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Areto glaubt von sich selbst, niemand Besonderes zu sein. Der Schatten, der sie seither begleitet, lässt nichts anderes zu. Und doch erwählt Artemis sie, das Blatt der Amazonen im Krieg zu wenden. Doch was kann Areto gegen Gottheiten und Helden ausrichten? Wie auch immer, die Götter müssen sterben.

Meine letzte Begegnung mit griechischer Mythologie besteht aus Hades, ein Spiel, das den Gott Zagreus im Mittelpunkt hat. Davor habe ich mich zuletzt intensiv mit griechischer Mythologie beschäftigt, als ich die Percy Jackson-Reihe von Rick Riordan gelesen habe. Das war etwa zur gleichen Zeit, als wir über griechische Mythologie in der Schule gesprochen haben (also schon ein paar Jährchen her). Bis auf die Jägerinnen der Artemis in Percy Jackson, die grob an die Amazonen angelehnt sind, haben diese in keinem der Fälle eine Rolle gespielt. Ein Grund mehr, sich Die Götter müssen sterben mal etwas genauer anzuschauen.

Story

Worum geht es? Die Götter müssen sterben beginnt mit dem Raub der Amazonenprinzessin Antiope durch Theseus und den Überfall der Amazonen auf Athen, um Antiope zurückzuholen. Erzählt wird dies aus der Sicht von Areto, einer Athenerin, die Theseus das Haus führt und die gegen ihren Willen mit einem seiner Berater verheiratet ist. Der Angriff der Amazonen ist ihr Weg aus dieser Hölle. Sie hilft den Amazonen, Antiope zu finden, mit der sie sich in der Zwischenzeit angefreundet hat. Als Aretos Ehemann sich ihr in den Weg stellt, tötet sie ihn mit Theseus‘ Schwert und bringt seinen Kopf als Geschenk, um bei den Amazonen aufgenommen zu werden. So beginnt ihr Leben in Themiskyra bei den Mondtöchtern mit ihrem Sohn Phileas, den sie dort zur Welt bringt.

Das Leben könnte so schön sein, wenn nicht der Trojanische Krieg wäre, der bereits wütet. Die Amazonen sind gespalten, ob sie in diesen Krieg eingreifen sollten oder nicht, bis ihnen schließlich Artemis erscheint, Areto erwählt und mit ihren Kräften segnet. Unter Penthesileas Führung ziehen sie gen Troja, um der Stadt ihre Streitmacht zur Verfügung zu stellen.

Die Geschichte, die Bendzko aus und um griechische Mythen spinnt, ist spannend und lässt nicht zu, dass die Lesenden das Buch aus der Hand legen. Mein Schlafrhythmus bedankt sich. Fünf Gesänge, die sich in einen Prolog und 39 Kapitel teilen, zeichnen blutig und gewaltvoll den Weg nach Troja und in die große Schlacht hinein. Bis auf wenige Ausnahmen werden diese aus der Sicht von Areto, Penthesilea und Clete, einer Kriegerin der Amazonen und Vertrauten von Areto, erzählt. Bendzko versteht es hierbei, nicht nur die Schlachten spannend zu gestalten, sondern auch die zwischenmenschlichen Momente, die die Figuren zu Leben erwecken. Da ist Penthesilea, deren Vergangenheit droht, das Vertrauen der Amazonen in sie zu zerstören. Clete Schildhaut, die ihre Blutgier nutzt, um zu schützen, statt zu zerstören. Das tanzende Schwert Iphito, dier als Vielselige trotz Phallus eine Kriegerin ist. Bremusa, derb aber herzlich. Lacomache, zweifache Ehefrau, dreifache Mutter und Kriegerin. Und natürlich Areto, die immer wieder gegen ihren Schatten kämpft, der droht, sie in den Tartaros hinunterzuziehen.

