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Die Suche nach einem Schatz in verfallenen Ruinen oder die Aufklärung rätselhafter Vorgänge durch Recherche in staubigen Büchern: Erstaunlich viele Rollenspielplots erfordern, dass die Charaktere Archäologie betreiben. Der Grund dafür liegt in der Geschichte der Phantastik. Schon die Väter des Genres waren von der Erforschung uralter Legenden fasziniert.

Archäologie im Rollenspiel – da denken viele an Mystery-Szenarien, in denen verschrobene Professoren versunkene Städte ausgraben und unlesbare alte Schriftstücke übersetzen. Die Disziplin hatte jedoch einen viel tiefer gehenden Einfluss auf die Phantastik im Allgemeinen und Tischrollenspiele im Besonderen. Das glaubt ihr nicht? Dann lest weiter.

Was hat Archäologie mit Rollenspiel zu tun?

Archäologische Mysterien sind ein Klassiker des Rollenspiels. Da werden Schätze gefunden, verlassene (aber ehemals bewohnte) Höhlen erkundet und hin und wieder sogar uralte Flüche erweckt. Man könnte sogar sagen, nahezu jede Quest, auf die eine Gruppe von Charakteren geschickt wird, hat ein paar archäologische Elemente – wenigstens im erweiterten Sinne von popkulturellen Darstellungen des Faches wie in Indiana Jones oder Tomb Raider.

Jedoch geht der Einfluss der Archäologie auf Rollenspiele der verschiedensten Genres viel weiter zurück. Die zwei Personen, die das Genre dahingehend prägten, heißen nicht etwa Henry Jones Jr. und Lara Croft, sondern John Ronald Reuel Tolkien und Howard Phillips Lovecraft.

Ein Ring, sie zu knechten

Robert Mortimer Wheeler © Howard Coster
Robert Mortimer Wheeler © Howard Coster

R. R. Tolkien, der als Vater der modernen Phantastik gelten kann, war ab 1925 Professor für alt-angelsächsische Philologie in Oxford. Er hegte schon seit seiner Kindheit eine Faszination für Mythologie und vergangene Kulturen. Einer seiner Freunde war der Archäologe Sir Mortimer Wheeler, der den Schriftgelehrten Tolkien 1929 als Gutachter zu einem Fund rief.

Es handelte sich um ein beschriftetes Bleitäfelchen aus der Römerzeit, das Wheeler bei der Ausgrabung eines Hügels namens „Dwarf’s Hill“ in Südengland entdeckt hatte. Die lateinische Inschrift enthielt einen Fluch:

DEVO NODENTI SILVIANVS ANILVM PERDEDIT DEMEDIAM PARTEM DONAVIT NODENTI INTER QVIBVS NOMEN SENICIANI NOLLIS PETMITTAS SANITATEM DONEC PERFERA VSQVE TEMPLVM DENTIS

Die Übersetzung lautet etwa: „An den Gott Nodens. Silvianus hat einen Ring verloren und die Hälfte davon (d. h. seines Wertes) dem Nodens gespendet. Gewähre keinem von denen, die den Familiennamen Senicianus tragen, Gesundheit, bis er ganz an den Tempel gegeben wird!“ – jemand war eindeutig nicht begeistert vom Verlust seines „Schatzes“. Wheeler und Tolkien hatten allerdings eine ziemlich gute Vorstellung davon, wo dieser sich inzwischen befand: Über ein Jahrhundert zuvor hatte ein Farmer aus der Gegend beim Pflügen seines Feldes einen goldenen Ring entdeckt und an eine reiche südenglische Familie verkauft.

Das wertvolle Stück stammte aus der gleichen Epoche wie die Bleitafel, ca. dem vierten Jahrhundert nach Christus. Vor allem aber trug auch der Ring eine Inschrift. SENICIANE VIVAS IIN DE, stand dort. Die Inschrift scheint fehlerhaft zu sein, was man an der Dopplung des „I“ erkennen kann. Eigentlich sollte es wohl SENICIANE VIVAS IN DEO („Senicianus, lebe in Gott“) heißen, doch für das „O“ war auf dem 18 Karat schweren Goldring kein Platz mehr. Wenn der Fluch auf dem Bleitäfelchen wahr geworden sein sollte, wird es der Familie des Senicianus wohl schlecht ergangen sein, denn der Ring wurde erst Ende des 18. Jahrhunderts von einem Bauern beim Pflügen seines Feldes gefunden.

