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Wenn alte Meister mit nur zwei Fingern ein auf sie gerichtetes Schwert verbiegen, junge Kriegerinnen Horden von Barbaren aufhalten und übermütige Helden von Bambusspitze zu Bambusspitze gleiten, sieht man sich wohl einen ordentlichen Kung-Fu-Film an. Oder man spielt Tianxia, die neueste Erweiterung für Fate.

Im Jahr 2001 kam mit Tiger and Dragon das Genre des Wuxia, oder auch Kung-Fu-Films, aus seiner Nische im Westen hervor und betrat die große Bühne des Mainstreamkinos. Einige andere Filme feierten darauf hin ähnliche Erfolge und gewannen immer mehr Fans für diese Art der Geschichten und Action. Mittlerweile ist es wieder etwas ruhiger geworden um das Thema Wuxia, doch ganz verschwunden ist es nicht. Und so verwundert es nicht, dass auch die Rollenspielergemeinde immer wieder mit Regelwerken zu diesem Thema versorgt wird.

Nun ist auch Fate an der Reihe und erhält mit Tianxia einen Erweiterungsband, der es ermöglichen soll, in die mystische Welt der Kampfkünste einzutauchen.

Die Spielwelt

Ein Quellenbuch, und das ist Tianxia nominell, soll einen tiefen Einblick in ein bestimmtes Setting geben. Wer nun eine ausufernde Beschreibung eines Fantasy-Chinas erwartet, irrt jedoch. Mit groben Strichen, die nur ab und an etwas detaillierter werden, bekommt man ein Bild der Spielwelt gezeichnet. Zunächst ein paar philosophische und religiöse Konzepte. Danach das Reich Shénzou und die Provinz Jiangzhou. Schließlich erfahren wir noch etwas über die Stadt Bao Jiang, die Hauptstadt der Provinz Jiangzhou.

Je weiter sich der Fokus verengt, desto mehr Details bekommt man geliefert. Jedoch wird einem, selbst in der Stadtbeschreibung, mehr als genug Platz gelassen, um eigene Ideen einfließen zu lassen. Und damit erschöpft sich die Beschreibung der Welt. Dennoch hat man dadurch bereits eine sehr klare Vorstellung davon, wie es im Kaiserreich zugeht.

Die Beschreibung der Stimmung jedoch, des Gefühls, das mit Tianxia vermittelt werden soll, zieht sich durch das gesamte Buch. Immer wieder wird in größeren und kleineren Abschnitten auf Genrekonventionen eingegangen und darauf, wie man diese am Tisch umsetzen kann. Dies findet seine Abrundung in einem eigenen Kapitel, in dem verschiedene Filme, Bücher und Spiele aufgeführt werden, die als Inspiration dienen können. Erwähnenswert ist, dass eigentlich jede Entscheidung für oder gegen bestimmte Inhalte erläutert und nachvollziehbar gemacht wird. So hat jede Gruppe eine Grundlage, nach der sie entscheiden kann, ob ihre Fassung der Welt von Tianxia genau so aufgebaut sein soll. So soll Fate sein.   

       

Die Regeln

Die Änderungen zu Fate fallen relativ gering aus. Die Fertigkeiten werden um eine einzige, Chi, erweitert. Mit Chi werden verschiedene, meist eher mystische Handlungen innerhalb der vier Aktionen von Fate möglich. Darüber hinaus kann man damit vor jedem Kampf den Aspekt Chi-Rüstung erschaffen. Jeder Einsatz dieses Aspekts verschafft einem +2 Rüstungswert gegen einen erfolgreichen Angriff.

Der größte Block, der jedoch ein Zusatz und keine Änderung ist, behandelt das Kung-Fu. Hier zeigt sich Tianxia sehr flexibel. Man kombiniert einen von sechs Element-Unterstilen mit einem von sechs Körper-Unterstilen. So ergeben sich insgesamt 36 verschiedene Stile. Jeder Unterstil stellt drei verschiedene Techniken zur Verfügung. Diese sind von ihren Effekten her grob vergleichbar mit Stunts. Darüber hinaus beschreibt das Regelwerk alle Formen, spezielle Aspekte, die sich aus den Kombinationen ergeben. Erlernt man man alle sechs Techniken des eigenen Stils, kann man für einen Großen Meilenstein zum Meister aufsteigen und erhält die Geheimtechnik der jeweiligen Kombination. Auch diese Geheimtechniken sind für alle Stile beschrieben.

Alle weiteren Regeln sind entweder Erläuterungen darüber, wie bestimmte Dinge für Tianxia am besten umgesetzt werden können, oder optionale Regeln und Module, die man nach Lust und Laune für die eigene Spielrunde benutzen kann. Oder eben auch nicht. Egal ob man mehr Realismus will, magische Waffen oder tragische Liebesgeschichten über Mechaniken absichern möchte: Das Buch stellt einem einen riesigen Werkzeugkasten mit Vorschlägen und fertigen, beispielhaften Regeln zur Verfügung.

