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Aus einer Verschwörungstheorie wurde ein Rollenspielsetting: Die Erde ist hohl, und in ihrem Inneren wartet eine geheimnisvolle zweite Welt auf unerschrockene Entdecker. Auf dieser schrägen Idee basiert das Pulp-Rollenspiel Hollow Earth Expedition, das 2006 erschienen ist und das Ubiquity-Würfelsystem nutzt.

Inspiriert von Jules Verne ebenso wie von Indiana Jones, ist Hollow Earth Expedition (kurz: HEX) ein Pulp-Action-Rollenspielsetting par excellence. Furchtlose Helden treffen auf geheimnisvolle Zivilisationen, phantastische Kreaturen, verlorene Schätze und natürlich skrupellose Bösewichte. Erschienen sind auf Deutsch bisher – neben einer Anzahl an Abenteuerbänden – das Grundregelwerk Hollow Earth Expedition und die Quellenbände Geheimnisse der Oberwelt und Mysterien der Hohlwelt. Vertrieben wird der aberwitzige Spaß vom Uhrwerk Verlag.

Die vergessene Welt unter unseren Füßen

Alles, was du in der Schule über den Aufbau unseres Planeten gelernt hast, war eine Lüge. Die Erde ist mitnichten eine massive Gesteinskugel, in der sich ein heißer Mantel aus Magma um einen noch viel heißeren Kern schließt. Nein: Die Erde ist hohl, und in ihrem Inneren befindet sich eine mystische, gefährliche Welt voller Abenteuer, beleuchtet von einer niemals untergehenden Sonne. Was Vertreter der pseudowissenschaftlichen „Hohlwelt-Theorie“ bis heute in Youtube-Videos als von allen Regierungen vertuschtes Geheimnis darstellen, war in den 1930er- und 40er-Jahren ein beliebtes Thema in sogenannten „Pulp novels“, also Groschenromanen. Die Helden dieser Heftchen schlugen sich in den Dschungeln der Inneren Erde mit Dinosauriern, Rieseninsekten, Eingeborenen und allerlei anderen Gefahren herum und retteten nebenbei nicht selten schöne Jungfrauen.

Neben diesem Genre zog HEX-Entwickler Jeff Combos seine Inspiration auch aus Filmklassikern wie Indiana Jones sowie Romanen wie Arthur Conan Doyles Die vergessene Welt und natürlich Jules Vernes Die Reise zum Mittelpunkt der Erde.

Ganz im Geiste von Indy setzt das Regelwerk als Zeitpunkt für den Beginn der Handlung das Jahr 1936 an. Eine beklemmende Kulisse: Amerika steckte noch mitten in der Großen Depression, und in vielen europäischen Ländern konsolidierten faschistische Regimes ihre Macht. Andererseits war die Ära zwischen den Weltkriegen auch das letzte „Goldene Zeitalter“ der Entdecker. Zwar galt die Welt gemeinhin als weitgehend erforscht, doch wurden auch noch Expeditionen unternommen, um versunkene Maya-Städte, die Quellen des Nils oder das legendäre Shangri-La zu finden. Soweit der historische Hintergrund, der für das Ambiente eine wichtige Rolle spielt. Abenteuerlust, Forscherdrang, Verzweiflung oder Idealismus bringen die Charaktere in HEX dazu, den Weg in die Innere Erde zu suchen. Durchgänge finden sie an zahlreichen, meist exotischen, entlegenen oder mystischen Orten der Welt: am Nord- und Südpol, in Tiefseegräben und Vulkankratern, unter den Pyramiden von Gizeh oder am Bermudadreieck, um nur ein paar zu nennen. Die Faustregel heißt: „Rein kommt man immer leichter als raus.“

Innen angekommen erwartet die Helden ein Ort, an dem die Zeit stehengeblieben zu sein scheint. Die Hohlwelt wimmelt nur so von Lebewesen, die auf der Oberfläche längst ausgestorben sind. Dinosaurier, Mammuts und Rieseninsekten gibt es da, aber auch wesentlich phantastischere Kreaturen, wie etwa Echsen- Affen- oder gar Maulwurfsmenschen. Zu guter Letzt kann man auch auf allerlei freundliche oder weniger freundliche Einheimische treffen. Jede Kultur, die es einmal auf der Erde gegeben hat, kann auch immer noch in der Hohlwelt existieren. Wikinger, die epische Seeschlachten mit Piraten aus dem 18. Jahrhundert führen, sind keineswegs undenkbar.

