Erzählen von Abenteuern hat eine lange, wertvolle Tradition.

„Treffen sich zwei LARPer – einer hat nichts zu erzählen.“ So oder ähnlich könnte ein Flachwitz lauten, der zumindest in den meisten LARP-Kreisen ein kurzes Schmunzeln hervorrufen würde. Denn wo sich Rollenspieler und vor allem LARPer im echten Leben begegnen, ist die Konversation früher oder später mit Anekdoten aus den verschiedenen Cons und Spielkampagnen gefüllt, die deren Helden im Laufe ihrer Reisen erlebt haben. Das ist unterhaltsam und gleichzeitig informativ, da es zur Vernetzung der LARP-Welt untereinander beiträgt, indem zum Beispiel auf interessante Cons oder neue Spielansätze aufmerksam gemacht werden kann. Darüber hinaus aber partizipieren LARPer an einem Kulturprinzip, das lange vor unseren heutigen digitalen Mitteln zur Vernetzung der Welt beitrug, und bewahren es somit auf ihre Weise: Das Prinzip Âventiure.

Âventiure – was ist das?

Âventiure, gesprochen „Aventüre“, ist ein Wort aus dem Mittelhochdeutschen, das sich aus dem lateinischen adventura, „es wird geschehen“, ableitet. Damit wird ein oftmals gefährliches, im wahrsten Sinne des Wortes abenteuerliches Ereignis benannt, das nicht nur von einem zufälligen Schicksal abhängt, sondern dessen Geschehen einem größeren Sinnzusammenhang dient. Nur einer Person wird genau dieses Ereignis widerfahren und für sie wird es zu einer von göttlicher Fügung geleiteten Bewährungsprobe, an der sie wächst. Seine Entsprechung findet das Wort im altfranzösischen avanture. Durch verschiedene Phasen der Lautverschiebung wandelte sich Âventiure im Neuhochdeutschen zu Abenteuer, doch vor allem in der dichterischen Hochsprache findet die ältere Version Aventüre noch Verwendung.

Literatur

In der mittelalterlichen Erzähltradition vor allem rund um die Erlebnisse der berühmten Tafelrunde des Königs Artus nimmt die Âventiure einen zentralen Platz als Handlungsschema ein. Im Idealfall zieht ein Ritter oder ein Mann, der sich als Ritter erst noch beweisen muss, aus auf eine Heldenreise, begegnet vielen phantastischen Dingen, kämpft gegen das Unrecht und entwickelt sich dabei selbst zu einem Vorbild. Was er erlebt hat, trägt er danach an den Artushof zurück. So wird aus erlebter Geschichte erzählte Geschichte. Diese Erzählungen helfen dem Artushof, sich selbst in der Welt zu positionieren und den moralischen Kompass des arturischen Ideals von Ehrhaftigkeit, Lauterkeit und Besonnenheit weiter zu justieren. Nicht zuletzt steigt durch das Weitertragen des Erlebten und die Rückbindung an den Artushof dessen Ansehen als ordnungsbringendes Kollektiv und Zentrum der Kultur, das sich von der ‚wilden Außenwelt‘ abhebt. Oftmals sind die Geschichten auch Impulse für ein erneutes Ausziehen der Ritter, um eine schmachvolle Niederlage zu rächen, oder eine Inspiration für abenteuerlustige Recken, die sich auf den Weg machen, um selbst zu versuchen, was einem anderen Ritter nicht gelungen ist.

