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Hat sich nicht jeder einmal gefragt, was wäre, wenn die Träume der Kindheit Wahrheit wären? Was wäre, wenn all die Träume und Vorstellungen irgendwo einen echten Widerhall gefunden hätten? Nest nimmt seine Spieler mit auf die Reise in eine solche Traumwelt. Ob das gelungen ist, erfahrt ihr in unserem Ersteindruck.

Das Motiv des kindlichen Helden ist ein gängiger Topos in der Kinder- und Jugendbuchliteratur. Ob man nun Alice im Wunderland, Peter Pan, Die Träume des Jonathan Jabbok oder Die unendliche Geschichte nimmt, jede dieser Geschichten stellt die Frage, was wäre, wenn Träume real wären. Was wäre, wenn kindliche Helden mit Mut, Kraft und dem Willen, das Richtige zu tun, das Schicksal der Welt entscheiden könnten? In David S. Goodwins Fate-Abenteuerwelt Nest, die der Uhrwerk Verlag kürzlich ins Deutsche übersetzt hat, geht es darum, solche Geschichten an den Spieltisch zu bringen.

Allerdings mit dem Twist, dass die Charaktere zu Beginn des Spiels ihre Karrieren als kindliche Helden bereits hinter sich haben und ein mehr oder weniger langweiliges Erwachsenenleben führen. Nun aber werden sie für eine Aufgabe von großer Wichtigkeit zurück in die Traumwelt ihrer Kindheit gebracht. Die Königreiche von Nest leiden unter der Knechtschaft eines großen Übels, und die Helden von damals sind die einzige Hoffnung, um Nest vor dem Untergang zu retten. Also müssen sich Buchhalter, Ärzte und Schlosser an ihre Kindheit erinnern und wieder zu mutigen Rittern, cleveren Erfindern oder listigen Piraten werden. Das Ganze ist auch bitter notwendig, denn der Rückweg in die wache Welt ist den Helden zu Beginn versperrt.

Die Spielwelt

Zusammenfassung

Die Welt von Nest ist in verschiedene Regionen unterteilt, die in sich jeweils ein bestimmtes Thema haben. An erster Stelle zu nennen ist Epos. Ein Königreich voller Ritter, dunkler Wälder, verwunschener Lichtungen und Monster jeder Couleur. Hier sollen die kindlichen Helden lernen, auf sich und ihren Mut zu vertrauen, um Gefahren zu überwinden. Am ehesten kann man sich hier ein typisch mittelalterliches Setting vorstellen, wie es einem schon in vielen Kinder- und Fantasybüchern untergekommen ist.

Dann ist da Schludrian. Ein Reich, in dem jeden Tag neue Erfindungen gemacht werden und in der riesige Maschinen den Stromhunger der Bevölkerung stillen. Schludrian ist bevölkert von anthropomorphen Tieren, die ständig dabei sind, neue technische Geräte zu entwickeln, zu testen und zu überarbeiten. Kindliche Helden können hierher kommen, um zu lernen, dass sie auf ihre Erfindungsgabe und Kreativität bauen müssen, wenn sie ein Problem lösen wollen. Man sieht hier eindeutig die Genreeinflüsse des Steampunks in dieser Welt.

Zuletzt gibt es noch Mysterium. Der Name spricht schon für sich selbst. In diesem Teil von Nest dreht sich alles um Geheimnisse und Rätsel. Mysterium ist um eine große Akademie herum positioniert, in der die Magier und Philosophen des Reiches ausgebildet werden. Hogwarts und andere (Zauber-)Internate lassen hier grüßen.

Neben diesen drei Reichen gibt es noch einen zentralen Nexus namens Eg, in dem der Rat von Eg über die Geschicke aller Bewohner von Nest wacht, Konflikte zwischen den Königreichen schlichtet und insgesamt darauf achtet, dass es jedem Bewohner von Nest gut geht.

Man kann also schon direkt sehen, dass die Reiche sich allesamt an bestimmte Topoi der Kinderbuch-Fantasy anlehnen und beim Leser Assoziationen zur eigenen Lesevergangenheit wecken wollen. Dieses Vorgehen ist ja inzwischen bei den Fate-Abenteuerwelten bereits erfolgreich eingesetzt worden und funktioniert auch hier sehr gut. Durch die Kürze des Buches (80 Seiten in diesem Fall) muss der Autor auch bewusst mit Assoziationen spielen, da der Platz nicht ausreichen würde, um ein komplett neues Setting zu entwerfen.