Auf nach Atlantis!

Eines der Hauptmotive des Settings ist die geheimnisvolle Kultur der Atlanter, einer übermenschlichen Spezies, die vor etlichen Jahrtausenden auf der Erde wandelte, bereits hochentwickelte Technologie besaß und von den damals noch primitiven menschlichen Kulturen als Götter angebetet wurde. Die Hinterlassenschaften dieser überlegenen Zivilisation sind an der Oberwelt spärlich, im Inneren der Erde aber viel häufiger anzutreffen. Und wo sie sind, häufen sich – innen wie außen – seltsame Vorfälle. Das Regelwerk lässt offen, wer oder was die Atlanter wirklich waren, woher sie kamen und wohin sie verschwunden sind.

Die Suche nach der legendären versunkenen Stadt Atlantis bietet sich allerdings fabelhaft als Plothook an. Dabei steht dem Spielleiter völlig frei, ob er diese auf einer griechischen Insel, im brasilianischen Dschungel, in Island, Indonesien oder sonstwo beginnen lassen will. Atlantis ist sowieso woanders, nämlich – natürlich – auf der Innenseite. Das Quellenbuch Mysterien der Hohlwelt bietet eine Schauplatzbeschreibung für Atlantis, welches von seinen ursprünglichen Erbauern längst verlassen und von anderen Bewohnern der Hohlwelt wiederbevölkert wurde.

Abenteurer und Gestrandete

Pulp-Helden, daran erinnert auch das Regelwerk, sind überlebensgroß. In HEX ist es absolut möglich, einen peitschenschwingenden Archäologieprofessor zu spielen, der, statt geregelte Ausgrabungen zu leiten, lieber Nazis jagt – wenn diese Idee auch nicht mehr als besonders originell gelten kann. Dennoch: Überkandidelte Charakterkonzepte sind nicht nur möglich, sondern erwünscht. Sei es der Grabräuber mit dem goldenen Herzen, die emanzipierte Baronesse auf der Suche nach dem ultimativen Abenteuer, der verrückte Professor oder das vom Unglück verfolgte Filmsternchen – der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. Wie realistisch man es halten möchte, liegt im Ermessen der Gruppe. Wichtig ist nur, dass die Charaktere früher oder später die Innere Erde entdecken. Das heißt allerdings nicht, dass alle Charaktere stets Forscher oder Abenteurer sein müssen – ebenso gut ist es möglich, eine Gruppe Reisender rein zufällig in die Hohlwelt stolpern zu lassen.

Nazis, Dinosaurier und verbotenes Wissen

Kein Held eines Pulp-Settings kommt ohne Gegenspieler aus, und HEX hat an diesen keinen Mangel. Auf der Oberwelt müssen sich die Abenteurer mit gleich zwei Geheimbünden herumschlagen, die sie davon abhalten wollen, die Geheimnisse der Hohlwelt zu lüften: Terra Arcanum, dessen Mitglieder alle wichtigen Regierungen infiltriert haben, setzt alles daran, das Wissen um die Eingänge geheim zu halten. Gleichzeitig versucht die skrupellose Thule-Gesellschaft, ein finsterer Verband von Nazi-Okkultisten, selbst die Innere Erde zu erobern und für die Zwecke des Dritten Reiches zu nutzen.