Ein Jahr nach der Entdeckung der Tafel begann Tolkien an seinem Erstlingsroman Der Hobbit zu arbeiten, der 1937 veröffentlicht wurde. Neben der Geschichte um einen goldenen Ring, der auf mysteriöse Weise verloren geht und wiedergefunden wird, inspirierten ihn auch angelsächsische und nordische Mythen sowie damals neue Erkenntnisse der historischen Forschung.

Die Archäologen der viktorianischen Epoche waren die Ersten, die versuchten, althergebrachte Mythen zu kategorisieren und ihre Ursprünge zu verstehen. Viele dieser Gelehrten gehörten der gebildeten europäischen Oberschicht an. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde nicht nur der Neandertaler entdeckt, sondern auch Darwins Über die Entstehung der Arten veröffentlicht. Die Vorstellung, Homo sapiens könnte nicht die einzige Menschenart sein, die je auf dieser Welt gelebt hatte, war für viele ein Schock – für die frühen Archäologen jedoch bot sie eine Möglichkeit, die Elfen, Zwerge und anderen übernatürlichen Feenwesen aus der Mythologie in einen realen Kontext zu setzen.

Überraschende Fakten zu Elfen in Mythologie und Phantastik
Überraschende Fakten zu Elfen in Mythologie und Phantastik

Besonders beliebt war etwa die Idee, Geschichten über Zwerge und andere kleinwüchsige Feenwesen in Britannien seien von einer „prä-arischen Pygmäenrasse“ (wie es damals formuliert wurde) inspiriert, deren Nachfahren die am Polarkreis lebenden Lappen seien. Sie seien mit der Zeit von den einwandernden Europäern verdrängt worden, die ihnen technologisch – und geistig – überlegen waren. Diese auf damals gängigen Rassenvorstellungen basierende Geschichtsinterpretation ebneten unter anderem den Weg für die Weltherrschaftsansprüche erst der europäischen Kolonialmächte und später der Nazis. Vor allem aber entzauberte sie mythologische Wesen und transportierte sie gewissermaßen in die reale Welt, wenn auch die der Vergangenheit.

Die Werke J. R. R. Tolkiens, die bis heute die Darstellung von andersartigen Humanoiden in der Phantastik prägen, basieren auf dieser Vorstellung. Tolkien selbst soll angedeutet haben, dass seine Geschichten nicht etwa in einer Parallelwelt spielten, sondern in einer fernen, mythologischen Vergangenheit. Im Rollenspiel bieten Elfen, Zwerge und andere „spielbare Rassen“ die Möglichkeit, einen Charakter mit leicht unterschiedlichen körperlichen Eigenschaften und gegebenenfalls einem anderen kulturellen Hintergrund zu spielen. Allerdings werden sie heute natürlich nicht mehr als „minderwertig“ dargestellt, sondern haben Vor- und Nachteile in ihrer Andersartigkeit.

Nicht nur die Vorstellung, wie andersweltliche Wesen auszusehen haben, wurde von den frühen Archäologen geprägt. Auch die aus High-Fantasy-Systemen wie D&D bekannten Charakterklassen des Barbaren – deutlich an die Berichte römischer Eroberer in Nord- und Westeuropa über nackt kämpfende Keltenkrieger angelehnt – und des Druiden gehen auf ihre Schriften zurück. Sich rollenspielerische Inspirationen aus der Geschichte zu suchen, wie es in Projekt H.E.L.D. üblich ist, hat also Tradition.

Außerirdische Götter und versunkene Kontinente

Die zweite große archäologische Inspirationsquelle für heutige Rollenspiele stammt aus der gleichen Epoche, aber von der anderen Seite des Atlantiks. Als der amerikanische Schriftsteller H.P. Lovecraft 1926 seine Kurzgeschichte Der Ruf des Cthulhu schrieb, konnte er sich wohl nicht erträumen, welchen nachhaltigen Einfluss dieses Werk haben würde. Lovecraft sammelte leidenschaftlich – wenn nicht gar obsessiv – Zeitungsausschnitte über archäologische Mysterien, seien es angeblich versunkene Kontinente wie Atlantis oder Mu, Nachrufe auf verstorbene Archäologen, angeblich sensationelle Artefakte und Ähnliches. Diese dienten ihm als Nährboden der Fantasie und Aufhänger für seine Geschichten.

