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Am Anfang war das LARP….

Anfang diesen Jahres schrieb ich einen Bericht über das LARP „KNB 109 M“ (Klick). In diesem Artikel berichtete ich unter anderem, dass die Paranoia, die während des Spiels aufgebaut wurde,  teilweise in mein privates Leben abseits des Rollenspiels übergegriffen hatte. Dies alles liegt nun weit hinter mir, und ich spüre die dort beschriebenen Auswirkungen schon längst nicht mehr. Jedoch finde ich es an der Zeit, diesen Effekt einmal genauer zu beleuchten. Einige Leute meinten im Nachhinein zu mir, wenn sich mein Charakter und Ich so sehr vermischen würden, sollte ich überlegen, mit dem Liverollenspiel aufzuhören. Doch als ich mich mit dem Thema genauer befasste, stellte ich fest, dass dieser Effekt an sich gar nicht so ungewöhnlich ist wie man es vielleicht vermuten würde. Im Gegenteil treffen wir ihn im Liverollenspiel sogar sehr häufig an. Ich wage sogar zu behaupten, dass jeder (Live-)Rollenspieler bereits damit Erfahrung gemacht hat.

Nordic-Larp

In den nordeuropäischen Ländern (Schweden, Finnland, Norwegen….) hat sich eine komplett andere Larp-Kultur entwickelt, als wir sie in Deutschland gewöhnt sind. Oft werden dort künstlerische oder auch gesellschaftskritische Aspekte angeschnitten, die Settings sind sehr viel weiter gestreut und auch die Locations sind oftmals spezieller. Sei es ein LARP über ein surreales dänisches Gefangenenlager (Klick) oder ein Sci-Fi-Setting, das in einem ehemaligen Zerstörer der schwedischen Flotte gespielt wurde um das Raumschiff zu simulieren (Klick). Dies sind nur zwei Beispiele einer langen Liste welche zeigen, wie anders Nordic Larp (Klick) im Vergleich zu Deutschland ist. So visionär, wie sie in der Praxis sind, so fortgeschritten sind diese Länder allerdings auch in der Theorie und Forschung. Vielmehr wird sich dort Gedanken darüber gemacht, wie und wieso (Live-)Rollenspiel funktioniert, welche psychologischen und sozialen Mechanismen dahinterstehen und wie man diese steuern kann.

Eine dieser Möglichkeiten ist das sogenannte Bleeding (Klick). Unter Bleeding, was übersetzt so viel wie bluten heißt, versteht man das ineinander überfließen von Emotionen und Gedankengängen zwischen Spieler und Charakter. Der Charakter „blutet“ also in den Spieler über und umgekehrt auch der Spieler in den Charakter. Zugegeben, das Ganze klingt ziemlich konfus und schwer vorzustellen. Vor allem, da sicherlich einige gleich die vielzitierte IT/OT-Trennung herbeirufen werden, versuche ich nun, Bleeding anhand einiger Beispiele zu erläutern. Denn Bleeding ist nicht nur etwas, das im Nordic-Larp passiert, sondern auf jeder 08/15-Fantasy-Con in Deutschland zu finden ist.

Vom Kleinen zum Großen

Nehmen wir einmal an, Spieler A und Spieler B mögen sich nicht, da sie in der Vergangenheit ein paar Querelen miteinander auf persönlicher Ebene gehabt haben. Als nun Spieler A und Spieler B auf derselben Con aufeinandertreffen, gehen sie sich bereits vor dem Time-In aus dem Weg. Die Charaktere der beiden Spieler kennen sich zwar nicht, doch allein weil Spieler A keine Lust darauf hat mit Spieler B zu spielen ist es wahrscheinlich, dass der Charakter von A eine natürliche Abneigung gegen den Charakter von B entwickelt, um einen Grund zu haben, das Spiel mit ihm zu vermeiden. Die beiden Charaktere brauchen noch nicht einmal miteinander zu tun haben, um sich unsympathisch zu sein. Hier fließt also eindeutig die Spieleremotion in die Charaktere mit ein. Dies ist ein auf Liverollenspielen häufig anzutreffendes Verhalten. In meinen Augen ist dies auch überhaupt nicht verwerflich. Im Gegenteil sehe ich es sogar als mein gutes Recht an, zu entscheiden, mit wem ich in meiner Freizeit und meinem Hobby spiele.

