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Eine schlaflose Prinzessin, ein tückischer Nachtmahr und eine Reise ins eigene Gehirn: Walter Moers’ neuer Roman klingt so bizarr, wie wir es von ihm gewohnt sind, entpuppt sich jedoch als schillernde Ausnahme der Zamonien-Reihe. Anstelle eines wilden Abenteuers erwartet uns hier eine besonnene Liebeserklärung an die Kraft der Gedanken.

Es ist eines der umstritteneren Bücher, die dieses Jahr erschienen sind, aber auch eines der widersprüchlichsten: Walter Moers‘ Nacherzählung eines Märchens aus der zamonischen Spätromantik versteht sich zugleich als ein phantasievoller Spaziergang durch die Grundstrukturen des eigenen Verstandes, als ein Buch über den Umgang mit einer chronischen Krankheit und als eine absonderliche Liebesgeschichte. Das ist natürlich ein großes Vorhaben. Entsprechend ist es nicht besonders erstaunlich, dass die Reaktionen auf den lang erwarteten siebten Zamonien-Roman sehr unterschiedlich ausfallen. Die Fans sind sich nicht einig: Handelt es sich um eine herbe Enttäuschung, oder begegnen wir hier einem neuen, tiefgründigeren Moers? Diese Frage lässt uns natürlich keine Ruhe, zumal sie ja einen unserer Herbstromane betrifft. Daher heißt es nun: Koffer packen und auf nach Zamonien!

Story

Prinzessin Dylia leidet unter der seltensten Krankheit von ganz Zamonien. Zu den Symptomen gehört neben Schmerzen und Übelkeit auch eine hartnäckige Schlaflosigkeit, welche sie tage- und manchmal sogar wochenlang dazu verurteilt, des Nachts einsam durch ihr Schloss zu spazieren. Nur ihre Gedanken leisten ihr in solchen Phasen Gesellschaft, und sie vertreibt sich die Zeit mit Sprachspielen, Wörterbüchern und exzentrischen Erfindungen. Das ohnehin schon ungewöhnliche Leben dieser selbsternannten Prinzessin Insomnia nimmt eine Wendung ins Märchenhafte, als eines Nachts Havarius Opal, ein alptraumfarbener Nachtmahr, auf ihrer Brust Platz nimmt, um ihr die Luft abzuschnüren. Nachtmahre, wie er nicht ohne Stolz erklärt, suchen sich nämlich ein Opfer aus, das sie anschließend in liebevoller Kleinarbeit entweder in den Wahnsinn oder in den Selbstmord treiben. Da Dylia sich zunächst nicht beeindruckt zeigt, lädt er sie auf einen Ausflug in ihr eigenes Gehirn ein – bis nach Amygdala, den Ort, an dem die Angst wohnt. Die stets wissbegierige Prinzessin nimmt natürlich an, und so begibt sich das ungleiche Paar auf eine introspektive Reise mit ungewissem Ausgang. Denn in Dylias Kopf lauern Gefahren, neben denen eine Waldspinnenhexe das reinste Kuscheltier ist …

Prinzessin Insomnia ist nicht unbedingt ein klassischer Zamonien-Roman. Meine Vorkenntnisse über die Welt, meine auswendig gelernten Landkarten oder meine profunden Kenntnisse des Lexikons der erklärungsbedürftigen Wunder, Daseinsformen und Phänomene Zamoniens und Umgebung bringen mich hier nicht weiter, denn die Handlung spielt sich überwiegend in Dylias Kopf ab. Das muss nichts Schlechtes heißen, wenn auch eingefleischte Zamonien-Fans eventuell etwas enttäuscht sein könnten. Dieses „Märchen aus der zamonischen Spätromantik“ lässt sich für den Einstieg in die Handlung zudem recht viel Zeit, denn in den ersten Kapiteln lernt man vor allem die Protagonistin und ihren Umgang mit der eigenen Krankheit kennen.

