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Schattenmagie, Knochentürme und jede Menge Blut: Jay Kristoffs Roman Nevernight ruft bei den Lesern wahre Begeisterungsstürme hervor. Die Geschichte der rachedurstigen Adeptin Mia auf ihrem Weg zur Meisterassassinin scheint einen Nerv getroffen zu haben. Aber ist es große zeitgenössische Fantasy oder eine prätentiöse Kitschparade? Finden wir es heraus!

Wenn ein Buch als das ungewöhnlichste und innovativste der letzten Jahre angepriesen wird, bin ich sofort misstrauisch. So auch im Falle von Jay Kristoffs neuem Roman Nevernight. Der Hype ist groß: ein Jugendbuch, aber für Erwachsene. Harry Potter, aber mit mehr Sex und Gewalt. Allein das löst bei mir bereits ein gewisses Augenverdrehen aus, denn die Stellung des „erwachseneren“ Jugendbuchs nahm bisher meines Wissens The Hunger Games ein und schon das konnte mich nicht so recht begeistern.

Hinzu kommt, dass der Slogan, mit dem der Roman beworben wird, mich eher abschreckt. „Sie ist keine Heldin. Sie ist eine Frau, die Helden fürchten.“ Geht es überhaupt noch prätentiöser? Zum Glück für das Buch fließen diese ersten Eindrücke natürlich nicht in die Wertung ein. Und so versuche ich, meinen inneren Teenie-Goth zu beschwören und tauche ein in die blutige Welt der Republik Itreya.

Story

Als Mia Corvere mitansehen muss, wie ihr Vater wegen Hochverrats hingerichtet wird, ist sie gerade mal zehn Jahre alt. Von ihrer Familie getrennt, entkommt sie nur knapp dem Tod und taucht unter. Das Glück ist auf ihrer Seite, denn der alte Mann, der sie bei sich aufnimmt, dient einem geheimen Assassinenorden und macht Mia zu seiner Schülerin. Neben einem ausgeprägten Trauma behält sie noch etwas anderes aus jener verhängnisvollen Nacht zurück: Ein geheimnisvolles Wesen hat sich in ihrem Schatten eingenistet und verleiht ihr besondere Kräfte. Sechs Jahre später sinnt die junge Frau noch immer auf Rache. Doch die Mörder ihres Vaters bekleiden die höchsten politischen Ämter der Republik und nur voll ausgebildete Assassinen haben eine Chance, an ihren Wachen vorbeizukommen. Daher macht sich Mia auf die Suche nach der Roten Kirche, wo sie sich an der Seite von 28 anderen Novizen beweisen soll. Die Gefahren der Reise erweisen sich als geradezu läppisch im Vergleich zu dem, was sie am Ziel erwartet, denn wer der Hohen Frau Gesegneten Mordes dienen will, muss bereit sein, ihr sein Leben darzubringen. Nur vier Anwärter werden letztendlich in den Dienst der Göttin treten können und wenn Mia dazugehören möchte, muss sie ihre todbringenden Mitschüler übertrumpfen. Da ist es natürlich gut, dass sie in den heiligen Hallen der Kirche bereits Freunde gefunden hat – oder?

Natürlich ist keines der Elemente in dieser Geschichte per se neu. Rache ist eine der beliebtesten Figurenmotivationen überhaupt und Schulen und Ausbildungsstätten sind naturgemäß der Schauplatz schlechthin, wenn es um Coming-of-Age-Fantasy geht. Ob bewusst oder unbewusst: Autor Jay Kristoff bedient sich großzügig an allem, was in der Phantastik und Science-Fiction der letzten zwei Jahrzehnte Rang und Namen hatte. In Kombination wirken diese Elemente allerdings überraschenderweise weder verstaubt noch ausgelutscht, was für sich genommen bereits eine Leistung ist. Gerade die naheliegenden Vergleiche zu anderen Größen des Genres Jugendbuch rufen entweder liebevolle Erinnerungen wach oder fallen schlicht zu Gunsten von Nevernight aus, dessen wohldurchdachte Story viele beliebte Fehler vermeidet. So stehen zum Beispiel Mias Rachepläne nicht lange im Mittelpunkt, denn die eigentliche Frage lautet, welche der Novizen es mit welchen Mitteln bis zum Assassinenrang bringen werden. Dabei ist der Schulalltag an sich schon interessant genug, um einen rasch alles andere vergessen zu lassen. Dem mitunter tödlichen Konkurrenzkampf zum Trotz entspinnen sich vorsichtige Freundschaften, die Einblick in die Wünsche und Ziele der Nebenfiguren gewähren. Wie die Protagonistin selbst kommt man also nicht umhin, Sympathien zu entwickeln, die im direkten Widerspruch zum Credo der Roten Kirche stehen.

