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Neben dem umfassenden Hintergrund der World of Darkness sind es auch die vielen Regeln, die Anfänger beim Vampire Live einschüchtern. Einige Spielgruppen versuchen, weitestgehend auf ein Regelwerk zu verzichten. Wir betrachten die Vor- und Nachteile dieser und der ursprünglichen Herangehensweise.

Vielen ist das lange Ausschnucken von Kämpfen und Fähigkeiten ein Graus. Aber wie gut funktioniert ein Spiel mit weniger Regeln? Immerhin hat sich DKWDDK (Du kannst was du darstellen kannst) auch schon lange beim LARP durchgesetzt. Warum soll das beim Vampire Live nicht auch funktionieren?

Welche Vorteile hat ein Regelwerk?

Eines der wohl besten Argumente für ein Regelwerk ist die Fairness. Wenn sich alle an dieselben Regeln halten müssen und unter denselben Bedingungen spielen, fallen Faktoren wie körperliche Fitness oder Kampferfahrung weniger ins Gewicht. Besonders wenn es darum geht, einen Kämpfer zu spielen, gewährleistet ein Regelwerk, dass alle unter denselben Bedingungen kämpfen. So kann auch ein untrainierter Spieler einen Kampf gegen ein Muskelpaket gewinnen. Das ermöglicht wiederum Konzepte wie das kleine, unscheinbare Brujah-Mädchen, das seine Gegner durch die Wand prügelt.

Jeder Angriff wird durch „Schere, Stein, Papier“ oder „Schnick, Schnack, Schnuck“ ausgetragen. Im Falle eines Gleichstandes werden Werte verglichen, die sich aus dem Charakterbogen ergeben. Sowohl Angreifer als auch Verteidiger haben die Möglichkeit durch das Ausgeben von Willenskraftpunkten dieses Prozedere zu wiederholen. Insgesamt spricht man so davon, Kämpfe „auszuschnucken“.

Auch abseits von körperlichen Fähigkeiten bieten nachvollziehbare Regeln die Möglichkeit, Fähigkeiten auszuspielen, die sich ansonsten kaum darstellen ließen. Viele soziale und geistige Disziplinen, wie das Herbeirufen von Tentakeln mit Schattenspielen oder das Lesen von Auren und das Befragen von Gegenständen mit Auspex, liegen außerhalb der menschlichen Fähigkeiten. Da Vampire Live immer auch PvP bedeutet, ist es wichtig, dass übernatürliche Kräfte für alle nachvollziehbar sind und im Zweifelsfall nachgeschlagen werden können.

Allerdings hat das auch den negativen Effekt, dass jedes Mal, wenn eine Kraft eingesetzt wird, es wenigstens zu einem kleinem Timefreeze kommt. Kommt es beispielsweise zu einem Kampf mit mehr als zwei Teilnehmern, kann dieser umso länger dauern, je mehr Charaktere beteiligt sind. Da die Zeit außerhalb des Kampfes normal weiterläuft, bedeutet dies, dass es zu zeitlichen Unstimmigkeiten kommt.

Selbst wenn der Kampf ohne größere Störungen und Regeldiskussionen vonstattengeht, sind diese Verzögerungen oft nicht zu verhindern. Die häufigen Unterbrechungen werden häufig als störend empfunden. Und auch wenn die Spieler relativ regelfest sind, empfiehlt es sich, eine Spielleitung zu verständigen – insbesondere bei Kämpfen, die tödlich für die Charaktere sein können. Das wiederum führt dazu, dass die Spielleiter häufig sehr beschäftigt sind, und sich Kämpfe wiederum durch das Warten verzögern können.

Aus diesen Gründen achten auch Kämpfer, die nach Regelwerk spielen, darauf, diese Unterbrechungen gering zu halten, beispielsweise indem Spieler sich vorher auf den Ausgang einer Szene einigen. So können auch Kämpfe vorher entschieden werden, um dann den Zuschauern eine spannende Show zu liefern. Auf diese Weise müssen nicht zehn Spieler zwei Kämpfern ewig beim Schnucken zusehen.

