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„We’re in the endgame now“, sagte Dr. Strange am Ende von Avengers: Infinity War. Das war vor einem Jahr. Wenige Minuten später verloren wir das halbe Marvel Cinematic Universe und Thanos gewann. Aber die verbliebenen Avengers geben nicht auf. Gibt es doch noch Hoffnung?

Thanos, der wahnsinnige Titan, teilt sich eine fragwürdige Ehre mit Loki und Helmut Zemo. Diese drei MCU-Bösewichte sind die einzigen, die ihre Ziele erreichten. Loki wurde am Ende von Thor 2 Herrscher von Asgard, Zemo entzweite die Avengers in Captain America: Civil War und Thanos erlangte in Infinity War sein Ziel, das halbe Leben im Universum auszulöschen. So wollte er einer kosmischen Katastrophe durch Bevölkerungsexplosion Einhalt gebieten.

Dass dieser irre Plan aus biologischen und wirtschaftlichen Gründen gar nicht funktionieren kann, wurde schon oft in Fanforen und sogar Business-Magazinen erläutert. Aber seit wann interessieren sich durchgeknallte Comicbösewichte für logische Kausalitäten? Ein Fingerschnippen reichte, und das MCU wurde halbiert. Der Schock saß tief im Fandom.

In der Zwischenzeit bekamen wir zwar noch Ant-Man and the Wasp als auflockernden Klamauk, aber auch dieser Film endete damit, dass Hank Pym, Janet van Dyne und Hope van Dyne sich, äh, aus dem Staub machten. Die letzte Hoffnung ruhte dann auf Captain Marvel, die Nick Fury kurz vor seinem Tod noch mit 90er-Technologie kontaktieren konnte. Kann die neue Heldin helfen? Sind die dezimierten Avengers stark genug, um Thanos zu besiegen? Lohnt es sich überhaupt, gegen den lila Bösewicht auf seiner Weltraumfarm zu kämpfen, wo er doch eh schon gewonnen hat? Wird Ant-Man versuchen, in Thanos’ Körperöffnungen einzudringen?

Story

Anstelle von Spoilern oder vagen Zusammenfassungen hier nur drei Fakten:

  1. Die erste Szene ist ein emotionaler Schlag in die Magengrube für Fans.
  2. Kurz darauf wird die Action explosiv, dann bleibt es erst einmal längere Zeit relativ ruhig.
  3. Der Plan der Avengers beinhaltet einige der besten Momente des MCU und es gibt eine Vielzahl überraschender Cameo-Auftritte.

Wie zuvor bei Infinity War haben es einige Szenen aus den Trailern nicht in den finalen Cut geschafft oder wurden als absichtliche Irreführung verbreitet. Das Ausmaß an Geheimnishütung bei Marvel Studios erinnert bisweilen an Spionageoperationen. So werden treue Fans öfters Überraschungen erleben, vielleicht auch die Bestätigung der einen oder anderen Theorie erhalten. Die Cameos, die weiterentwickelten Beziehungen der Charaktere zueinander und das gesamte letzte Drittel des Films sind Fanservice auf bestem Niveau – ein Geschenk an treue Fans.

Wer nur sporadisch die Filme verfolgt, Teile der Handlung von Infinity War bereits vergessen hat und Black Widow nicht von Scarlet Witch unterscheiden kann, dürfte mit diesem Geschenk aber wenig anfangen können.

Darsteller

Das Ensemble ist diesmal kleiner als bei Infinity War, auch wechselt die Handlung nicht mehr zwischen mehreren Teams an unterschiedlichen Orten. Die Kerngruppe aus dem ersten Avengers-Film (Captain America, Iron Man, Thor, Hulk, Black Widow, Hawkeye) steht hier im Mittelpunkt. Jeder einzelne von ihnen macht im Laufe des Films eine Wandlung durch, und es spricht für die schauspielerische Qualität von Evans, Downey Jr., Hemsworth, Ruffalo, Johansson und Renner, dass sie diese Veränderungen glaubwürdig darstellen, ohne einen gänzlich anderen Charakter zu verkörpern. Die Helden bleiben sich treu, und es gibt immer wieder Anspielungen auf ihre Erlebnisse in vorigen Filmen. Die witzigen Parts übernehmen erneut Hemsworth und Ruffalo, die dafür sorgen, dass der Ernst der Lage mit ein paar flotten Sprüchen aufgelockert wird.

Aber auch die übrigen Schauspieler liefern beachtliche Leistungen ab. Vier von ihnen spielen entscheidende Rollen in der Handlung: Nebula (Karen Gillan), Ant-Man (Paul Rudd), Rocket (Bradley Cooper) und natürlich Thanos (Josh Brolin). Letzterer darf nach seiner schwermütigen Stimmung am Ende des letzten Films wieder etwas aggressiver auftreten. Trotz des Klamauks, den Brolin auf seiner Instagram-Seite in den letzten Wochen veranstaltet hat, ist sein Thanos wieder ein sehr ernster, von seiner persönlichen Mission beseelter Bösewicht, der alles in die Waagschale wirft. Zusammen mit seinen kurzen Auftritten in Guardians of the Galaxy und Age of Ultron hat Brolin einen der denkwürdigsten Bösewichte der letzten Jahre verkörpert, und sicher einen der besten Antagonisten des MCU.