Das kann vereinzelt etwas langatmig wirken, zahlt sich aber später aus, denn ein Gehirn ist eine doch eher intime Angelegenheit und zu dem Zeitpunkt, zu dem man das ihre erkundet, ist man mit der Prinzessin bereits angemessen vertraut. Die Reise selbst ist dann auch keine Aneinanderreihung von Abenteuern, sondern eher eine Erkundungsfahrt, auf der einem die einzelnen Hirnregionen in schillernden Farben, mit viel Phantasie und zum Glück ohne langweilige anatomische Ambitionen vorgestellt werden. Statt auf eine haarsträubende Achterbahnfahrt mit viel Action sollte man sich beim Lesen also auf einen nachdenklichen Spaziergang einstellen.

Dennoch ist es nicht die bizarre Gedankenwelt, die einen als Leser fesselt, sondern das Verhältnis zwischen den beiden Hauptfiguren. Handelt es sich hier wirklich, wie der Klappentext behauptet, um eine Liebesgeschichte? Wird die Prinzessin die gemeinsame Reise nutzen können, um Havarius Opals Fängen zu entkommen? Wie viel darf man einem Nachtmahr, der Zamonien-Veteranen kaum zufällig an die unbeständige und wankelmütige Figur des Stollentrolls erinnern dürfte, überhaupt glauben? Und vor allem: Kann ein solches Wesen sich ändern? Diese Fragen hängen bedeutungsschwer, aber unausgesprochen über den Szenen, in denen Dylia und Havarius Opal zänkisch und frotzelnd durch spärlich beleuchtete Hirnwindungen wandern. Zwischen Zergessern und Ideenschmetterlingen darf unsere Protagonistin nämlich nicht vergessen, dass noch immer ihr Leben auf dem Spiel steht.

Beinahe spannender als der Roman selbst erscheint das, was der Autor über dessen Entstehungsgeschichte verrät. Inspiriert hat ihn nämlich der Kontakt zur Berliner Künstlerin Lydia Rode, welche seit ihrem siebzehnten Lebensjahr unter dem bislang unheilbaren Chronischen Fatigue- oder Erschöpfungssyndrom leidet. Zu den Symptomen gehört extreme Schlaflosigkeit. Moers’ Idee, eine kurze Geschichte zu schreiben und diese von Rode illustrieren zu lassen, uferte dann so lange aus, bis mit Prinzessin Insomnia & der alptraumfarbene Nachtmahr schließlich ein ganzer Roman entstanden war. Obwohl die Bezüge eindeutig sind – die Namen Lydia und Dylia geben Seite an Seite nicht unbedingt Rätsel auf – wäre es allerdings zu stark vereinfachend, die Handlung einfach nur als eine Allegorie auf das Leben Rodes zu verstehen. Schließlich geht es nicht um diese spezielle Krankheit im eigentlichen Sinne, sondern um die allgemeine menschliche Fähigkeit, mit Phantasie und Kreativität selbst Extremsituationen und große Belastungen erträglich zu machen. Die vielfältigen Bewältigungsstrategien der Prinzessin – von den schmerzhaften Symptomen, die als unliebsamer Verwandtenbesuch vorgestellt werden, bis zum alles versenkenden Subsumpf der Verdrängung – sind eine helle Freude für alle, die unter Migräne, Depressionen oder schlicht einer schwierigen Lebensphase leiden. So ist etwa ihr wunderschöner Ausruf „Wir haben schon ganz andere Sachen als dich verdrängt, mein Subsumpf und ich“ das Beruhigendste, was man unmittelbar vor dem Einschlafen denken kann.