Das Spielen ohne Schnucken

Durch den Verzicht auf das Ausschnucken und den damit verbundenen Timefreeze wird der Ablauf des Spieles deutlich flüssiger. Ein Spiel völlig ohne Regeln ist bei PvP-lastigen spielen zwar beinahe unmöglich. Allerdings ist es möglich, die Regeln sehr zu reduzieren, so dass sie einem DKWDDK-System relativ nahekommen. So hat man beispielsweise trotzdem eine bestimmte Anzahl an Lebenspunkten oder Gesundheitsstufen, die mit jedem Treffer reduziert werden. Allerdings wird der Kampf an sich ausgespielt. Die Spielleitung wird deutlich weniger beansprucht, und ohne die Unterbrechungen können sich viele Spieler besser ins Spiel vertiefen. Dadurch werden Actionszenen noch aufregender und die Spielerfahrung als Ganzes intensiver. Der Nachteil daran ist allerdings, dass nur kämpfen kann, wer auch wirklich kämpfen kann.

Nicht nur Nahkämpfe, sondern auch Feuergefechte mit Schusswaffen lassen sich so austragen. Auch hier kommen wieder deutlich mehr Fähigkeiten des Spielers zum Tragen als beim Ausschnucken, wie etwa seine Zielgenauigkeit. Der Nachteil ist hier, dass man auch etwas braucht, das geeignet ist, eine Schusswaffe darzustellen und tatsächlich in der Lage ist, Projektile zu schießen. Hier eignen sich beispielsweise Nerfguns in verschiedenen Ausführungen.

Während beim Ausschnucken die Fähigkeiten des Charakters kaum durch die Darstellung der Waffe beeinflusst werden, spielen Faktoren wie Reichweite oder Feuerrate beim direkten Ausspielen eine größere Rolle. Im Schnucksystem erhält jeder Spieler für seine Ausrüstung sogenannte Waffenkarten, die deren Qualitäten definieren. So ist der Spieler nicht gezwungen, Geld in eine möglichst gute Attrappe zu investieren, um einen guten Schützen darzustellen. Auch für das Spielen außerhalb geschlossener Räume ist es vorteilhaft, wenn die Spieler keinen waffenähnlichen Gegenstand mit sich führen müssen, sondern lediglich eine von der SL signierte Karte. Immerhin kann es leicht zu Missverständnissen kommen, wenn verdächtige Gestalten mit „Waffen“ durch die Gegend laufen.

Natürlich können auch beim Spielen nach Regelwerk Nerfguns und ähnliches verwendet werden, um eine Waffe darzustellen. Es zählen aber nur die von der SL definierten Werte auf der Waffenkarte, nicht deren tatsächliche Leistungsfähigkeit.

Eine Frage des Settings?

Es drängt sich die Frage auf, ob sich die verschiedenen Herangehensweisen besser für bestimmte Settings beziehungsweise Fraktionen eignen. Tatsächlich lassen sich leichte Tendenzen ausmachen.

Beim Intrigenspiel der Camarilla beispielsweise sind soziale Interaktion und vorsichtiges Taktieren wesentlich wichtiger als kämpferische Fähigkeiten. Hier spielt es also anscheinend eine untergeordnete Rolle, welches Herangehen gewählt wird. Allerdings können auch gerade hier übernatürliche Fähigkeiten wie Beherrschung oder Präsenz zum Einsatz kommen und entscheidenden Einfluss auf das Schicksal der Charaktere haben. Auch hier macht also irgendeine Form von Regel Sinn. Wie genau wirken sich diese und jene Kräfte auf den Charakter aus? Wie lange wirken sie? Hier machen verabredete Handzeichen oder Codewörter Sinn.

Der Sabbat ist kampflastiger und beinhaltet Clans wie Lasombra oder Tzimisce, die Disziplinen wie Schattenspiel und Fleischformen beherrschen. Besonders Schattenspiele, das Manipulieren und Kontrollieren von Schatten, ist annähernd unmöglich darzustellen und muss eigentlich immer getellt oder wenigstens beschrieben werden. Fleischformen ist zwar bis zu einem gewissen Grad darstellbar, kann dann aber schnell zu einem kostenintensiven Vergnügen werden, das zusätzlich einiges an handwerklichem Talent erfordert. Deshalb könnte man also sagen, dass sich der Sabbat weniger für ein schnuckfreies Spiel eignet.