Märchenhaftes Denken und die Besonderheit der Reiche

Das Besondere an den Königreichen von Nest ist nicht nur, dass sie alle ihren Vorbildern aus Kinderbüchern, Märchen etc. ähneln, sondern dass sie auch nach den speziellen Regeln dieser Geschichten funktionieren. Bewohner von Mysterium folgen zum Beispiel alle einem Rätsel, so dass sie immer die Wahrheit sagen müssen, immer lügen oder einem anderen Kodex unterworfen sind. Auch erinnern sich alle Bewohner an die kindlichen Helden und akzeptieren ihre Anwesenheit, ohne weitere Fragen zu stellen. In Kinderbüchern ist das ja oft ähnlich, so dass hier bewusst mit diesem Stilmittel gearbeitet wird.

Das Setting setzt hier also – wie viele Fate-Publikationen – bewusst darauf, einen bestimmten Genrestil zu emulieren, was auch auf sehr charmante Art und Weise gelingt. Beim Lesen der Texte stellen sich sofort Erinnerungen an die Bücher oder Filme der eigenen Kindheit ein, so dass man eine gute Grundlage für Ausschmückungen und Improvisationen am Spieltisch hat. Dass die einzelnen Reiche dabei oft etwas scherenschnittartig wirken (vor allem Epos), tut dem Effekt keinen Abbruch. Da Nest wohl am ehesten als eine geteilte Traumwelt beschrieben werden kann, macht es im Gegenteil sogar Sinn, dass die benutzten Beschreibungen mit Klischees spielen, denn irgendwie müssen diese ja entstanden sein. Warum also nicht aus den Erinnerungen an die magischen Traumreiche der Kindheit?

Der Meister von Eg und die Umrisse einer Kampagne

Nun wäre dieses ganze Setting ja an sich ein schöner Nostalgietrip, der aber wenig konkrete Abenteueraufhänger böte, wenn da nicht noch ein zentraler Konflikt wäre. Das ist natürlich hier auch der Fall. Die erwachsenen Charaktere werden nicht ohne Grund zurück nach Nest gerufen. Die Königreiche befinden sich in großer Gefahr, da ein Feind sie entweder unterwandert, besetzt oder infiltriert hat. Dieser Feind hat die Übertrittspunkte zwischen der realen Welt und Nest erobert, so dass keine kindlichen Helden mehr den Weg nach Nest finden, weswegen nun die größten Helden der Geschichte durch den letzten noch offenen Punkt gerufen werden, um die Reiche vor ihrer größten Herausforderung zu retten.

Besagte Helden sind selbstverständlich die Spielercharaktere. Auf sie kommt es nun an, sich dem Meister von Eg und seinen Scharen von Krähen, Kofferteufeln und anderen gemeinen Unterlingen zu stellen. Diese Schergen des Feindes sind aber nicht die einzige Herausforderung, die auf die Helden von Nest wartet. Kollaborateure, Oger, Werwölfe und andere Gestalten bevölkern die Reiche und machen es den Helden nicht gerade leicht, das Geheimnis des Meisters von Eg zu ergründen und die Reiche von Nest zu beschützen.

Das Buch geht dabei so vor, dass es die Präsenz des Feindes in den unterschiedlichen Reichen beschreibt und Ideen präsentiert, wie man diese zu Abenteuern oder kleinen Kampagnen ausweiten kann. Diese Aufhänger ziehen ihre Ideen natürlich ebenfalls aus den gängigen Versatzstücken des Genres. Ob man das nun für eine charmante Hommage oder für dreiste Faulheit hält, liegt da sicherlich im Auge des Betrachters. Allerdings sind alle beteiligten Charaktere liebevoll aufbereitet und die Abenteuer ergeben sich folgerichtig aus den Motivationen der einzelnen NSC. Das macht nicht nur die Lektüre des Buches sehr kurzweilig, sondern erhöht auch die Nützlichkeit am Spieltisch.

Das Ziel des Buches ist es aber nicht, zu zeigen was für unterschiedliche Abenteuer in den unterschiedlichen Reichen möglich sind, sondern den Umriss einer Kampagne zu zeichnen, bei der die einzelnen Reiche nur Etappen darstellen. 

