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Als das Imperium der Masken seine Heimat unterwirft, schwört ein kleines Mädchen Rache. Doch um dem Feind schaden zu können, muss es sich ihm zunächst anschließen. Seth Dickinsons Romandebut zeichnet den Aufstieg einer brillanten Politikerin nach, die in einem Netz aus Intrigen und Rebellion zu überleben versucht.

Manche Romane sind nicht für jeden geeignet. Oft sieht man zum Beispiel als Liebhaber eines bestimmten Genres gerne über jene Schwächen des aktuellen Lesestoffs hinweg, über die andere nur den Kopf schütteln können. Daneben gibt es jedoch auch Romane, die sich von Anfang an nur an eine sehr kleine Zielgruppe richten und jeden, der nicht in diese Zielgruppe fällt, zwangsläufig enttäuschen werden. Seth Dickinsons Die Verräterin fällt in letztere Kategorie. Wer mit politischer Fantasy in all ihren Ausprägungen von höfischen Intrigen bis hin zu drängenden Wirtschaftsfragen fiktionaler Königreiche nichts anfangen kann, für den heißt es an dieser Stelle entsprechend: weitergehen, hier gibt’s nichts zu sehen! Das gilt auch für alle, die beim Lesen in phantastische Welten flüchten möchten, in denen Fragen nach Macht, Unterdrückung und politischer Verfolgung keine Rolle spielen.

Wen hingegen die Aussicht auf neun verschiedene Herzogtümer, komplizierte Namen und Verwandtschaftsverhältnisse sowie ein obligatorisches Dickicht aus Lügen und Intrigen nicht schrecken, wer bei großen Schlachten ohnehin genervt weiterblättert und sich fragt, wie eigentlich die Versorgung der ganzen Armeen organisiert wird, für den gilt: Komm näher und tritt ein in die Welt der Verräterin Baru Kormoran. Aber mach dich auf was gefasst!

Story

Als das Imperium der Masken die ersten Händler in das Inselreich Taranoke entsendet, werden diese freundlich aufgenommen. Die Fremden machen große Versprechungen. Sie wollen ihr überlegenes Wissen mit den Einheimischen teilen, bauen Schulen und reden von Fortschritt. Doch die Wahrheit sieht anders aus. Schnell gelten die Sitten der Inselbewohner als barbarisch, Seuchen gehen um und Familien werden auseinandergerissen. Stillschweigend und schleichend wird Taranoke von einem freien Land zur Kolonie, ohne dass es zuvor einen Krieg gegeben hätte. Baru Kormoran, ein frühreifes und ungewöhnlich wissbegieriges Kind, ahnt die drohende Zerstörung ihrer Heimat und fasst einen Plan. Wie das Imperium ihre Heimat von innen erobert hat, so wird sie eines Tages das Imperium auch von innen heraus zu Fall bringen. Zu diesem Zweck verlässt sie ihre Familie und besucht die Schule der Fremden, lernt wie sie zu denken und wie sie zu leben, in der Hoffnung, als Erwachsene die Akademie von Falcrest besuchen zu dürfen und in die Nähe der eigentlichen Machthaber zu kommen. Ihre Hochbegabung und ihr Ehrgeiz bleiben nicht unbemerkt, doch nach der Abschlussprüfung findet sich Baru mit einem unerwarteten Titel und einer noch weniger erwarteten Aufgabe wieder: Als neu ernannte Reichsbuchhalterin soll sie in die abgelegene Kolonie Aurdwynn reisen, welche kurz vor der offenen Rebellion steht, und dort für Frieden sorgen.