Dieses Ideal wird aber bereits in der Blütezeit dieser Literaturform durch Abweichungen von der selbst gesetzten Norm konterkariert. Entweder gefallen sich die Ritter zu sehr in der Ruhephase am Hof, bis es keine Geschichten mehr zu erzählen gibt und der Hof in Lethargie und Trauer versinkt, oder das Abenteuer wird zum Selbstzweck, der letztlich nur das Ego des Ritters stärken soll. Es geht nicht mehr darum, das Ideal des kulturellen Zentrums Artushof nach außen zu tragen, oder den Bedrängten beizustehen, sondern einzig und allein darum, durch Kämpfe zu Ruhm zu gelangen. So antwortet ein Artusritter einmal auf die naiv gestellte Frage eines im Wald lebenden Menschen, was denn eine Âventiure sei: „Man nennt mich Ritter und mir steht der Sinn danach, suchend herumzureiten bis ich einen Mann finde, der so gerüstet ist wie ich und mit mir kämpft. Wenn er gewinnt, erhöht das seinen Ruhm, gewinne aber ich, so steigt mein Ansehen.“

Die Dekonstruktion des sich selbst inspirieren Lassens durch die Erzählung von sagenhaften Abenteuergeschichten wird stellenweise sogar derart vorangetrieben, dass Artus sich an den Erzählungen nicht interessiert zeigt und sich zum Schlafen zurückzieht.

Bei aller Variation bleibt das Prinzip Âventiure jedoch ein zentrales Merkmal jener Heldenreisen, die den Plots im LARP so ähnlich sind, die aber in der realen Welt immer weniger eine Rolle spielen.

Reale Geschichte

In Zeiten von Google, Wikipedia und Fernseh-Dokumentationen ist es ein Leichtes, sich über fremde Kulturen oder Zustände in fernen Ländern zu informieren, ohne das Haus zu verlassen. Man muss nicht selbst dort gewesen sein, um zu wissen, wie die Niagara-Fälle aussehen, oder welche religiösen Bräuche in einer bestimmten Gemeinschaft vorherrschen. Zuvor konnte nur eine direkte Reise dieses Wissensgefälle zwischen unterschiedlichen Orten ändern, oder die persönliche Kenntnis einer Person, die fort gewesen war. Der Austausch von Geschichten zurückkehrender Reisender war ein zentrales Mittel der Kommunikation. Nicht umsonst bedeutet der mittelhochdeutsche Begriff mære zugleich Geschichte und Neuigkeit. Wer erzählte, der aktualisierte das Wissen der Umstehenden und die Grenzen zwischen realem und fantastischem Geschehen waren oft fließend. Das Zusammenwirken von Erzählung und mitgebrachten Gegenständen förderten insbesondere zwischen Orient und Okzident den Fortschritt und das Umdenken auf vielen Gebieten, auch wenn die Motivation zur Reise – siehe Kreuzzüge – häufig nicht positiv war.

Was die Reisenden berichteten, half das eigene Denken und Handeln in Bezug zu setzen und erweiterte gleichzeitig den Horizont desjenigen, der in seinen engeren Kreisen zurückgeblieben war.

Reisen in der realen Welt haben heute wenig mit den Reisen damaliger Zeit zu tun. Hauptsächlich steht Erholung auf dem Programm oder das Austesten eigener Grenzen im sportlichen Rahmen. Exotische Reiseziele locken natürlich noch immer, und man erzählt den Lieben daheim gerne von den Kulturschocks, denen man sich ausgesetzt sah, aber der Kontakt ist auch aufgrund der Kürze und der minimierten Gefahr häufig nicht intensiv genug, um nachdrücklich zu sein und das eigene Weltbild nachhaltig zu verändern.

LARPer als Âventiure-Ritter

LARP Cons haben häufig eine Struktur, welche der von mittelalterlichen literarischen Heldenreisen sehr ähnlich ist: Es droht eine Gefahr an einem für den Charakter meist fremden Ort. Er reist an und findet eine Situation vor, in der er sich erst zurechtfinden muss; daneben trifft er auf Wesen mit anderen Überzeugungen oder für ihn fremdem Aussehen, mit denen er sich entweder arrangieren muss, weil ein gemeinsamer Feind vorhanden ist, oder die er mit Gleichgesinnten bekämpft. Auch wenn viele unterschiedliche Charaktere zusammenkommen, so erlebt doch jeder für sich seine ganz eigene, persönliche Âventiure. Vielleicht werden sich der Weg, den er gegangen ist, die Verletzungen, die er erhielt oder die Entscheidungen, die er treffen musste, später als für ihn schicksalshaft herausstellen – somit wäre auch der Aspekt der göttlichen Vorsehung erfüllt.