Eine Besonderheit der deutschen Ausgabe ist, dass die Adaption auf Turbo Fate als Anhang im Buch zu finden ist. Wer also generell mit noch schlankeren Regeln oder einfach für einen Oneshot nach Shénzou möchte, wird hier ebenfalls bedient.   

Charaktererschaffung

Auch die Charaktererschaffung unterscheidet sich kaum von den üblichen Regeln. Statt drei Punkten Erholungsrate erhält man vier. Dieser vierte Punkt ist vor allem dazu gedacht, den eigenen Charakter ohne großes Zögern mit einem Kung-Fu-Stil auszustatten. Man kann seine Erholungsrate weiter senken, um Techniken des gewählten Stils zu kaufen, oder diese statt Stunts einkaufen.

Wie weit man mit seinem Kung-Fu fortgeschritten ist, legt dann noch einen neuen Wert fest: den Jianghu-Rang. Dieser bemisst den Ruf in der Welt der Kampfkünstler, lässt einen mehr Zonen bei Bewegungen überwinden und legt die Schwierigkeit für das Erschaffen der Chi-Rüstung beim Gegner fest. Um entweder richtig schnell loslegen zu können, oder zur Inspiration, finden sich sechs Beispielcharaktere in einem eigenen Kapitel.

Die auf dem englischen Markt separat erschienen Regeln zum alternativen Charakterbau, Pfade des Schicksals genannt, finden sich im deutschen Regelbuch bereits als Anhang enthalten. Hier würfelt man auf verschiedenen Tabellen den Werdegang des eigenen Charakters aus. Jedes Ereignis stellt einem eine Reihe von daraus möglichen Aspekten zur Verfügung. Ein interessanter Ansatz, der ein wenig Nostalgie in der sonst so modernen Umgebung von Fate aufkommen lässt.

Spielbarkeit aus Spielleitersicht

Wie bei den meisten Fate-Runden, liegt die größte Menge an Arbeit für die Spielleitung vor dem eigentlichen Spielen. Zusammen mit allen Beteiligten einigt man sich darauf, welche Mechaniken man wie genau verwenden möchte und überlegt sich das grundsätzliche Abenteuer. Bei ersterem unterstützt einen das Buch durch seinen logischen Aufbau sehr und bietet für so ziemlich jede Idee meistens sogar schon einen Vorschlag. Hier liegt die Herausforderung eher darin, alle unter einen Hut zu bringen. Um beim zweiten Punkt zu helfen, liefert das Regelwerk vier vorgefertigte Abenteuerideen und einen Abenteuergenerator. Auch ein extra Kapitel mit Antagonisten und im gesamten Buch auftauchende NSCs erleichtern einem den Einstieg enorm. An Ideen sollte es also nicht mangeln.

Hat man eine ordentliche Gruppe, in der sich alle ihre jeweiligen Techniken und wie sie funktionieren, vermerkt haben, hält sich der Aufwand während des Spiels in Grenzen. Durch den narrativen Ansatz ist es eigentlich nur notwendig, für Spielwerte der Gegner einen Blick in das Regelbuch zu werfen.  

Spielbarkeit aus Spielersicht

Ist man grundsätzlich mit den Mechaniken aus Fate vertraut, ändert sich an der Spielbarkeit in Tianxia eigentlich nur sehr wenig. Um sich unnötiges Herumblättern im Buch zu ersparen, sollte man sich die Effekte der erlernten Kung-Fu-Techniken auf dem Charakterblatt notieren. Weder die Fertigkeit Chi noch der dazugekommene Jianghu-Rang ändern das Spielgefühl maßgeblich. Weiterhin geht es vor allem um den erzählerischen Anteil, der durch die schnell auszuführenden Würfelwürfe gestützt wird.

Spielbericht

Die Charaktererstellung geht, genug Ideen und Kreativität vorausgesetzt, ziemlich schnell von der Hand. Hier liegt einfach eine große Stärke der Fate-Regeln. Tianxia bremst einen hier jedoch an einem Punkt aus. Haben nicht alle MitspielerInnen ein eigenes Regelwerk, um die Kung-Fu-Stile nachzulesen, kann es schnell zu Verzögerungen kommen. Gibt man sich damit zufrieden, einfach einen Stil mit einem gut klingenden Namen zu haben, geht es zügig voran. Liest man sich jedoch erstmal alle zwölf Techniken durch, um eine effiziente Mischung zu bauen, kostet das durchaus Zeit.

In der Praxis selbst beweist Tianxia dann, wie gut es das erzählerisch Konzept von Fate mit den typischen Elementen des Genres verbindet. Mit Leichtigkeit wehren auch frisch erstellte Charaktere Gruppen von einfachen Gegnern ab und setzen diese schachmatt. Dabei fällt es nicht schwer, den Fokus auf der Erzählung zu halten, da sich die Mechaniken, auch für das Kung-Fu, als schlank und wenig aufwendig erweisen. Nur an einem Punkt gerät der Spielfluss ins Stocken. Da vor jedem Kampf zur Erschaffung einer Chi-Rüstung gewürfelt wird, entsteht hier eine etwas seltsame, nur von einem Würfelwurf dominierte Pause.