In Aurdwynn angekommen findet sich Baru in einer wackeligen Machtposition wieder, die ihr jeder streitig macht. Die Kolonie umfasst neun Herzogtümer, deren Loyalitäten es zu sichern gilt, aber auch die beiden anderen Abgesandten des Imperiums, die mit Baru zusammen herrschen sollen, wirken alles andere als vertrauenerweckend. Was verbergen sie und was ist mit den beiden Reichsbuchhaltern vor ihr geschehen, die das Amt nur kurz bekleideten? Wie soll Baru die komplizierte Politik Aurdwynns beeinflussen, wenn ihr als Buchhalterin keinerlei Militärgewalt zukommt? Auf ihrer Suche nach der Wahrheit kommt Baru einer Verschwörung auf die Schliche – und sieht erstmals eine konkrete Möglichkeit, sich gegen das Imperium der Masken aufzulehnen. Doch ihre Feinde bleiben ebenfalls nicht untätig und Baru weiß, dass sie angreifbar ist. Schon lange trägt sie ein Geheimnis mit sich herum, das sie weit mehr kosten kann als nur ihren Posten …

Die Verräterin ist ein komplexer und in mancherlei Hinsicht anspruchsvoller Roman, der von seinen Lesern viel Aufmerksamkeit fordert. Er ist klug geschrieben und nach der etwas lang geratenen Exposition überschlagen sich die Ereignisse so, dass man unmöglich sagen kann, was als nächstes geschieht. Die vielen Figuren und ihre unterschiedlichen Hintergründe auf dem Schirm zu haben, wird mit einem großartigen Finale belohnt, auf das George R. R. Martin neidisch wäre. Dass der Anfang ein wenig zäh erscheint, liegt vor allem daran, dass das Buch sich als Charakterstudie seiner Protagonistin versteht und sicherstellen will, dass man ihren Hintergrund kennt. Insofern ist das Wissen um das Inselreich Taranoke zentral für das Verständnis der Handlung. Was zunächst anmutet wie eine etwas plumpe Allegorie auf westliche Kolonialmächte, entpuppt sich rasch als ambitioniertes Worldbuilding, dessen Realitätsbezug eine ganz andere Stoßrichtung hat. Das Imperium der Masken ist eine expandierende Wirtschaftsmacht, die hinter ihrer friedlichen Fassade absolut faschistisch ist. Exemplarisch dafür ist ihre Besessenheit von Rassenoptimierung, die jedoch eine für die Handlung untergeordnete Rolle spielt. (Dass Autor Seth Dickinson in seinem ersten Roman von einem derart heiklen Thema lieber die Finger lässt, kann man ihm auch schwer zum Vorwurf machen.) Stattdessen ist es die nicht weniger faschistische Maxime der „Sozialhygiene“, auf die sich die Handlung konzentriert. Falcrest propagiert ein streng heteronormatives Familienbild, von dem abzuweichen als unhygienisch gilt. Die Protagonistin erlebt bereits früh die Konsequenzen dieses Dogmas, als einer ihrer beiden Väter unter ungeklärten Umständen verschwindet. Als sie heranwächst, nimmt die Bedrohung noch größere Ausmaße an: Das Imperium schreibt vor, die Liebe zwischen Frauen sei nur durch Genitalverstümmelung zu heilen, und Baru ahnt, dass sie einen Teil ihrer Persönlichkeit besser tief in sich verbergen sollte – wenn möglich sogar vor sich selbst.

So erhält die Story, neben ihren klugen Intrigen und überraschenden Wendungen, noch eine weitere Ebene, auf der Spannung erzeugt wird. Man ahnt Barus Geheimnis beim Lesen schon recht früh und fürchtet um sie, wann immer sie freundschaftliche Bande mit einer anderen Frau knüpft. Es scheint nur eine Frage der Zeit zu sein, bis sie sich verliebt und ihren Feinden damit das Mittel an die Hand gibt, sie zu vernichten. Natürlich sind homosexuelle Charaktere in der heutigen Phantastik keine Seltenheit mehr, allerdings hat die sexuelle Orientierung dabei meist keine grundlegende Auswirkung auf die Handlung. Das muss auch nichts Schlechtes bedeuten, denn weshalb sollten Figuren aus dem LGBT+ Spektrum keine universellen Geschichten zu erzählen haben? Die Verräterin aber macht die Homosexualität seiner Protagonistin zu einem zentralen Element der Story und erzählt so eine spezifische Geschichte über verborgene Gedanken und die ständige psychische Belastung erzwungener Heimlichkeit. Baru Kormoran nutzt ihre hohe Position in einem Reich, das sie absetzen und verstümmeln würde, wenn die Wahrheit über sie bekannt wäre, um eine Familie zu rächen, die sie eigentlich nicht verloren, sondern verlassen hat, um Rache zu nehmen. Diese inneren Widersprüche und Konflikte machen sie zu einer der faszinierendsten Figuren der letzten Jahre.