Howard P Lovecraft (gemeinfrei)

Der Ruf des Cthulhu beinhaltet eine Vielzahl archäologischer Motive, beginnend mit einer seltsamen Statuette, die ein Künstler dem Archäologen George Agnell zeigt, über unter mysteriösen Umständen verstorbene Forscher wie der besagte Archäologe Agnell bis hin zu einer aus dem Meer auftauchenden versunkenen Insel: R’lyeh. Die dreiteilige Kurzgeschichte, die 1928 in dem Pulp-Magazin Weird Tales veröffentlicht wurde, gilt allgemein als Ursprung von Lovecrafts Cthulhu-Mythos.

Allerdings ist die Grundidee von uralten außerirdischen Wesenheiten, unter deren Einfluss die Menschheit unbewusst steht, schon in seiner Kurzgeschichte Dagon von 1917 und anderen seiner Werke spürbar. In vielen davon ist der Protagonist ein einsamer Forscher, oft ein Archäologe oder Anthropologe, der auf der Suche nach diesen alten Göttern sein vorzeitiges Ende findet. Tischrollenspiele, die oft in Gruppen gespielt werden, müssen dieses Szenario zwar etwas abwandeln, aber das Prinzip bleibt bestehen.

Auch heute noch sind die Geschichten Lovecrafts ein Klassiker bei Fans von Phantastik und Science-Fiction. Das Rollenspielsystem Call of Cthulhu ist in seiner siebten Auflage ungebrochen beliebt und hat mehrere Spin-Offs, wie Achtung! Cthulhu (FATE) und Cthulhu Pulp. Auch andere Rollenspiele wie etwa World of Darkness und Hollow Earth Expedition sind vom Cthulhu-Mythos inspiriert. Doch nicht nur sie. Die Thesen des Schweizers Erich von Däniken zu extraterrestrischen Besuchern in der Frühgeschichte und die darauf basierende Sendung Ancient Aliens, die auf dem amerikanischen History Channel immer noch Rekordeinschaltquoten bringt, lassen sich ebenfalls teilweise auf den Chtulhu-Mythos zurückführen.

Die außerirdischen Monstrositäten, die von „degenerierten“ Kultisten bei Lovecraft als Götter verehrt werden, sind bei von Däniken „antike Astronauten“, die den umnachteten Barbaren der Vergangenheit Kultur und Architektur nahebrachten. Dabei unterscheidet sich vor allem die Bewertung der Außerirdischen, die bei von Däniken weit besser wegkommen als bei Lovecraft. Die generelle Einschätzung, die Menschheit sei von Haus aus eher minderbemittelt, ist allerdings bei beiden die gleiche, wenn auch bei dem ausgemachten Misanthropen und Rassisten Lovecraft deutlicher zu erkennen.

Was kann man rollenspielerisch daraus machen?

Wie schon erwähnt, enthalten viele Abenteuerplots ohnehin ein gewisses archäologisches Element. In der Geschichte der Archäologie wimmelt es darüber hinaus geradezu von ungeklärten Fragen, Gerüchten und Gelehrtenstreiten. Das bietet optimalen Nährboden für Szenarien in vielen verschiedenen Settings, sei es nun High- oder Low-Fantasy, Horrorgeschichte oder Pulp.

Herzstück eines Archäologie-Plots ist eine Suche – sei es die nach Erkenntnis, einer versunkenen Kultur, einem verschollenen Forscher oder einem seltsamen Artefakt. Einige Spielsysteme, etwa Hollow Earth Expedition, stellen dieses Element ganz deutlich in den Vordergrund. Ob die Charaktere selbst Archäologen sind, spielt dabei keine Rolle – solange sie zur Lösung des Abenteuers Hinweise sammeln müssen, die ihnen letztlich Erkenntnisse über die Vergangenheit liefern.

