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Als du die Kaiser-Retro-Box öffnest und in den enthaltenen Heften blätterst, fällt dein Blick auf den Kalender an der Wand. Es ist 2018, aber zuletzt hattest du diese Hefte 1984 in der Hand. Damals, auf Klassenfahrt in Belgien. Oder auf Norderney? Ob die wohl noch taugen? Hier erfährst du es.

Wenn man heutzutage altgediente Rollenspieler vom Jahr 1984 erzählen hört, dann hat man das Gefühl, als würden sie eine fantastische Spielwelt beschreiben. Jugendliche trafen sich zu heiteren Runden voller Fantasie, der Krieg mit einem Imperium im Osten hing drohend in der Luft und in der ersten Jahreshälfte ist der Hamburger SV amtierender Meister der Fußball-Bundesliga.

1984 war auch das Jahr, in dem Das Schwarze Auge den deutschen Spielemarkt betrat und der breiten Masse das Rollenspiel mit Stift, Papier und Würfel bekannt machte. Die Absatzzahlen waren bemerkenswert, dabei sollten sie ihren Höhepunkt erst noch erreichen. Spieler fanden sich gefühlt an jeder Ecke und der Hauch des Neuen verlieh der mysteriösen Box einen lockenden Glanz.

Kein Wunder also, dass viele Spieler wohlige Erinnerungen an jene Zeit haben. Ebenso verwundert es nicht, dass die Nachgeborenen, welche die Geschichten nur aus zweiter Hand kennen, von jenen Jahren fasziniert sind. Aus beiden Gruppen fanden sich genügend Unterstützer, um den alten Regeln eine neue Auflage zu ermöglichen. Im Rahmen eines Crowdfundings sammelte Ulisses Spiele genügend Geld, um die Kaiser-Retro-Box zu realisieren. Die Box beinhaltet neben ergänzenden Spielmaterialien wie Würfeln, Kampfdokumenten und ähnlichem drei Hefte, mit denen man voll und ganz in die Frühzeit von Das Schwarze Auge eintauchen kann: Das Buch der Regeln, Das Buch der Abenteuer und Das Buch der Macht. Für dieses Review haben wir uns die Let’s Play-Version angeguckt, in der zusätzliche Illustrationen und unterhaltsame Kommentare enthalten sind –  dazu später mehr unter dem Punkt Erscheinungsbild. Einen Artikel zu den klassischen Abenteuern, die im Rahmen der Kaiser-Retro-Linie neu aufgelegt wurden, findet ihr ebenfalls auf unserer Seite.

Das Buch der Regeln

© Ulisses Spiele
© Ulisses Spiele

Die Regeln der ersten Edition von Das Schwarze Auge an dieser Stelle komplett wiederzugeben, wäre müßig, auch wenn sie im Kern wahrscheinlich auf einen Bierdeckel passen würden. Gut, da müsste man zugegebenermaßen sehr klein schreiben und einen großen Bierdeckel nehmen, aber es sollte klar sein, was ich damit meine: Das Buch der Regeln ist verglichen mit vielen modernen Grundregelwerken eine gemütliche Lektüre und auch ohne Markierungen oder Haftnotizen navigierbar. Auch einen Index hat es damals nicht gebraucht, der für die Neuauflage aber ein nettes Extra gewesen wäre.

Wer schon einmal Das Schwarze Auge ungeachtet der Edition gespielt hat, findet sich sofort zurecht. Immerhin fünf der acht Eigenschaften sind in der ersten Edition bereits vertreten gewesen und auch Begriffe wie Attacke, Parade, Trefferpunkte oder Rüstungsschutz lassen sich direkt einordnen. Aus heutiger Sicht wirkt es etwas befremdlich, die Weiterentwicklung der Spielfigur über ein starres Stufensystem festzuhalten und die Abenteuerpunkte nicht frei zu verteilen. Andererseits macht Dungeons and Dragons das ja heute noch so.

Etwas altbacken ist es auch, seinen Heldentypus nicht völlig frei wählen zu können. Das Würfelglück entscheidet, ob genug Punkte in Körperkraft vorhanden sind, um zum Beispiel einen Krieger zu spielen. Die Fähigkeiten seiner Spielfigur derart den Mächten des Zufalls zu überlassen, hat natürlich auch einen gewissen Charme und vereinfacht die Charaktererstellung enorm.