Schreibstil

Mehr denn je ist in diesem Roman des notorischen Wort-Akrobaten und Anagramm-Liebhabers Moers die Sprache der eigentliche Mittelpunkt. Wie bereits Hildegunst von Mythenmetz, der literaturbegeisterte Erzähler im Bestseller Die Stadt der träumenden Bücher, hat auch Dylia Insomnia ein ganz besonderes Verhältnis zu ihrem eigenen Wortschatz. Dieser ist ihr während der schlimmeren Phasen ihrer Krankheit Ablenkung und Stütze, und auch wenn sie selbst keine Ich-Erzählerin ist, ziehen sich ihre persönlichen Sprachspiele und Neologismen durch das ganze Buch. Neben tatsächlichen seltenen Dudenbewohnern, beispielsweise „Defenestration“, haben dabei viele zamonische Wörter einen Auftritt – zum Beispiel „hoyotojokomeshi“, eine Metapher für ein vollkommen sinnloses Unterfangen, die wortwörtlich bedeutet, „einen Baumstamm durch einen Strohhalm zu trinken“. Auf dieses Übermaß an experimentellen Ausdrücken sollte man als Leser gefasst sein. Auf seine Eigenart, die direkte Rede der Charaktere oft und gern durch verschiedene Schrifttypen zu kennzeichnen, verzichtet Moers in diesem Roman weitgehend. Dafür kommt mit der Farbgebung ein neues Element zur Geltung. Da Prinzessin Insomnia bunt illustriert ist, strahlen einem jene Wörter, die der Prinzessin wichtig sind, in allen Regenbogenfarben entgegen.

Von der Märchenhaftigkeit, die der Klappentext verspricht, wenn er ein Märchen aus der zamonischen Spätromantik ankündigt, ist für Leser, die mit den literarischen Traditionen der Romantik nicht vertraut sind, zunächst weniger zu spüren. Zwar gibt es eine Prinzessin und mit Havarius Opal gewissermaßen auch einen Bösewicht, aber von einem klassischen „Es war einmal …“ kann hier nicht die Rede sein. Allerdings orientiert sich Moers hier gerade nicht an Volksmärchen, sondern an den Kunstmärchen des 19. Jahrhunderts. Bedenkt man, dass diese sich häufig Themen wie der menschlichen Psyche, dem Verhältnis zwischen Traum und Wirklichkeit und der Ambivalenz von Gut und Böse widmen, entspricht sein neuestes Werk dieser Ankündigung vollkommen.

Der Autor

Walter Moers wurde 1957 in Mönchengladbach geboren und ist ein allseits bekannter deutscher Comic-Zeichner und Schriftsteller. 1984 begann er, seine Illustrationen in Zeitschriften zu veröffentlichen. Um 1988 herum erfand er die Figur des Käpt’n Blaubär, die im Fernsehen, in Kinderbüchern und in Hörspielen später ein Eigenleben entwickeln sollte. Namentlich bekannt wurde er jedoch vor allem mit seinen Kleines Arschloch Cartoons, zu deren Verfilmungen 1997 und 2006 er auch die Drehbücher verfasste.

Die Bühne der deutschen Gegenwartsliteratur betrat er 1999, als er mit Die 13 ½ Leben des Käpt’n Blaubär seinen ersten Zamonien-Roman veröffentlichte. Auf diesem erfundenen Kontinent spielten auch seine nachfolgenden Romane. Nach Ensel und Krete und Rumo und die Wunder im Dunkeln machte Die Stadt der träumenden Bücher – gefeiert für seinen Bruch mit Genrekonventionen und seine intertextuellen Anspielungen – Moers 2004 zu einem der kommerziell erfolgreichsten deutschen Autoren. Die Fortsetzung, Das Labyrinth der träumenden Bücher, erschien 2011.

Dass er kaum als typischer Vertreter der Phantastik wahrgenommen wird, liegt vermutlich an seinen vielfältigen Bezügen zur deutschen Literaturgeschichte. So erkennt man etwa in Der Schrecksenmeister von 2007 die Neufassung einer Novelle von Gottfried Keller.

Andere bekannte Werke außerhalb Zamoniens sind unter anderem der Roman Wilde Reise durch die Nacht und die satirische Comic-Reihe über Adolf, die Nazisau, die in mehreren Bänden erschienen und 2016 in Adolf total: Alles über den Führer in einem Band zusammengefasst wurde. Letzteres brachte dem Verfasser Drohbriefe aus rechtsradikalen Kreisen ein.