Umgekehrt gilt dies natürlich genauso. Es kann durchaus vorkommen, dass meinem Charakter ein anderer Charakter äußerst unsympathisch (bzw. umgekehrt natürlich auch sympathisch) erscheint, und ich daher dann auch mit einer äquivalenten Grundeinstellung an eine persönliche Beziehung zwischen dessen Spieler und mir herangehe.

Ein anderes Beispiel, das einmal den durchaus praktischen Nutzen von Bleeding aufzeigt:

Eine Bekannte von mir ist im realen Leben eine eher schüchterne und zurückhaltende Person.  Im Vampire-Live spielt sie eine taffe und kalte Geschäftsfrau. Sie berichtete mir nun davon, dass sie festgestellt hatte, in geschäftlichen Telefonaten automatisch ein stückweit die Charakterzüge ihres Vampire-Live Charakters zu übernehmen und so viel selbstsicherer aufzutreten, als dies früher der Fall gewesen war. Auch hier fließt eindeutig ein Teil des Charakters in den Spieler ein. Woran liegt dies aber nun?

Der Spieler, Der Charakter und der gemeinsame Körper

Das Stichwort heißt Embodiment, die Verkörperung der Spielfigur. Im Liverollenspiel teilen sich Spieler und Charakter denselben Körper. Hierdurch erfahren wir als Person durch unseren eigenen Körper sehr direkt das, was unserem gespielten Charakter wiederfährt. Damit dies nicht ungefiltert geschieht, zieht unser Geist automatisch Schutzmauern. Diese sind dafür da, die Erfahrungen im Spiel auch als solche zu bewerten und zu verarbeiten. Je tiefer allerdings die Immersion und je tiefer vor allem auch die Emotion die mit diesen (Spiel-)Erfahrungen verbunden ist, umso eher „blutet“ diese Erfahrung auch in den Spieler hinein und andersherum.

Dieses „bluten“ wiederum lässt sich von der Orga forcieren oder abschwächen, je nachdem was das Ziel des Cons/ der Szene ist. Es gibt ganze Spiele, die nur darauf aufgebaut sind, Bleeding zu verursachen. „Fat man down“ (Klick)  ist eines der Bekannteren, in dem es darum geht, einen „Dicken“ zu mobben. Diese Spiele sind nicht darauf ausgelegt Spaß zu machen, sondern den Leuten eine gewisse Lektion vor Augen zu führen bzw. sie zum Denken anzuregen. Sie sollen sich in der Rolle als Aggressor unwohl fühlen, um so anhand dieser Erfahrung ihr eigenes Verhalten (nicht das ihres Charakters) in der Realität mit anderen Augen zu betrachten. Für diesen Effekt ist Bleeding unverzichtbar, denn genau das ist der Kern von Bleeding.

Das KNB 109 M war ein LARP, das meiner Meinung nach sehr stark auf Bleeding gesetzt hat. Es hat bewusst die Immersion durch verschiedene Stilmittel sehr hoch gesetzt (Setting im Hier und Jetzt, Vorbeschäftigung mit den Charakteren, Querverbindungen, Facebook-Seiten etc.) um so den Spieler immer tiefer in das Spiel zu ziehen und die Erfahrungen die sein Charakter macht, sehr echt erfahren zu lassen.

Was heißt das für mich als Orga?

Als Orga bieten sich mir mit diesen Informationen weitaus mehr Möglichkeiten, mein Ziel zu erreichen, welches auch immer das sein mag. Über Bleeding lassen sich Stimmungen manipulieren und zum gewünschten Ziel hinsteuern. Ich weiß aber auch, dass ich, um zum Beispiel bei den Charakteren die gewünschten Emotionen auszulösen, oftmals gezwungen bin, diese Emotionen auch bei den Spielern auszulösen.

Ich bekomme also auch gleichzeitig mit der Möglichkeit, dies einzusetzen die Verantwortung, dies bewusst und verantwortungsvoll zu tun. Besonders bei heikleren Themen kann es dank Bleeding sehr schnell zu ungewollten Problemen kommen. Hier empfiehlt sich zum Beispiel ein OT-Aufenthaltsraum, in dem sich die Spieler bei Bedarf komplett aus dem Spiel nehmen können, wenn es ihnen zu viel wird. Auch eine durchgehende Betreuung der Spieler  ist empfehlenswert. Wichtig ist es auch, so etwas bereits im Vornherein klar zu kommunizieren um Hemmschwellen abzubauen, sich bei Bedarf für eine Weile selbst aus dem Spiel zu nehmen. Letztendlich muss ich mir als Orga bewusst sein: Bleeding ist da. Immer! Auch wenn ich es nicht forciere. Oftmals ist dies nicht problematisch sondern sogar hilfreich. Aber auch wenn ich Bleeding selbst nicht steuere, kann ich es nicht abschalten.