In der Hohlwelt selbst lauern ganz andere Gefahren: Das beginnt schon mit den Urzeitkreaturen, die hier noch lange nicht ausgestorben sind. Ein Tyrannosaurus Rex mag leicht einen oder mehrere Charaktere töten, wenn die Gruppe ihm zu nahe kommt, ähnlich gefährlich wird aber auch eine aufgescheuchte Herde sonst friedlicher – aber riesenhafter – Pflanzenfresser. Und nicht nur Dinos machen den Entdeckern das Leben schwer, auch andere Gemeinheiten, etwa Riesenskorpione oder gigantische fleischfressende Pflanzen, lauern in der ungezähmten Natur.

Und nicht zuletzt gibt es da ja auch noch die Bewohner der Hohlwelt. Der Spielleiter kann seine Gruppe nach Wunsch mit blutrünstigen Kannibalen, stolzen Amazonen, gierigen Piraten oder jeder erdenklichen anderen kriegerischen Kultur konfrontieren. Ein Zusammentreffen mit Eingeborenen mag allerdings auch ganz ohne böse Absicht tödlich verlaufen, denn woher sollen die Charaktere wissen, wie man sich beispielsweise im Umgang mit einem Maulwurfsmenschen korrekt verhält?

Ubiquity: binäres Würfelsystem mit kleinen Macken

Das Würfelsystem von HEX basiert auf Ubiquity, einem System, das in seiner Idee genial einfach ist. Gewürfelt wird mit beliebigen Würfeln, bei denen zuvor festgelegt wird, ob gerade oder ungerade Ergebnisse einen Erfolg bedeuten. Im Durchschnitt entspricht die Anzahl der Erfolge der Hälfte des Würfelpools. In der Regel legt der Spielleiter fest, wie viele Erfolge benötigt werden, um eine Aufgabe zu schaffen, außer in Situationen, in denen Spieler und NSC vergleichend würfeln. Entscheidend sind also letztlich die Größe des Würfelpools und die jeweilige Schwierigkeitsstufe. Wer es sich einfach machen will, kann auch ganz auf das Würfeln verzichten und die Hälfte seines Pools als garantierte Erfolge annehmen. Vorsicht: Dieser Trick verhindert zwar unnötige Würfe und besänftigt notorische Pechvögel, kann dem Spiel aber auch die Spannung nehmen, wenn das Element des Glücks ganz wegfällt. Dafür schont das System den Geldbeutel. Zwar gibt es eigene Ubiquity-Würfel, die einen gewissen Kuriositätswert haben, aber niemand ist gezwungen, sich neue anzuschaffen, der vorher irgendein anderes Würfelsystem gespielt hat.

Kampfregeln

Nach einer der größten Stärken des Regelwerks kommt nun seine größte Schwäche: das Kampfsystem. Gewürfelt wird stets vergleichend, und der Angreifer muss mehr Erfolge würfeln als der Verteidiger, um zu treffen. Jeder Erfolg, der über die Erfolge des Verteidigers hinausgeht, wird diesem als Schaden angerechnet. Ein Katalog an Regeln setzt fest, was genau einem Charakter bei welchem Schadenslevel passiert.

Da allerdings die Würfelpools (zumindest wenn Mensch gegen Mensch kämpft) von Angriff und Verteidigung selten mehr als einen oder zwei Würfel auseinanderliegen, führt dies in Kombination mit dem binären Ubiquity-System leider oft zu endlosen und unrealistischen Würfelorgien. Durch den Kauf von Talenten bei der Erschaffung, und später mit Erfahrungspunkten, können Charaktere verschiedentlich Vorteile erwerben, um das Problem zu minimieren. Generell gilt allerdings, dass die Kampfregeln auf frustrierende Art und Weise nicht ganz zu Ende gedacht wirken. Es empfiehlt sich, nach Geschmack Hausregeln einzuführen, um diese Schwäche abzufedern.

Charaktererstellung

Ein Pluspunkt des Systems ist sicherlich die schnelle und einfache Charaktergenerierung. Spieler vergeben 15 Attributspunkte auf sechs primäre Attribute (Stärke, Konstitution, Geschick, Charisma, Intelligenz und Willenskraft), aus denen sich wiederum abgeleitete Attribute wie etwa Wahrnehmung errechnen. Dann vergeben sie weitere 15 Punkte auf Fertigkeiten. Das Fertigkeitslevel wird mit dem jeweiligen Basisattribut zusammengezählt, um den Würfelpool zu erhalten. Dazu bekommt der Charakter ein Talent und optional einen Nachteil. Erfahrungspunkte werden nach einem einfachen Verrechnungssystem vergeben.