Es waren diese Beschreibungen, die mir beim Lesen am meisten die Luft geraubt haben. Umso dankbarer war ich für die Content Notes zu Beginn, die unter anderem auf die Darstellungen depressiver Stimmungen hinweisen. Die blutige und sexuelle Gewalt, auf die ebenfalls hingewiesen wird, ist niemals reiner Selbstzweck. Eine Geschichte über kriegerische Frauen, die sich gegen das Patriarchat auflehnen, lässt sich ohne solche nicht glaubhaft erzählen. In Die Götter müssen sterben gibt es massenhaft abgetrennte Körperteile und seelische Verletzungen; und doch hat es keine Gemeinsamkeiten mit einem Gewaltporno. Bendzko weiß, wie viel Gewalt es braucht und wann es unnötig zu viel wäre.

Die Schlacht um Troja ist hier das Crescendo, aufgebaut durch mehrere kleinere Kämpfe, die niemals rein körperlich sind. Die emotionale Verfassung der Kämpfenden ist mindestens ebenso wichtig wie das Aufeinandertreffen der Waffen und das Zufügen der Wunden.

Schreibstil

Wie oben bereits erwähnt, wird bis auf wenige Ausnahmen aus der Sicht von Areto, Penthesilea oder Clete erzählt. Die Geschichte ist dabei flüssig lesbar; nur hin und wieder wirkt die verwendete Sprache unnötig gestelzt und mag nicht so recht zum Rest passen. Darüber kann man allerdings problemlos hinweglesen und wer behauptet, dass ein gegenderter Roman nicht lesbar ist, hat hiermit meine herzliche Einladung, sich Die Götter müssen sterben genauer anzusehen. Bendzko arbeitet mit Sprache so sauber, dass es eine Freude ist. Das generische Maskulinum wird nur verwendet, wenn auch ausschließlich Männer gemeint sind. Das generische Femininum wird ebenso verwendet wie genderneutrale Bezeichnungen. Wenn Artemis also zum Tod der Götter aufruft, stellte sich zumindest mir die Frage, ob damit wirklich nur die männlichen Gottheiten gemeint sind oder ob es nicht der Tod des Patriarchats ist, den sie im Sinn hat.

Die Genauigkeit der Sprache wird auch in der Nutzung der Pronomen deutlich. Iphito ist vielselig und würde sich, gemäß dem Nachwort, heute als nichtbinär bezeichnen. Anstatt das entmenschlichende „es“ zu benutzen, verwendet Bendzko mit „sier“ eine Variante der Neopronomen, die nichtbinäre Menschen im deutschsprachigen Raum nutzen. Dies geschieht mit einer Einfachheit, die zeigt, dass queere Menschen nicht unsichtbar gemacht werden müssen, sondern ihren Platz in der Geschichte verdienen. Dieses Unsichtbarmachen von nichtbinären Menschen in der Geschichtsschreibung wird ebenso mühelos thematisiert wie Asexualität, Transgeschlechtlichkeit, Homosexualität und Polyamorie: ohne unnötige Informationsflut oder erhobenen Zeigefinger und so sehr im Text verwoben, dass man sich unwillkürlich fragt, wie es in unserer Gesellschaft noch etwas außergewöhnliches sein kann. Körperliche Behinderungen haben ebenso selbstverständlich ihren Platz wie psychische Krankheiten. Mehr davon, bitte!

Die Welt von Die Götter müssen sterben ist lebhaft und die Gruppe der Charaktere besteht größtenteils aus People of Colour, was nicht verwundern sollte, wenn man bedenkt, dass die Ruinen Trojas im heutigen Nordwesten der Türkei verortet werden. Dementsprechend sind auch die Gottheiten nur in Ausnahmefällen Weiße. Gerade wenn es um die Gottheiten geht, wird klar, dass Bendzko hier einiges an Wissen hat. An diesen Stellen hätte ich mir durchaus ein wenig mehr Erklärungen gewünscht. Zwar wird angedeutet, dass die Gottheiten in unterschiedlichen Gestalten, die verschiedene Punkte ihres Wesens betonen, erscheinen können; ohne das Wissen um die jeweiligen Formen habe ich hier allerdings das Gefühl, dass mir eine Bedeutungsebene fehlt. An anderen Stellen wiederum scheint Bendzko ihren Leser*innen nicht zu trauen, sich selbst genügend Gedanken zu machen, sodass sie Erklärungen für die Motivation und Handlungen Ihrer Charaktere anschließt. Hier wäre weniger mehr gewesen.