Schwerpunkte und Optionen

Die besagte Kampagne bleibt allerdings bewusst etwas vage, da dem Spielleiter verschiedene Spielstile und Hintergrundoptionen geboten werden. Zunächst einmal schlägt einem das Spiel selbst drei verschiedene Spielstile vor: Heldentum, Erlösung und Dekonstruktion. So soll sich der Spielleiter vor Beginn der Kampagne überlegen, in welchem Stil er das Ganze angehen möchte. Klassisch heroisch wäre hier sehr nahe an den literarischen Vorbildern und wohl die einfachste Herangehensweise. Der Schwerpunkt „Erlösung“ gibt dem Thema einen etwas dunkleren Dreh, indem die Helden nicht nur die potenziellen Retter des Landes sind, sondern auch die, die es in erster Linie in Gefahr gebracht haben, indem sie die Reiche ihrer Kindheit vergessen und verlassen haben. Die letzte Variante „Dekonstruktion“ ist wohl die nihilistische der drei. In dieser sind die Charaktere nicht als Helden bekannt und sind nicht einmal etwas Besonderes zu Beginn. Auch die magischen Eigenheiten der einzelnen Reiche werden hier zu Gunsten eines direkteren, actionlastigeren Ansatzes zurückgefahren. Frei nach dem Motto: Erst schießen, dann Fragen stellen.

Nachdem man sich für einen dieser Schwerpunkte entschieden hat, gilt es noch festzulegen, was die Natur der Bedrohung ist. An dieser Stelle soll nicht zu viel verraten werden, aber es werden einem drei sehr schöne Spielarten der mystischen Bedrohung vorgeschlagen, die sehr gut mit dem Thema des Spiels harmonieren. Wer ohnehin nur vor hat, Nest zu leiten und nicht zu spielen, der kann auch unten in den Spoilerbereich schauen.

Spoiler

Gut. Du wurdest gewarnt. Unten findest du eine Übersicht der verschiedenen Optionen für den Ursprung der Bedrohung von Nest.

Option 1: Der Tyrann

In diesem Fall leidet einer der kindlichen Helden, die regelmäßig in die Länder von Nest kommen, an einer unheilbaren Krankheit. Aus Angst, in seinen Körper zurückzukehren, hat er beschlossen, komplett in Nest zu bleiben, um sich nicht weiter mit seinen Problemen in der echten Welt auseinandersetzen zu müssen. Während also sein Körper im Koma liegt, hat sein Traum-Ich die Länder von Nest erobert und will nun verhindern, dass andere Kinder hierher kommen.

Option 2: Der Nachtherr

Wer Träume hat, der hat manchmal auch Alpträume. Ursprünglich gab es noch ein viertes Königreich namens Schauerland, das diesen Aspekt vertreten hat. Irgendwann aber wurde Schauerland und mit ihm sein Herrscher – der Nachtherr – auf Entscheidung des Rates von Eg von den anderen Königreichen getrennt und in die Verbannung geschickt. Nun aber ist der Nachtherr zurück und mit ihm seine Schergen.

Option 3: Der Eindringling

Diese Option fällt am ehesten aus dem Rahmen. Hier hat man es weder mit einem fehlgeleiteten Helden, noch mit einem verbitterten Herrscher zu tun. Stattdessen ist eine Alienrasse in die Königreiche eingedrungen und versucht diese zu einem Brückenkopf für eine Invasion aufzubauen. Das Ziel: Die wache Welt.

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Die Regeln

Regelseitig gibt es für die Spieler einige Überraschungen. Nest nutzt auf den ersten Blick die Standard-Fähigkeitsliste von Fate, so dass Veteranen schnell einen Charakter erstellen können. Zwar startet man ohne Stunts, ansonsten ist aber alles wie gehabt. Daneben hat sich der Autor allerdings ein paar nette Ergänzungen überlegt. Vorausgesetzt bei all dem ist natürlich, dass man das Regelwerk zur Hand hat, denn Nest kommt ohne eine Erklärung der grundlegenden Fate-Regeln daher. Wie allerdings alle Abenteuerwelten.