Das System kennt keine Klassen oder Berufe, sondern nur Archetypen, wie beispielsweise Abenteurer oder Wissenschaftler. Die Wahl des Archetyps wirkt sich in keiner Weise auf die Fertigkeiten eines Charakters aus, sondern ist nur als rollenspielerische Richtlinie zu verstehen.

Eine Besonderheit des Bogens ist die Motivation des Charakters. Jeder Mensch hat etwas, das ihn antreibt, und das gilt erst recht für jemanden, der sich auf eine Expedition ins Unbekannte begibt. Motivationen können etwa Pflichtgefühl, Gier oder Liebe sein.

Auch die Motivation hat keinen direkten Einfluss auf die Fähigkeiten, kann jedoch dazu genutzt werden, um sogenannte „Style Points“ zu erhalten. Diese Punkte kann der Spieler später in kniffligen Situationen als Extra-Würfel benutzen. Der Spielleiter verteilt Style-Points, wenn ein Charakter seiner Motivation folgt oder durch das Ausspielen eines Nachteils in Schwierigkeiten gerät. Sie können aber auch für eine interessante Hintergrundgeschichte, ein selbstgezeichnetes Portrait und andere nette Kleinigkeiten vergeben werden. Style Points sind, kurz gesagt, ein cleveres System, um schönes Rollenspiel zu belohnen.

Die harten Fakten:

 

„Indiana Jones mit Dinosauriern“ – what’s not to love?

HEX ist ein exotisches Setting. Einerseits in einer historischen Periode unserer Welt angesetzt, basiert es andererseits auf einer Annahme, die jedem physikalischen Gesetz widerspricht und ist mit allerlei phantastischen Kreaturen bevölkert. Optionale Regeln, die es erlauben, Magie, übernatürliche Fähigkeiten und höchst unwahrscheinliche technische Geräte vorkommen zu lassen, rücken das Spiel in das Genre „Dieselpunk“: wie Steampunk, nur etwa ein halbes Jahrhundert später.

Die bisher erschienenen Regel- und Quellenbücher bieten bereits eine Menge Schauplätze und Plothooks an, lassen aber immer noch Raum für Spielleiterkreativität. Ideen für Plots sind vielerorts zu finden. Allein die Fülle an pseudoarchäologischen Verschwörungstheorien und esoterischen Legenden, die im Internet kursieren, sind eine großartige Inspirationsquelle.

Die Atmosphäre der Welt lässt sich ganz nach Geschmack anpassen. Sicher bietet es sich an, ein rasantes, actionlastiges Pulp-Abenteuer zu spielen, in welchem die Charaktere Nazis an Dinosaurier verfüttern. Genauso gut ist aber beispielsweise auch ein beklemmendes Mystery-Szenario à la Call of Cthulhu oder eine knallharte Survivalkampagne mit der Welt zu vereinbaren.

Wie auch immer man es dreht, das Setting von Hollow Earth Expedition ist außergewöhnlich. Mit Nazi-Okkultisten, Mischwesen aus Tier und Mensch, Dinosauriern und den (vermeintlichen) Erben von Atlantis bevölkern äußerst schräge Typen sowohl die Ober- als auch die Hohlwelt. In den Worten von HEX-Autor Jeff Combos: „Es ist wie Indiana Jones mit Dinosauriern – oder Die Vergessene Welt mit Nazis. Ganz, wie du willst.“ Wen diese Vorstellung nicht abschreckt, sondern vielleicht sogar anzieht, der wird mit diesem System viel Spaß haben.

Artikelbilder: Uhrwerk Verlag

 

1 Kommentar

  1. Vielen Dank für den schönen Artikel. Hex kannte ich noch nicht, bin jetzt aber angefügt und werde mir ein Abenteuer davon kaufen.

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