Die Autorin

Nora Bendzko ist Teil der dunklen Phantastik und insbesondere für ihre Galgenmärchen, dunkle Neuinterpretationen geläufiger Märchen, bekannt. Geboren 1994 in München, hat sie Wien zu ihrer Wahlheimat erkoren und studiert dort. Mehr zu ihren bisher erschienenen Geschichten ist auf ihrer Webseite zu finden.

Erscheinungsbild

Das Cover wurde von Christl Glatz gestaltet und zeigt eine gesichtslose Frau mit Bogen in leichter Rüstung. Der Vollmond im Hintergrund lässt den Schluss zu, dass es sich dabei um Artemis, höchste Göttin der Amazonen handelt. Gemeinsam mit dem Titelschriftzug ist das Cover schlicht gehalten, besticht aber gerade dadurch. Keine unnötigen Schnörkel und die Verbindung zum Inhalt des Buches ist ebenfalls klar.

Das Papier fühlt sich angenehm an und der Satz ist so gewählt, dass möglichst viel Platz auf der Seite genutzt wird. So beginnen die Kapitel nicht jedes Mal auf einer neuen Seite, was ich sehr begrüße.

Der Klappentext gibt tatsächlich eine Idee davon, wovon Die Götter müssen sterben handelt und besteht nicht aus leeren Werbehülsen, mit denen Interessierte nichts anfangen können.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Knaur
  • Autor*in: Nora Bendzko
  • Erscheinungsdatum: Juni 2021
  • Sprache: Deutsch
  • Format: Taschenbuch
  • Seitenanzahl: 512 Seiten
  • ISBN: 978-3-426-52611-8
  • Preis: 14,99 EUR (Print) + 9,99 EUR (E-Book)
  • Bezugsquelle Fachhandel, Amazon, idealo

 

Bonus/Downloadcontent

Der Bonuscontent besteht in diesem Fall aus einem Nachwort, in dem Bendzko sich wie zu Beginn des Buches versprochen Zeit nimmt, ein paar Fragen zu Quellen und Darstellungen zu klären. Gerade für diejenigen Leser*innen, für die „historische Korrektheit“ über allem steht, sei diese Lektüre sehr ans Herz gelegt. Außerdem ist es der perfekte Platz, um Rechercheliteratur zu den Amazonen auf den Lesestapel zu packen, sollte man noch nicht genug haben.

Fazit

Die Götter müssen sterben ist ein mächtiger Roman – nicht im Hinblick auf die Seitenzahl, sondern auf die Themen, die besprochen werden, und die Figuren, die diese Welt bevölkern. Areto, Clete und Penthesilea werden mich eine ganze Weile begleiten. Es ist kein Wohlfühl-Roman in dem Sinne, dass alles aus rosa Wattewolken besteht und gut ausgeht; das offene Ende lässt genug Raum für Interpretationen, was nach der letzten Seite geschehen könnte. Aber er macht Mut. Mut, wie Artemis gegen Zeus zu rebellieren. Mut, sich wie die Amazonen den Männern entgegenzustellen, die allein aufgrund von körperlichen Merkmalen Schwäche zuschreiben wollen. Mut zu lieben. Und Mut, gegen den Schatten zu kämpfen, den man mit sich herumträgt.

Die Götter müssen sterben hat mich aufgewühlt, aber wie Areto habe ich das Gefühl, stärker daraus hervorgegangen zu sein. Wie gesagt, es ist keine leichte Kost; Blut tropft von den Seiten und die Schreie der Gequälten und Toten hallen nach. Mal gibt es zu viele Erklärungen, mal zu wenige. Aber ich würde den Roman jedem Menschen ans Herz legen, der oder die sich hin und wieder hilflos und als Spielball der Götter fühlt. Wir alle tragen eine Amazone in uns. Wir müssen sie nur wecken.

  • Starke Frauen
  • Cast aus queeren PoC
  • Depression ist keine Schwäche
 

  • Mal zu viele Infos, mal zu wenig
  • Viel blutige und sexuelle Gewalt

 

Artikelbilder: © Knaur
Layout und Satz: Melanie Maria Mazur
Lektorat: Alexa Kasparek
Dieses Produkt wurde kostenlos zur Verfügung gestellt.

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