Eine erste Überraschung zeigt sich auf Seiten der NSC. Diese funktionieren nicht auf der Basis desselben Modells wie die Spieler, sondern haben individuelle Fähigkeiten, die sie von anderen NSC und Spielercharakteren unterscheiden. So kann eine Wache beispielsweise +2 auf „Argwöhnisch sein“, eine Teenager-Prinzessin denselben Bonus auf „Stur sein“ und ein möglicher Feind gar +4 auf „Wahrheit verdrehen“ bekommen. Sollten die individuellen Fähigkeiten der NSC einmal nicht reichen, um eine Aktion abzubilden, so geht man immer von einem Wert von Null in der entsprechenden Fähigkeit aus.

Die größte Besonderheit des Spiels zeigt sich allerdings in der Koppelung von Charakter- und Geschichtenentwicklung. Zu Beginn wurde bereits erwähnt, dass sich die erwachsenen Charaktere nicht mehr an ihre kindlichen Abenteuer erinnern. Je länger sie allerdings in Nest bleiben, umso mehr erinnern sie sich an frühere Ereignisse. Durch bestimmte Ereignisse in der Spielwelt (Verletzungen, Konfrontationen mit Gegnern, Überwinden von Hindernissen etc.) werden regeltechnisch Meilensteine erreicht, die den Spielern gestatten, Stunts zu wählen, ihre Fähigkeiten zu steigern oder ihre Aspekte umzubenennen. Dies geht damit einher, dass sich die Erwachsenen langsam wieder daran erinnern, wozu sie in den Träumen ihrer Kindheit einst fähig waren und diese Fähigkeiten in Nest zurückerhalten. Man denke hier zum Beispiel an den erwachsenen Peter Pan aus dem Film Hook, um sich einen Eindruck davon zu verschaffen, wie Charakter- und Geschichtsprogression bei Nest Hand in Hand gehen.

Erscheinungsbild

Nest wird in dem üblichen A5-Format der Fate-Abenteuerwelten beim Uhrwerk Verlag gedruckt. Das Layout ist sauber und übersichtlich, die Schrift gut zu lesen und das Papier fühlt sich wertig genug an, um auch noch nach ein paar Spielsitzungen nicht zu reißen.

Die Illustrationen sind durchgehend im Stil eines Kinderbuchs gehalten. Das passt sehr gut zum Thema des Bandes, mitunter wirken die Bilder aber etwas einfach. Letztendlich ist das aber wohl persönlicher Geschmack.

Der Preis liegt mit 14,95 EUR auf dem gewohnten Niveau der deutschen Fate-Publikationen und ist für den Umfang und die Ausstattung völlig angemessen. Einen Index gibt es nicht, allerdings kann man das bei einer 80 Seiten Publikation auch verschmerzen.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Uhrwerk Verlag
  • Autor(en): David S. Goodwin
  • Erscheinungsjahr: 2017
  • Sprache: Deutsch
  • Format: A5
  • Seitenanzahl: 80
  • ISBN: 9783958670662
  • Preis: 14,95 EUR
  • Bezugsquelle: Amazon, Sphärenmeister

 

Bonus/Downloadcontent

Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Ersteindrucks wurde noch kein offizielles, neues Bonusmaterial veröffentlicht.

Fazit

Mit Nest bringt der Uhrwerk Verlag ein sehr sympathisches und unverbrauchtes Setting nach Deutschland. Die Idee, als Erwachsene in die Traumreiche der Kindheit zurückzukehren, ist zwar nicht vollkommen neu, aber hier so stimmig umgesetzt, dass es Spaß macht, sich mit dem Setting zu beschäftigen.

Sowohl die verschiedenen Schwerpunkte  als auch die präsentierten Hintergrundoptionen bieten dabei dem geneigten Spielleiter genug Raum, um die für sich und seine Gruppe passende Version der Reiche von Nest zu erschaffen.

Die Illustrationen vermitteln durch den ganzen Band hindurch, genau wie die sehr individuellen Fähigkeiten der NSC, den Flair eines Kinderbuchs. Wenn man sich auf diese Art von Geschichte einstellen kann, dann bietet Nest eine sehr gute Grundlage für viele Stunden traumhafter Abenteuer.

Artikelbilder: Uhrwerk Verlag
Dieses Produkt wurde kostenlos zur Verfügung gestellt.

 

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