Die Regeln lesen sich durchaus flüssig und sind ohne Feintuning auch heute noch spielbar. Auch die Anzahl an Themenfeldern ist für 66 Seiten beachtlich. Im Heft finden sich die grundlegenden Regeln, auch jene zur Magie. Daneben gibt es ein Ausrüstungskapitel und sechs beispielhafte Monster, von denen mit Ork und Goblin gleich zwei später spielbar wurden. Zwar ist die Charakterentwicklung noch ziemlich beschränkt, aber gerade der Magier stellt bereits einen für damalige Verhältnisse sehr ausgefeilten Heldentypen mit großem Weiterspielpotenzial dar – vorausgesetzt, er überlebt die für heutige Verhältnisse recht tödlichen Abenteuer, was uns direkt zum nächsten in der Box enthaltenen Buch bringt.

Das Buch der Abenteuer

© Ulisses Spiele
© Ulisses Spiele

So, wie Das Buch der Regeln wohlige Erinnerungen an alte Zeiten weckt, in denen Rollenspiele noch nicht so komplex wie heutzutage waren, weckt Das Buch der Abenteuer unterdrückte Erinnerungen an abstruse Dungeon-Abenteuer, die wie mit der heißen Nadel gestrickt zu sein schienen.

Aber um neue Spieler an das System heranzuführen ist es von der Idee her, auch in Hinblick auf heutige Systeme, großartig. Es beginnt mit einem Solo-Abenteuer, in dem ein einzelner Spieler die grundlegenden Regeln in aller Ruhe erlernen kann. Die Handlung dieses Einstiegs ist hingegen auch aus damaliger Sicht ziemlich wirr.

Nach dem Solo-Abenteuer kann sich der Spieler schließlich mit anderen Spielern zusammenschließen und sich an Silvanas Befreiung versuchen. Dieses solide kleine Dungeon-Abenteuer führt mehrere Helden unkompliziert zusammen und erläutert weiterführend die Regeln. Nach einer Solo-Runde und Silvanas Befreiung sollte sich also jeder Spieler in den Regeln zurechtfinden.

Das Buch der Macht

Früher bekannt als Die Werkzeuge des Meisters wurde auch dieses Heft neu aufgelegt. Neben einem Bestiarium enthält es noch Vorschläge für Fallen und Rätsel. Ebenso geht es näher auf die Kampfregeln ein. Das Heft ist also eine gute Ergänzung für jene, die eigene Abenteuer, vornehmlich im Dungeon, basteln wollen.

© Ulisses Spiele
© Ulisses Spiele

Gerade an diesem Heft merkt man der originalen Spielhilfe ihr Alter an. Zwar ist Fantasie bei der Entwicklung der Fallen und vor allem der Monster nicht von der Hand zu weisen, aber unterm Strich wirkt die Ansammlung sehr generisch und austauschbar. Allerdings lassen sich um manche der Monster und Bestien auf unkomplizierte Weise einzelne kleine Abenteuer stricken. Ihre Beschreibungen sind sehr reichhaltig und haben ihre Spuren auch in heutigen Beschreibungen aventurischer Wesen hinterlassen.

Das auch heute noch unterhaltsame Solo-Abenteuer Nedime – die Tochter des Kalifen, ein Sonderheft und eine Ausgabe des Aventurischen Boten im Retro-Look runden die Box ab. Da uns zum Test nur die PDF-Version vorlag, können wir nichts zu weiteren Inhalten wie zum Beispiel der Maske des Meisters oder den beiliegenden Würfeln und Bodenplänen sagen.

Erscheinungsbild

Der Charme alter Rollenspielillustrationen aus der Zeit, als diese noch vornehmlich in Schwarzweiß abgedruckt wurden, ist nicht abzustreiten. Zum Beispiel regt es sehr die Fantasie an, wenn man einen in Schatten gehüllten Dämonen aus einem zerbrochenen Spiegel steigen sieht. Hier ist aber natürlich auch der persönliche Geschmack ausschlaggebend. Wer über einen muskulösen Dämon mit Teufelshörnern auf der Glatze eher amüsiert schmunzelt, wird von dieser Illustration wahrscheinlich auf eine ganz andere Art und Weise abgeholt. Dann gibt es natürlich auch noch jene, die prinzipiell jede Illustration von damals trashig und uninteressant finden, aber diese Leute gehören ohnehin nicht zur Zielgruppe der Box.