Erscheinungsbild

Das Wichtigste zuerst: Regalneurotiker wie ich können aufatmen! Obgleich dies der erste Zamonien-Roman ist, den Moers nicht persönlich illustrierte, passt er von Gestaltung und Layout her ganz wunderbar zu den anderen Bänden, und es entsteht kein hässlicher Umbruch auf dem heimischen Bücherbrett. Generell sind Lydia Rodes Zeichnungen stilistisch nahe genug an Moers‘ eigenen Werken, dass man sich bei ihren Illustrationen gleich zu Hause fühlt. Das blaugeschuppte Cover ziert ein Bild von Havarius Opal, dem alptraumfarbenen Nachtmahr. Unter dem Schutzumschlag verbirgt sich das gleiche Cover mit hellen Schuppen und einem Portrait von Prinzessin Dylia.

Die überwiegend in unaufdringlichen Pastellfarben gehaltene Gestaltung der Illustrationen im Buch selbst, die mitunter auch auf den Text selbst übergreifen, ist in ihrer zarten Verträumtheit ungewohnt, passt aber hervorragend zum Inhalt.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Albrecht Knaus
  • Autor: Walter Moers
  • Erscheinungsjahr: 2017
  • Sprache: Deutsch
  • Seitenanzahl: 344
  • ISBN: 978-3-8135-0785-0
  • Preis: 24,99 EUR
  • Bezugsquelle: Amazon

 

Bonus/Downloadcontent

Dem Buch liegt Der Nachtmahr. Magazin für schlaflose Nächte bei, eine Zeitschrift aus Zamonien, die von Hildegunst von Mythenmetz persönlich herausgegeben wird. Sie enthält eine Leseprobe (die von jener auf Amazon abweicht), ein nettes Interview mit den Charakteren des Romans und andere Anspielungen, fügt jedoch dem Inhalt des Buchs selbst nichts hinzu. Trotzdem ist es ein charmantes Gimmick.

In einer lesenswerten Nachbemerkung schildert Walter Moers kurz, wie der Kontakt zu Lydia Rode ihn zu dem Roman inspirierte.

Fazit

So ganz das, was man sich unter einer Reise „mitten hinein ins dunkle Herz der Nacht“ vorstellt, ist Prinzessin Insomnia & der alptraumfarbene Nachtmahr möglicherweise nicht. Aber die Mischung aus nachdenklichem Psychogramm einer selbst für moerssche Verhältnisse ungewöhnlichen Protagonistin und einem nach innen gewandtem Katz-und-Maus-Spiel kann, geht man mit den richtigen Erwartungen heran, genauso berühren, wie die besten Momente in früheren Zamonien-Romanen. Dass der Roman es etwas ruhiger angehen lässt und sich das eine oder andere Mal in der eigenen Sprachverliebtheit zu verlieren droht, ist Teil des Gesamtkonzepts und führt zu einem sehr eigenen Leseerlebnis. Gerade dadurch könnte das Buch allerdings auch Leserinnen und Leser ansprechen, die mit dem skurrilen Kontinent Zamonien bislang nicht in Kontakt gekommen sind. Nein, enttäuscht war ich wahrlich nicht.

Dass Moers’ Romane generell etwas teurer sind, wenn man sie gebunden kauft, liegt daran, dass man wirklich schöne, hochwertige Bücher ersteht, an denen alles stimmt. Insofern ist der Preis auch in diesem Falle gerechtfertigt, gerade wegen der wunderschönen, farbigen Illustrationen.

Indem es das Thema der Kreativität und der Macht der Gedanken so entschieden in den Vordergrund rückt, weicht Prinzessin Insomnia zwar von den anderen Romanen ab, erreicht aber gleichzeitig auch mehr. Neben guter Unterhaltung – denn langweilig ist das Buch nicht, höchstens gelegentlich etwas langatmig – erhält man nämlich einiges an Denkanregungen. Die Erinnerung daran, dass es immer einen Versuch wert ist, Trost in sich selbst zu finden, begleitet einen noch lange, nachdem man den Buchdeckel zugeklappt hat. Sie schwebt wie eine Seifenblase im Raum, funkelt in der Morgensonne und verbreitet einen Hauch von Lebensfreude – so leicht, dass man ihn fast nicht wahrnimmt. Die Nacht ist vorbei!

Artikelbild: Albrecht Knaus Verlag
Dieses Produkt wurde kostenlos zur Verfügung gestellt.

 

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