Was heißt das für mich als Spieler?

Bleeding ist nichts Schlimmes. Im Gegenteil. Bleeding ist etwas ganz normales und kann sowohl von der Orga als auch von mir selbst als Spieler genutzt werden, ich muss mir dessen nur bewusst sein. Ich kann es nutzen, um meinen Spielspaß zu optimieren, aber auch um mich selbst weiterzuentwickeln. Ich kann LARP dazu nutzen, mich auszuprobieren und die besten Erfahrungen davon mit in die Welt außerhalb des Rollenspiels nehmen. Das schlimmste, was man tun kann, ist, zu versuchen sich vor Bleeding zu verschließen. Wie bereits oben geschrieben, ist Bleeding fast immer natürlich vorhanden. Man muss lernen, damit umzugehen und sein bevorzugtes Maß zu finden. Es jedoch einfach zu ignorieren, hilft weder einem selbst noch anderen.

Das richtige Maß

Wie immer ist es vor allem wichtig, ein Mittelmaß zu finden zwischen zu viel und zu wenig. Die von mir angesprochenen Schutzmauern sind nicht umsonst in meiner Psyche und man darf nie vergessen, dass das LARP nur ein Spiel ist. Man kann aus diesem Spiel etwas lernen, manchmal ist dieses Lernen der ganze Sinn des Spiels, aber man sollte es nie für Realität halten. Ich weiß, dass ich mich mit meinen Erfahrungen an Sylvester recht nah an dieser Grenze befunden habe.

Ich weiß für mich, dass ich sie nie übertreten habe. Ich habe mich offenen Auges in diese Situation begeben. Ich wusste, was mich bei dieser Orga erwarten würde, welchem Stress ich mich aussetzen würde. Und das wichtigste ist: ich habe ihnen vertraut. Belohnt wurde ich dafür mit einem der unvergesslichsten LARPs, bei denen ich wohl je die Ehre hatte, teilzunehmen.

Bleeding ist also etwas ganz normales. Etwas, das jeder von uns unterbewusst schon immer anwendet. Die IT/OT-Trennung bezieht sich nicht auf Emotionen, eher auf Fakten und Wissen das man nicht anwenden sollte. Wenn man diese Technik bewusst einsetzt, kann man viel aus ihr lernen und seinen eigenen Spaßlevel beeinflussen. Ich hoffe, dass noch viel mehr Larper auch in Deutschland den Mechanismus Bleeding kennen- und nutzen lernen und so das Hobby an sich für alle voranbringen. Denn nichts anderes ist es: eine Stellschraube, ein Hebel, ein Werkzeug.

Wie dieses Werkzeug jedoch eingesetzt wird, liegt wiederum bei jedem selbst.

Artikelbild: cahdequech auf sxc.hu

 

 

8 Kommentare

  1. Sehr gute geschrieben! Chapeau!
    Mit Nordic Larp hat sich Laura Flöter auch schon beschäftigt (sie ist sogar dafür nach Schweden geflogen) und ich muss sagen, dass ich das sehr faszinierend finde. Sie hat mir viel erzählt und einen tollen Bildband mitgebracht…allerdings sagt mir das Spiel dort persönlich auf thematischer Ebene nicht so sehr zu.
    Was Immersion und Co. angeht sind die nordic Larper aber auf jeden Fall ein Vorbild! :)

  2. Hi,
    danke für den interessanten Artikel! Ich habe bisher nur englische Quellen gefunden und finde es super hier auch mal was auf Deutsch zu lesen.
    Ich finde das Thema Nordic Larp sehr interessant, aber ich frage mich schon wie das Ganze nachher in der Praxis aussieht. Schaffen die Spieler es wirklich sich derart in ihre Charaktere einzufühlen oder ist es so wie bei vielen anderen Sachen, dass die Durchführung nicht so klappt wie man es sich vorgestellt hat?

    Viele Grüße,
    Sandra

  3. Gut geschrieben und auch die Normalität des Phänomens angemessen beleuchtet. In meinen Augen kann Bleeding unglaublich hilfreich sein bei der eigenen Persönlichkeitsentwicklung. Je bewusster man in derLage ist, dass Phänomen zu reflektieren, desto besser. Die eigene Persönlichkeit muss das aber auch aushalten und in schlechten oder psychisch instabilen Phasen kann Bleeding ohne Begleitung auch „gefährlich“ sein.

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