Trifft man dann irgendwann auf eher gleichwertige Gegner, ändert sich das Spielgefühl durchaus, aber ebenfalls passend zum Genre. Durch verschiedene Techniken und die schon öfter erwähnte Chi-Rüstung kann es am Anfang eines Kampfes ziemlich schwierig sein, dem Gegner mit einer simplen Angriffsaktion zu schaden. Tianxia setzt hier eher auf taktisches Vorgehen, bei dem Vorteile erschaffen, Kung-Fu-Techniken clever genutzt und Hindernisse überwunden werden. Wie in einem guten Wuxia-Film baut sich der Kampf immer weiter auf, bis schließlich jemand seine unschlagbare Technik einsetzt, um so den Sieg zu erringen. Hier leisten die Regeln also durchaus ganze Arbeit und bewähren sich in der Praxis. Durch die Formen und Techniken kommt an manchen Stellen vielleicht etwas mehr Verwaltungsaufwand für freie Einsätze hinzu, dieser bleibt jedoch überschaubar.

Ansonsten gibt es von der generellen Spielbarkeit keine wirklichen Unterschiede zu sonstigen Faterunden.     

Erscheinungsbild

Tianxia hält das gewohnte Niveau der Fate-Bücher aufrecht. Die 256 Seiten präsentieren sich vollfarbig, gut lesbar und in Hardcover gebunden. Das Layout besticht durch einen logischen Aufbau, der einem die Orientierung innerhalb des Buches leicht macht. Unterstützt wird dies auch noch durch einen Index.

Das Artwork folgt dem Trend, die im Buch vorgestellten Beispielcharaktere als Protagonisten im Großteil der Bilder zu verwenden. Die Qualität der Zeichnungen überzeugt durchaus und fängt die Stimmung des Settings sehr gut ein.      

Die harten Fakten:

  • Verlag: Uhrwerk-Verlag
  • Autor(en): Jack Norris
  • Erscheinungsjahr: 2017
  • Sprache: Deutsch
  • Format: Hardcover
  • Seitenanzahl: 256
  • ISBN: 978-3958671126
  • Preis: 39,95 EUR
  • Bezugsquelle: Amazon, Sphärenmeister

 

Bonus/Downloadcontent

Der größte Bonus dürften wohl die beiden Anhänge sein, die einem den Pfad des Schicksals und die Turbo-Variante von Tianxia zur Verfügung stellen. Online findet sich bislang noch nichts. 

Fazit

Laut dem Nachwort des Autors, besteht die Idee zu Tianxia seit 20 Jahren. In einer solchen Zeit kann eine Idee entweder absolut zerdacht werden, oder sie reift zu etwas wirklich Guten heran. Hier ist zum Glück letzteres geschehen. Das Regelwerk greift alle wichtigen Elemente des Wuxia und Kung-Fu auf und bettet diese in den Fateregeln ein, als wären sie nur dafür geschrieben worden. Die Grundregeln werden sinnvoll und ohne größeren Umstand erweitert.

Wer sich bislang mit Fate auskennt, findet sich ohne Problem mit den neuen Elementen zurecht. Egal ob man mit dem Genre bereits vertraut ist oder nicht: Tianxia zeigt an unzähligen Stellen auf, wie die Welt der Kampfkünste und der Menschen, die sich in ihr bewegen, gerade in Bezug auf das Rollenspiel funktioniert. Die zahlreichen optionalen Regeln ermöglichen es dann auch, die eigenen Lieblingselemente entsprechend umzusetzen. Damit sollten sich nicht nur Fans des Genres überlegen, einen Blick in dieses Buch zu werfen.

Der Preis mag in Zeiten eines immer stärker erkennbaren Preiskampfes im Rollenspielsektor relativ hoch erscheinen, lohnt sich jedoch definitiv. Allein Qualität und Aufmachung sind bestechend. Der Inhalt steht dem in nichts nach. Dass dann auch noch die alternative Charaktererschaffung mit dem Pfad des Schicksals und die Turbo Fate-Regeln als Anhänge enthalten, statt wie im englischen Original separate Erweiterungen sind, macht Tianxia zu einem klasse Deal.    

Artikelbilder: Uhrwerk Verlag
Dieses Produkt wurde kostenlos zur Verfügung gestellt.

Über den Autor

Andreas Weidner, Jahrgang 1981 und aus Franken stammend, kennt eigentlich nur ein einziges Hobby: das Spielen. Egal ob Miniaturenspiele, TCGs, LCGs, Brettspiele, LARP oder der Computer: Hauptsache spielen. Doch die Königin ist und bleibt für ihn das Pen&Paper-Rollenspiel in all seinen Facetten. 

 

 

 

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