Aber damit erschöpfen sich die Parallelen nicht. Denn die Erlebnisse auf LARP Cons sind für die Charaktere – und häufig auch für die Spieler – solche existenziellen Grenzerfahrungen, dass sie sich nicht damit begnügen, diese Erlebnisse nur still für sich zu behalten. Sie wollen von ihren Abenteuern erzählen, sie in Bezug zu dem setzen, was Anderen widerfahren ist, und die Welt dadurch noch ein wenig tiefer gestalten.

Daher werden, um auf den Spruch zu Beginn zurückzukommen, LARPer immer etwas zu erzählen haben. IT bewegen sie sich damit mitten in der Traditionslinie einer Zeit der Mythen und Legenden, die von fantastischen und heroischen Elementen lebt. Es entsteht zwischen den Charakteren eine Art Erlebnisgemeinschaft, die Bande knüpft für weitere Zusammentreffen. Nur wer Ähnliches erlebt hat, so der Gedanke, wird den anderen Charakter wirklich tief verstehen; nur wer erzählen kann, was er gelernt hat und vom Wissen der anderen erfährt, wird sich einer gemeinsamen moralischen Basis versichern können, auf die aufgebaut werden kann. Natürlich mag es jene geben, die einfach nur gerne mit den Heldentaten prahlen, die sie vollbracht haben, aber jene fallen dann auch eher in die Sparte der Glücksritter, die die Âventiure als Selbstzweck sehen, um ihren eigenen Ruhm zu mehren, wie der obengenannte Artusritter in seiner Aussage.

Wenn LARPer allerdings OT über ihre Erlebnisse reden, ist das nicht nur aufgrund der häufig sehr martialischen Sprache und der surrealen Begebenheiten ein anachronistischer Akt. Im realen Leben ist die Werteversicherung durch Erzählen immer mehr in den Hintergrund gerückt, da entweder, wenn Geschichten erzählt werden, es sich um rein fiktionale Geschichten ohne persönlichen Bezug handelt, oder die Begebenheiten nicht in das Schema einer Âventiure passen.

In derselben Weise, wie LARPer alternative Möglichkeiten des Handelns und Lebens durch ihre langfristig gespielten Rollen wachhalten, mit allen sich daraus für die Charaktere ergebenden Konsequenzen, halten sie auch eine Kultur am Leben, die in Zeiten der Individualisierung immer mehr verloren geht: Die gemeinschaftliche Partizipation an Wissen, das sich aus Erlebtem speist und somit einerseits die erlebte Welt durch neue Impulse bereichert und differenziert, andererseits die Gruppe um den Erzählenden selbst in Bezug zu dieser variantenreichen Welt setzt.

LARPer erkennen sich gegenseitig an ihren Geschichten als eine Gemeinschaft, die sich noch erlaubt, aus nicht realen Dingen Lehren fürs Leben zu ziehen und Situationen durchzuspielen, die sie anderweitig aufgrund ihrer Position im Leben niemals erleben würden.

Man mag in der Öffentlichkeit manches Mal die Stimme senken, um die Umgebung nicht mit Erzählungen von schamanistischen Ritualen, Angriffen gegen das Chaos oder schweren Schwertverletzungen zu schockieren, aber zurückhalten sollte man sich nicht. Denn so wie die Erzählungen der Ritter die Freude des Artushofes mehren und sein Ansehen steigern, so funktioniert es auch in der realen Welt: Die Berichte von fantastischen Welten, epischen Momenten und Kämpfen gegen das Unrecht haben auch dazu beigetragen, dass LARP sich in den letzten Jahren von einem belächelten Nischen-Hobby zu einem immer beliebter werdenden Zeitvertreib gewandelt hat.

Artikelbild: ©Codex Manesse – Universität Heidelberg

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