Inszenierung

Wer brav in jedem Marvel-Film die Credits aussitzt, weiß, wie umfangreich gerade die Liste der Effektecrew ist. Gerade für CGI und Hintergrundgrafiken werden ganze Armeen von Designern eingesetzt, oftmals auf unterschiedliche Grafikfirmen verteilt. Für den 22. Film wurde alles aufgefahren, was das Studio bislang zu bieten hatte. Surrende Maschinen, riesige Explosionen, leuchtende Weltraumnebel und die Blitzgewitter von Thor: Alles fügt sich nahtlos zusammen.

Leider kommt es wie bei den vorigen großen Blockbustern oft dazu, dass man in den Massenszenen leicht den Überblick verliert. Gerade Gelegenheitszuschauer, die die Charaktere nicht auf Anhieb durch ihren Körperbau oder das Kostüm unterscheiden können, dürften sich immer mal wieder fragen, wer genau jetzt was tut. Aber gänzlich unbedarftes Publikum sollte eh nicht in einen Streifen gehen, der auf mindestens drei, eher aber 21 Vorläufern aufbaut.

Die Musik wurde wieder von MCU-Veteran Alan Silvestri (Avengers 1, Infinity War) komponiert und bringt beliebte Motive (natürlich das Avengers-Theme selbst) sowie neue Stücke an den Tisch. Die dramatischsten Szenen sind gar nicht mal diejenigen mit donnernden Pauken und schmetternden Hörnern, sondern die sanften Klänge, oftmals nur ein paar Klaviernoten. Dass sich dieser Mix organisch zusammenfügt, ist auch ein Verdienst Silvestris.

Zudem tauchen einige schmissige Popsongs auf und das eine oder andere Stück von anderen MCU-Komponisten (wie etwa das Captain Marvel-Theme von Pinar Toprak, das entgegen meiner vorigen Kritik doch eingängiger ist, als ich damals dachte). So enthält die letzte Szene ein Lied, mit dem wohl niemand gerechnet hätte, das aber wunderbar zur ausklingenden Handlung passt.

Erzählstil

Die Russo-Brüder und ihre Drehbuchautoren Markus/McFeely standen beim zweiten Teil der Thanos-Saga nicht mehr vor dem Problem, ein riesiges Ensemble managen zu müssen. Dafür aber mussten die im vorigen Teil entworrenen Handlungsfäden wieder verknüpft, eine neue Teamdynamik geschaffen und die Motivation für jeden einzelnen Charakter logisch konstruiert werden. Das ist auf jeden Fall gelungen.

Während die Avengers zuvor nur reagiert hatten und Thanos der Handelnde war, haben sich die Verhältnisse umgekehrt. Jetzt wird die Handlung zum Großteil von den Helden vorangetrieben, und jeder einzelne von ihnen hat individuelle Gründe, persönliche Schwächen, aber auch neue Stärken, die er oder sie im Laufe der Story präsentiert. Niemand ist bloßer Mitläufer in dieser Geschichte, niemand lässt mal die anderen machen, selbst in den ruhigen Momenten der Story agiert jeder der Hauptcharaktere mit hoher Intensität (Tony Stark sticht hier besonders hervor). Christopher Markus und Stephen McFeely wollten scheinbar nicht, dass irgendjemand passiv bleibt in diesem Abschlussfeuerwerk von MCU-Phase 3, und es ist ihnen gelungen.

Dieser starke Fokus auf die Avengers führt aber leider zu Abstrichen bei der Story des Antagonisten. Wir besuchen zwar mehrfach die Schaltzentrale des Bösen, wo Thanos mit teuflischer Präzision gegen die neuen Pläne der Earth’s Mightiest Heroes vorgeht. Allerdings erfährt man diesmal wenig Neues über ihn. Das liegt teilweise daran, dass seine „Heldengeschichte“ mit dem Fingerschnippen abgeschlossen ist, teilweise aber auch an der neuen Rolle, in die ihn die Avengers durch ihren Konterangriff hineingedrängt haben. Wie gesagt, er ist diesmal der Reagierende. Das tut seiner Gefährlichkeit aber keinerlei Abbruch.