Wie kaum ein anderer Roman steht und fällt Die Verräterin mit seinem Ende, wenn das Buch jedes Versprechen, das zuvor zwischen den Zeilen gemacht wurde, einlöst. Dickinson denkt seine Prämisse so konsequent zu Ende, dass es eine Freude wäre, fühlte man sich nicht gleichzeitig so sehr vor den Kopf gestoßen. Ich habe dieses Ende geahnt und irgendwie auch erhofft, kann es also beim besten Willen nicht unbesprochen lassen. Wer sich lieber komplett überraschen lassen will, sollte den folgenden Abschnitt dementsprechend besser nicht lesen.

Spoiler

Der Roman kündigt von Vornherein an, wessen Geschichte er erzählt, denn schon der Titel stößt einen auf die Frage, deren Beantwortung die eigentliche Spannung ausmacht: Wen verrät Baru Kormoran? Verrät sie ihre Heimat, als sie sich der Maskerade anschließt? Wird sie die Gelegenheit nutzen, das Imperium der Masken zu verraten, wenn Sie einer offenen Rebellion begegnet? Oder verrät sie alles und jeden, um eines fernen Tages die Macht zu erlangen, die sie sich als Kind erträumt hat, an jenem Tag da ihr Vater nicht zurückkehrte und sie Rachepläne schmiedete? Alle Ansätze ergäben gute Bücher, aber nur einer davon ergibt ein großartiges, weil er eine Geschichte erzählt, die man sonst nur aus der Retrospektive kennt. Baru Kormoran ist eine Figur, wie sie in vielen Erzählungen vorkommt. Sie ist die Figur, die alle für böse halten, die dem Antagonisten bereits so lange dient, dass niemand ihre Loyalität zu diesem anzweifelt, die gefürchtet und gehasst wird, nur um sich ganz kurz vor dem Ende plötzlich als heimlicher Mitstreiter zu erkennen zu geben. Im Allgemeinen sind es Nebenfiguren, die dem Helden zur Hilfe eilen und deren Vergangenheit kurz offenbart wird, bevor sie sich für das Gute opfern dürfen. Niemand fragt danach, wie es war, all die Jahre unerkannt zu bleiben und den Willen seines ärgsten Feindes auszuführen. Niemand fragt, was die Figur opfern musste und was in ihr vorging, als sie alles verriet, was ihr wichtig war, um am Ende verraten zu können, was sie hasst. Mit Das Imperium der Masken erzählt Seth Dickinson diese Geschichte. Die Verräterin aber ist nur der erste Schritt auf Barus Weg und kann daher nur einen logischen Ausgang nehmen.

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Schreibstil

Obwohl er ziemlich figurenreich ist, fokussiert der Roman konsequent auf die Protagonistin. Neben handlungsreichen Passagen, die meist ein ordentliches Tempo vorlegen, gibt es auch immer wieder Abschnitte, die der Charakterstudie dienen und deren Bedeutung für die Handlung nicht unmittelbar ersichtlich wird. Introspektive Passagen sind bei einer Heldin, deren Stärke ihr scharfer Verstand ist, nicht ungewöhnlich, es geht aber auch immer wieder darum, verständlich zu machen, was Baru Kormoran antreibt, ausbremst und letztlich zu der Person macht, die sie ist. In dieser Hinsicht brauchen die Leser ein wenig Geduld, die sich jedoch auszahlt.

Bei den handlungsrelevanten Namen und Orten den Überblick zu behalten ist zwar nicht immer ganz leicht, aber auf keinen Fall schwieriger als bei vergleichbaren größer angelegten Fantasy-Epen. Da man die meisten Namen ohnehin nachschlagen kann – die mit Hinweisen beschriftete Karte ist eines der hilfreichsten Beiwerke, die ich seit langem gesehen habe – entsteht keine unnötige Verwirrung. Auf den ersten Blick lassen sich keine etymologischen Regeln hinter der Namenswahl erkennen, aber das bunte Zusammenwürfeln von verschiedenen Sprachstämmen ist ja durchaus eine Genrekonvention.