Mia Corvere ist eine zwar selbstbewusste, aber keineswegs skrupellose Protagonistin, deren innere Kämpfe ihr Verhalten stets nachvollziehbar machen. Das Gleiche gilt für ihre Weggefährten, bei denen man beinahe zu schnell vergisst, dass es sich ausnahmslos um Mörder handelt. Entsprechend fragt man sich etwas, warum das Buch einem ganz normale Figuren als ruchlose Antihelden verkauft. Einfach nur, weil sie viel fluchen, Zigarillos rauchen und keinen komplett unfehlbaren moralischen Kompass haben? Oder steht Mias Wandel zu jener eiskalten Killerin, die im Prolog angekündigt wurde, schlicht noch bevor? Wird Mia ihre Freunde am Ende verraten müssen? So trägt letztendlich selbst diese auf den ersten Blick einfach nur schlecht durchgehaltene Prämisse massiv zur Spannung bei. Das einzige, was sich nicht wirklich erschließt, ist, inwiefern die Tatsache, dass die Welt von Nevernight drei Sonnen hat, sich wirklich auf die Handlung auswirkt. Handelt es sich hier einfach um eine Verbeugung vor Cixin Lius exzellentem Science-Fiction Roman Die drei Sonnen oder wird sich die Relevanz erst in der Fortsetzung ergeben? Man weiß es nicht.

Schreibstil

Dafür, dass der Prolog zartbesaitete Leser noch vor „der unangenehmen Realität eines echten Blutbads“ warnt, ist die Sprache in Nevernight dann ebenfalls überraschend harmlos. Es wird zwar viel geflucht, aber weder die beschriebene Gewalt noch die expliziten Sexszenen sind sonderlich unkonventionell – wenn man den Roman nicht ausdrücklich als Jugendbuch einstuft. Da die Welt von Nevernight offenbar von der Geschichte Italiens inspiriert ist, sind nicht nur die meisten Namen, sondern auch einige Titel und Anreden italienisch, was einiges zum Lokalkolorit beiträgt.

Dass die knapp 700 Seiten wie im Flug vergehen, liegt auch an der klugen Erzählweise. Im Prolog kündigt ein geheimnisvoller Erzähler an, die wahre Geschichte der berüchtigten Mia Corvere zu berichten, die ihm einst nahe stand, gibt jedoch seine Identität nicht preis. Im darauf folgenden eigentlichen Text ruft er sich nur gelegentlich in Erinnerung, damit man nicht vergisst zu rätseln, um wen es sich dabei handelt und ob die entsprechende Figur bereits eingeführt wurde. Dennoch bleibt er ständig präsent, denn sein eigentliches Terrain sind die Fußnoten, in denen ein Großteil der Weltbeschreibungen stattfinden. Hier wird die Handlung kommentiert und die Republik Itreya mit zahlreichen Hintergrundinformationen und oftmals humorvollen historischen Verweisen zum Leben erweckt. Der Ton erinnert dabei mehr als einmal an Jonathan Strouts Bartimäus, dessen flapsige Fußnoten hier vielleicht Pate standen. Schwerfällige Weltgestaltung in leicht dahinerzählte Anmerkungen zu verwandeln und sie mit sarkastischen Kommentaren zu spicken, bleibt definitiv ein Erfolgsrezept, zumal es extrem zur Lesbarkeit beiträgt. Ob man die Fußnoten genau liest oder nur überfliegt, um sich nicht aus der eigentlichen Handlung reißen zu lassen, kann schließlich jeder selbst entscheiden.

Nicht ganz so auffällig wie die Fußnoten, aber ebenso wichtig, ist der Aufbau des Romans, der offenbar mit großer Sorgfalt geplant und umgesetzt wurde. Bereits das erste Kapitel (in der Leseprobe des Verlags übrigens komplett enthalten) ist erzähltechnisch minutiös durchkomponiert und vermittelt eine ziemlich gute Vorstellung davon, welche Maßstäbe Kristoff in dieser Hinsicht setzen möchte. Die anfängliche Strenge des Erzählkonzepts weicht dann zwar schnell einer lebendigeren Erzählweise, es bleibt aber das beruhigende Gefühl: Hier ist jedes Kapitel genau da, wo es sein soll. Diese Souveränität erlaubt ihm dann auch einen sicheren Umgang mit den Klischees, die sich in einem Roman über eine Assassinenschülerin mit Zauberschatten gezwungenermaßen anhäufen. Während es ihm auf der Handlungsebene gelegentlich gelingt, ernsthaft subversiv zu sein und mit Lesererwartungen zu brechen, rückt er die Klischees, auf die er nicht verzichten möchte, geradezu ins Rampenlicht. So haben die Assassinen keine Schalen, sondern gleich ganze Schwimmbecken voller Blut. Mias Widersacher tötet seine Feinde nicht einfach, sondern lässt die Stufen des Senats mit ihren Schädeln pflastern. Die Gebäude der Stadt Gottesgrab sehen nicht einfach aus wie Knochen, sie sind aus Knochen. Wo der Autor einem Stereotyp nicht entkommen kann, übertreibt er ihn ins Maßlose. Das ist nicht immer geschmackvoll (wer bitte nennt eine Nebenfigur „Adonai“?!), funktioniert aber meistens erstaunlich gut. Statt sie verschämt zu verstecken, stellt der Roman seine Teenie-Goth Seite augenzwinkernd zur Schau. Das mag auf Kosten des generellen Anspruchs gehen, macht aber definitiv Spaß.