Ein paar Ausfälle gibt es aber natürlich auch trotz rosaroter Retro-Brille zu entdecken. Vor allem Räume wirken fast immer so leer und steril, als hätten sich die damaligen Zeichner sklavisch an die Beschreibungen im Abenteuer gehalten oder nur das Nötigste gemacht. Wenn im beschreibenden Text nur von einem Tisch, einem Teppich, einem Gemälde und zwei Gegnern die Rede ist, dann finden sich eben auch nur die auf dem Bild in einem Raum ein, was insgesamt wirkt, als hätte der TÜV die Zeichnung nach einer strengen DIN-Norm für Dungeons abgenommen.

Eingangs wurde bereits erwähnt, dass es in diesem Artikel um die Let’s Play-Variante der Kaiser-Retro-Box geht. Kennzeichnend dafür sind die zusätzlichen Illustrationen, die aus der Videoreihe auf YouTube stammen, in der Ulisses-Mitarbeiter und Freunde die alten Abenteuer spielen. Irgendwann entstanden Chibi-Versionen der Charaktere, die den Bildschirm schmückten. Dabei handelt es sich um Anime-Darstellungen der Figuren in verniedlichter Form. Das bricht zwar mit dem Retro-Flair der Box und ist absolute Geschmackssache, aber wer darauf verzichten möchte, holt sich eben die normale Version.

Was dann aber auch fehlt, sind die sehr unterhaltsamen Kommentare der Spieler, welche die Hefte durchziehen und vor allem Werkzeuge des Meisters aufwerten. Gespeist aus ihren Erlebnissen beim Spielen der alten Abenteuer und aus ihrer generellen Rollenspielerfahrung kommentieren Ulisses-Geschäftsführer Markus Plötz, Mháire Stritter und Michael Mingers die Inhalte der alten Box durchaus amüsant und auch in angemessener Ausführlichkeit.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Ulisses Spiele
  • Autoren: Ulrich Kiesow
  • Erscheinungsjahr: 2018
  • Sprache: Deutsch
  • Format: Softcover / Box / PDF
  • Seitenanzahl: 416
  • ISBN: 978-395-752-903-9
  • Preis: 64,95 Euro
  • Bezugsquelle: Amazon, DriveThruRPG. Sphärenmeister

 

YouTube

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Fazit

Die Kaiser-Retro-Box versetzt die Spieler in alte Zeiten zurück, in denen das Rollenspiel noch deutlich unkomplizierter, die Handlungen aber auch etwas holpriger waren. Wer die Originalversion von 1984 nicht sein Eigen nennt, aber gerne einmal das Spielgefühl der damaligen Zeit nacherleben möchte, kann hier nichts falsch machen – es sei denn, er greift aus Versehen zur Let’s Play-Variante und stört sich an den Chibi-Illustrationen.

In diesem Fall lindern den Ärger aber die Kommentare der Let’s Play-Runde, die durchaus humorvoll und unterhaltsam sind. Dem Spielmaterial aus den Achtzigern tut dieser ironische Bruch in jedem Fall spürbar gut.

Ansonsten bekommt der Rollenspieler hier, was er laut Verpackung erwarten darf: Die erste Version von Das Schwarze Auge mit all ihren Ecken und Kanten, aber auch nostalgischen Momenten und den Stärken, die dieses Rollenspiel vor über 30 Jahren so erfolgreich werden ließen, dass es immer noch gespielt wird. Trotz der damaligen Ausrichtung auf jugendliche Käufer nahm Das Schwarze Auge seine Spieler ernst und versuchte, größtmögliche Immersion zu erzeugen. Das funktionierte zwar nicht immer und wurde vor allem in späteren Editionen deutlich besser, ist aber ein anerkennendes Kopfnicken Richtung Vergangenheit wert.

Artikelbild: © Ulisses Spiele, Bearbeitet Verena Bach
Dieses Produkt wurde kostenlos zur Verfügung gestellt.

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