Der Autor

Seth Dickinson hatte eigentlich eine Karriere in den sozialen Neurowissenschaften geplant, doch seine Leidenschaft für das Schreiben führte ihn auf einen anderen Weg. 2011 veröffentlichte er seine erste Kurzgeschichte. Neben weiteren kleinen Veröffentlichungen war er auch als Autor für Videospiele tätig – unter anderem für Bungies Erweiterung Destiny: The Taken King. Die Verräterin ist sein erster Roman und erschien in den USA 2015 unter dem Titel The Traitor Baru Cormorant. Die Fortsetzung seiner Imperium der Masken-Saga– The Monster Baru Cormorant – ist bereits in Arbeit.

Erscheinungsbild

Das eigentlich recht schlicht gehaltene Cover zeigt die schwarze Silhouette eines Vogels auf weißem Grund. Auf den Schwingen sieht man ein Gesicht – oder eine Maske. Symbolträchtig, symbolträchtig. Die Buchqualität entspricht dem gewohnt hohen Standard des Verlags, auch wenn es vergleichsweise schmucklos ist. Auch die Kapitel werden mit kleinen Vogelsilhouetten eingeleitet. Ich gehe davon aus, dass es sich dabei um Kormorane handeln soll, möchte aber in einem Anflug von ornithologischer Besserwisserei darauf hinweisen, dass sie bestenfalls entfernt an diese Vogelart erinnern.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Fischer Tor
  • Autor: Seth Dickinson
  • Erscheinungsdatum: 22. Juni 2017
  • Sprache: Deutsch (aus dem Amerikanischen von Jakob Schmidt)
  • Format: Broschiert
  • Seitenanzahl: 560
  • ISBN: 978-3-5962-9672-9
  • Preis: 16,99 EUR
  • Bezugsquelle: Amazon

 

Bonus/Downloadcontent

Die oben genannte Karte ist eine große Hilfe und dient neben der räumlichen Orientierung auch als Glossar. Die Herzogtümer sind jeweils mit dem Namen des Herzogs und drei Stichworten gekennzeichnet, welche die Gegend aus Sicht der Protagonistin charakterisiert. So weiß man immer sofort, um wen es gerade geht, selbst wenn man sich Herzog Unuxekome nur als „der Piratentyp“ gemerkt hat. Großes Plus!

Auf Amazon gibt es einen Blick ins Buch.

Fazit

Mit Die Verräterin leitet Seth Dickinson eine ambitionierte Saga ein, die sich schwierigen Themen stellt und mit ihrem klaren Schwerpunkt auf politischen Vorgängen eine zahlenmäßig eher begrenzte Leserschaft ansprechen dürfte. Die Geschichte einer jungen Frau, die das Imperium, welches ihr ihre Heimat genommen hat, von innen heraus zerstören will, ist klug erzählt und mit geradezu skrupelloser Konsequenz umgesetzt. Bei allem Realismus gehen die Beschreibungen eines totalitären Imperiums niemals in Exploitative über, so dass man zwar mitunter starke Nerven, aber nie einen starken Magen braucht. Baru Kormoran ist eine ungewöhnliche Protagonistin, deren Ambitionen und inneren Kämpfe Mia Corvere aus Nevernight aussehen lassen wie ihre harmlose kleine Schwester. Das Buch ist keine leichte Lektüre, belohnt aber aufmerksame Leser mit spannenden Wendungen und einem der besten Enden, die ich seit langem gelesen habe.

Es war während der Lektüre meine größte Sorge, dass der Roman vor seiner eigenen Prämisse zurückschrecken und sich nicht trauen könnte, aufs Ganze zu gehen. Doch er tut es, und bei so viel Mut kann man über ein paar lose Enden, die hier und da aus dem Gewebe der Erzählung hervorschauen, schon mal hinwegsehen. Wenn Baru Kormorans Lebensweg sich fortsetzt, wie Die Verräterin andeutet, blicke ich der Fortsetzung mit einer Mischung aus Entsetzen und absoluter Begeisterung entgegen.

Artikelbild: Fischer Tor, Bearbeitung: Frank Münschke
Dieses Produkt wurde kostenlos zur Verfügung gestellt

 

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