Auch wenn bei den vielen überraschenden Wendungen, in die die Handlung mit Vollgas hineinfährt, gelegentlich Schleudertrauma beim Zuschauer droht, so erfüllt der stark verdichtete Erzählstil doch genau den Zweck eines Actionfilms. Es kommt nie Langeweile auf, und Erwartungen werden auf den Kopf gestellt. Und trotz des vielen Technobabble und der bunten Explosionen kommen authentische Gefühle, kommen menschliche Züge nicht zu kurz. Punkt an das Autorenduo für die Story und Punkt an die Russos für die Umsetzung. So schließt man das Kapitel einer Saga ab! Davon können sich im Zeitalter verdichteter Erzählstränge viele Schöpfer von Filmtrilogien oder Bingewatching-Staffeln eine Scheibe abschneiden.

Die harten Fakten:

  • Regie: Anthony Russo, Joe Russo
  • Darsteller: Brie Larson, Chris Evans, Robert Downey Jr., Mark Ruffalo, Chris Hemsworth, Josh Brolin, Karen Gillan, Jeremy Renner et. al.
  • Erscheinungsjahr: 2019
  • Sprache: Englisch (Rezensionsfassung)
  • Format: 2D (Rezensionsfassung), 3D
  • Preis: (Ticketpreise variieren)

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Fazit

Für treue MCU-Fans ist dies der krönende Höhepunkt von 11 Jahren stetigen Universumswachstums. Ein Geschenk von Marvel Studios für die Treue über 22 Filme.
Für treue MCU-Fans ist dies der krönende Höhepunkt von 11 Jahren stetigen Universumswachstums. Ein Geschenk von Marvel Studios für die Treue über 22 Filme.

Ein Universum aus 22 zusammenhängenden Filmen – das gab es in dieser Form noch nie. Und wenige Kritiker hätten 2008 trotz des großen Erfolgs von Iron Man damit gerechnet, dass es zu einem derartigen Phänomen mit einem treu ergebenen Fandom kommen würde. Ein Fandom, das jetzt von den Machern mit einer mitreißenden Tour de Force belohnt wird. Avengers: Endgame ist bereits jetzt ein Meilenstein in der Geschichte von Comicfilmen. Aber nach all dieser Bombastik bleibt ein Wermutstropfen, nämlich die Frage: „Und jetzt?“

Wie geht es weiter mit dem MCU? Was kommt jetzt, wo das Ende vorbei ist? Natürlich Spider-Man: Far From Home im Sommer. Interessanterweise betrachtet Marvel Studios-Chef Kevin Feige den zweiten Solofilm des Netzschwingers als den eigentlichen Abschluss von Phase 3. Aber danach? Wie sieht Phase 4 aus? Angekündigt sind bereits die kosmischen Eternals, und mit Black Widow bekommt eine weitere Heldin ihren Solofilm.

Für Gelegenheitszuschauer. Diese werden immer noch gut unterhalten, können aber gegebenenfalls mit den vielen Anspielungen, Cameos und Selbstbezügen nichts anfangen.
Für Gelegenheitszuschauer. Diese werden immer noch gut unterhalten, können aber gegebenenfalls mit den vielen Anspielungen, Cameos und Selbstbezügen nichts anfangen.

Fortsetzungen von Black Panther und Captain Marvel sind angesichts der Milliardenerträge beider Filme nur logisch, und dank der Versöhnung von Marvel Studios mit dem reumütigen James Gunn läuft die Produktion von Guardians of the Galaxy 3 auf Hochtouren. Aber ein neuer Avengers-Film? In welcher Konstellation? Und gegen welchen Schurken diesmal? Darf man sich dank der Übernahme von FOX als nächstes gegen Magneto und Doctor Doom rüsten?

Vielleicht darf sich das Fandom auch mal eine Pause bis 2020 gönnen. Noch sind keine Termine für Phase 4 bekannt gegeben worden, dafür aber zahlreiche neue Serien für den neuen Disney+-Streamingdienst. Das hauseigene Bollwerk gegen die Vormacht von Netflix soll eine Menge neuen Marvel-Content bekommen, sodass die Wartezeit bis Phase 4 nicht allzu lange sein wird. Bis dahin kann man auch noch einmal alle 22 Filme als Gesamtkunstwerk schauen.

Artikelbilder: © Marvel Studios

1 Kommentar

  1. Hallo Johannes, schöne Kritik die ich gerne gelesen habe. Hab den Film gestern endlich auch geschaut und war leider (wie erwartet) nicht so begeistert. Teil 3 war für mich die Krönung und wie befürchtet ist er in Summe nicht zu schlagen gewesen. Endgame hatte seine Momente und auch Eigenständigkeit war aber selbst für nicht Comic Kenner die nur die Kinofilme gesehen haben nicht überraschend. Es passiert ziemlich genau das was man ohnehin erwartet hatte. Hier hätte ich mir mehr Mut gewünscht. Das CGI Finale ist auch deutlich einfallsloser als Infinity War und ich verstehe nicht wie man zu so einer schlechten Farbwahl greifen konnte. Endgame mag nach all den Jahren ein tatsächliches Ende sein (glaube nicht dass in Zukunft das Franchise noch weiter wächst) aber der würdige Abschluss wurde schon im letzten Jahr vorweg genommen.

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