Insgesamt lässt sich festhalten, dass Regeln immer mehr Sinn machen, je mächtiger die bespielten Charaktere sind und je mehr übernatürliche Fähigkeiten sie beherrschen. Gruppen, die überwiegend aus jungen Vampiren bestehen, die noch über weniger übermenschliche Kräfte verfügen, lassen sich einfacher ohne komplizierte Regelwerke darstellen. Es gibt aber auch Spieler, die der Auffassung sind, dass es gerade die Disziplinen und übernatürlichen Fähigkeiten sind, die das Spiel als Vampir ausmachen. Dabei geht es nicht nur um den Spaß, übernatürliche Kräfte auszuspielen, sondern auch um den Umgang miteinander. Wenn jeder Mitspieler über enorme Kräfte verfügt, die mir gefährlich werden können, gehe ich anders mit ihm um und er anders mit mir. Ein wichtiger Unterschied zum klassischen Fantasy-LARP ist, dass hier alle Spieler übermenschliche Geschöpfe darstellen, weshalb sich DKWDDK nicht immer sinnvoll anwenden lässt.

Jeder, wie er mag

Unterm Strich gibt es nur Tendenzen, welche Spielart sich für welches Setting am besten eignet. Die größte Rolle bei dieser Entscheidung spielen natürlich die Spieler. Allerdings sollte diese Entscheidung gleich zu Anfang getroffen werden, weil das nachträgliche Einführen oder Weglassen eines Regelwerks problematisch sein kann und je nach Gewohnheitsgrad der Spieler oft nicht möglich ist. Nicht selten ist die Umstellung auf ein anderes Regelwerk oder Vorgehen mit einem Reset des gesamten Spieles verbunden, was für Spieler, die viel Zeit und Mühe in den Werdegang ihres Charakters investiert haben, sehr frustrierend sein kann.

Beide Herangehensweisen haben ihre Vor- und Nachteile. Während die eine auf eine intensive und flüssige Spielerfahrung setzt, ermöglicht die andere das Ausspielen gewaltiger Fähigkeiten und übernatürlicher Kräfte. Oft ist es auch eine Frage, wie man Vampire Live insgesamt betrachtet: Sehe ich es als Vampire-LARP oder als eine Erweiterung des klassischen Pen & Papers?

Beim ursprünglichen Pen & Paper spielt Telling naturgemäß auch eine große Rolle. Sieht man Vampire Live als dessen Erweiterung an, lässt dies das Spiel mit ausführlichem Regelwerk natürlicher wirken. Betrachte ich es andererseits als LARP mit Vampiren, ist jede Regel, die mich zwingt, mein Spiel zu unterbrechen, ungünstig und trübt meine Spielerfahrung.

Eigentlich sind beide Herangehensweisen ein Kompromiss, nur jeweils von der anderen Seite. Die einen kämpfen mit Regeln, versuchen aber, um den Spielfluss zu gewährleisten, auszuspielen was Sinn ergibt. Und die anderen kämpfen zwar mit vereinfachten Regeln, können aber doch nicht zu 100 Prozent darauf verzichten.
Jeder Spieler muss selber wissen, was für einer Spielgruppe er sich anschließen will. Sollte man eine bestimmte Gruppe im Sinn haben, kann es nicht schaden, sich vorher über deren Herangehensweise zu informieren. Beide Varianten haben ihre Anhänger und Kritiker. Allgemein lässt sich nur schwer von einer besseren Methode sprechen, sondern immer nur von einer besser geeigneten. Wichtig ist, nicht zu vergessen, dass es sich trotz allem um ein Spiel handelt und der gemeinsame Spaß im Vordergrund stehen sollte. Und auch Spieler einer Gruppe, die anders an die Sache herangeht, sollten nicht missioniert werden, denn immerhin spielen wir alle das gleiche Spiel, nur eben anders.

Artikelbilder: Morraspiel im Freien (Johann Liss, um 1622), gemeinfrei. Sonst ©Nächtliches Theater

Über den Autor

Robert Hess studiert Ressortjournalismus in Ansbach und verbindet damit Hobby und Studium. Als leidenschaftlicher LARPer treibt er sich hauptsächlich in Süddeutschland auf diversen Cons rum. Über dieses phantastische Hobby schreibt er nun auch bei den Teilzeithelden und widmet sich dabei Praxistipps ebenso wie Bastelanleitungen.

 

 

 

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