Der Autor

Jay Kristoff wurde 1973 in Perth geboren. Der Australier entwickelte bereits als Kind eine Leidenschaft für Phantastik, doch erst nachdem er ein Jahrzehnt in der Werbebranche tätig war, veröffentlichte er 2012 seinen ersten Roman Stormdancer. Der erste Band einer japanisch angehauchten Steampunk-Trilogie The Lotus War stellte nur den Anfang seines kreativen Schaffens dar. Seitdem veröffentlichte er jedes Jahr wenigstens ein Buch, einige davon in Kooperation mit der australischen Autorin Amie Kaufman. 2017 erschien Die Illuminae Akten, der erste Band ihrer gleichnamigen Reihe, auf Deutsch. Entsprechend verwunderlich ist es, dass Nevernight von einigen Pressestimmen als „außergewöhnliches Debüt“ gefeiert wird. Heute lebt Kristoff in Melbourne – nach eigenen Angaben zusammen mit seiner Geheimagenten-Kung-Fu-Assassinenehefrau und dem faulsten Jack Russell Terrier der Welt.

Erscheinungsbild

Allen Sprichwörtern zum Trotz kann man im Fall von Nevernight ausdrücklich dazu auffordern, das Buch nach seinem Cover zu beurteilen. Dieses bringt Inhalt und Atmosphäre des Romans genau auf den Punkt und ist somit ein guter Indikator dafür, ob man sich zum Kauf entscheiden sollte. Wer das Mädchen mit venezianischer Maske, blutigem Dolch und Schattenflügeln zu melodramatisch findet, dem wird es mit dem Buch vermutlich ähnlich ergehen. Wer sich von der Stimmung dieser Zeichnung spontan angesprochen fühlt, bekommt genau, was sie verspricht. Das ist längst nicht bei jedem Coverdesign der Fall.

Auch ansonsten ist das Buch eher aufwendig gestaltet. Besonders die rote Schnittverzierung fällt ins Auge. Die gebundene Ausgabe ist so hochwertig, wie man es von einem großen Verlag erwartet.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Fischer Tor
  • Autor: Jay Kristoff
  • Erscheinungsjahr: 2017
  • Sprache: Deutsch (aus dem Englischen übersetzt von Kirsten Borchardt)
  • Format: gebunden
  • Seitenanzahl: 704
  • ISBN: 978-3-5962-9757-3
  • Preis: 22,99 EUR
  • Bezugsquelle: Amazon

 

Bonus/Downloadcontent

  • Es gibt eine Karte von Gottesgrab, die eher kosmetischen Wert hat, da man sie absolut nicht braucht, um sich zurechtzufinden und eine große Karte von Itreya, mit der man ähnlich wenig anfangen kann. Aber hübsch sind sie.
  • Von Widmung und Danksagung abgesehen gibt es keinen Zusatztext. Die oben erwähnte Leseprobe enthält den Prolog und das gesamte erste Kapitel.

 

Fazit

Bei aller Voreingenommenheit war ich von Nevernight sehr positiv überrascht. Jay Kristoff ist es dank seines unerhörten Erzähltalents gelungen, aus einer Ansammlung an Klischees Spannung zu erzeugen und seine Welt zum Leben zu erwecken. Der Roman entspricht quasi keinem der Vorurteile, die man mit dem Genre Jugendbuch verbindet, kann aber auch neben anderen zeitgenössischen Fantasy-Epen durchaus bestehen. Die Geschichte ist temporeich, hochspannend und hält einen bis zuletzt in Atem. Die Figuren entpuppen sich – allem Gerede von unmoralischen Antihelden zum Trotz – als sympathisch und gut geschrieben. Die humoristischen Fußnoten, in denen ein Großteil der Weltbeschreibung stattfindet, lockern die Atmosphäre deutlich auf und gewährleisten eine vergnügliche Lektüre.

Man sollte andererseits auch keinen allzu tiefen oder bedeutungsschweren Roman erwarten. Kristoff setzt eher auf Spaß und Spannung als auf schwerwiegende Themen. Immerhin macht er die größte Schwäche des Buchs – sein übertrieben prätentiöses Auftreten – zugleich zu einer Stärke, indem er die schwarzromantischen Elemente augenzwinkernd auf die Spitze treibt. Leseprobe und Cover machen hier auch keine falschen Versprechungen: Wer sich von beidem angesprochen fühlt, wird voll auf seine Kosten kommen. Ich persönlich kann mich an ein Alter erinnern, in dem ich meine Seele für ein Buch wie Nevernight verkauft hätte. Dem bin ich inzwischen vielleicht entwachsen, aber – Bei der Hohen Frau Gesegneten Mordes! – ich war 700 Seiten lang bestens unterhalten. Es lebe der innere Teenie-Goth!

Artikelbilder: Fischer TOR
Dieses Produkt wurde kostenlos zur Verfügung gestellt.

 

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