Verschwörungstheorien über Pyramiden in der Antarktis, versunkene Kontinente und natürlich Beweise für den Einfluss außerirdischer Besucher auf jede beliebige alte Kultur, die vom archäologischen Establishment verheimlicht werden, eignen sich darüber hinaus als Ideengeber für allerlei moderne Mystery-, Horror-, Spionage- oder Urban-Fantasy-Szenarien. Das Internet ist voll von derartig steilen Thesen, daher lassen sich Aufhänger für Plots leicht finden. Die Gruppe sollte ein Ziel haben und darüber hinaus die Möglichkeit, es zu erreichen.

Ob man dafür ein physisches Objekt dieser Suche braucht, kommt ganz auf das Spielsystem, die beteiligten Personen und die Situation an. Für manche Gruppen mag Erkenntnis als Ziel ihrer Suche reichen. Auch in der Realität sind Archäologen – anders als in der popkulturellen Darstellung – heute schließlich keine Schatzsucher mehr.

Inspiration aus Archäologie und Mythologie

Abenteuer mit archäologischen oder pseudoarchäologischen Themen sind allerdings nur der offensichtlichste Weg, sich als Spielleiter inspirieren zu lassen. Eine weitere Möglichkeit, von der Archäologie „abzuschreiben“, ist die, ein Volk oder Land, das die Charaktere in einem High-Fantasy-Setting bereisen, an eine alte Kultur anzulehnen. Diese Strategie ist in der Phantastik weit verbreitet – Tolkien nutzte die zu seiner Zeit gängigen Vorstellungen der angelsächsischen und nordischen Kulturen, um die Welt von Mittelerde zu gestalten, während in George R. R. Martins Lied von Eis und Feuer die Beschreibung des exotischen Landes Meereen mit seinen Stufenpyramiden und buntglasierten Ziegeln deutlich an die babylonische Kultur angelehnt ist.

Das Rollenspiel von Game of Thrones bedient zu Teilen diese Ideen.
Das Rollenspiel von Game of Thrones bedient zu Teilen diese Ideen. © Green Goblin, Mantikore Verlag

Im Rollenspiel lässt sich dies genauso verwenden wie in der Literatur: Für die Spielleitung ist es eine Hilfe im Worldbuilding, viele Details muss man sich nicht selbst ausdenken – es sei denn, man möchte. Alles, was man dazu tun muss, ist googeln und gegebenenfalls etwas in populärwissenschaftlicher Literatur schmökern (Bahnhofsbuchhandlungen haben übrigens oft eine große Auswahl an Wissenschafts- und Archäologiemagazinen). Für die Spieler kann das Setting entweder eine spannende Reise in eine exotische, fremde Kultur darstellen oder einen gewissen Wiedererkennungswert haben. Archäologische Bodenpläne von alten Tempeln, Palästen und Grabmalen (ebenfalls mit einer kurzen Bildersuche im Internet zu finden) eignen sich darüber hinaus vortrefflich als Schauplatz für Kämpfe, Schatzsuchen und ähnliche Abenteuer.

Khaemwaset (gemeinfrei)

Eine weitere Inspirationsquelle sind antike Mythen und Legenden. Der 1932 erschienene Film Die Mumie – besser bekannt durch das actiongeladene Remake mit Rachel Weisz – ist ein Paradebeispiel dafür, wie eine gute Idee immer wieder als Inspirationsquelle dienen kann, und sei sie auch noch so alt. Denn schon der Originalfilm bezieht sich auf eine (wirklich) alte Geschichte. Das Skript der Original-Mumie ist stark von einem 1864 entdeckten Hieroglyphentext auf einer Papyrusrolle aus dem dritten Jahrhundert nach Christus inspiriert.

Dieser enthält eine Geschichte über den Kronprinzen und Hohepriester Khaemwaset, der zwischen 1279-1224 vor Christus lebte. Khaemwaset ist eine historisch belegte Person, doch in diesem Text erscheint er als gelehrter, aber unvorsichtiger Priester, der auf der Suche nach Erkenntnis die Mumie eines verstorbenen Priesters erweckt, indem er eine alte, heilige Schriftrolle stiehlt. Das Motiv funktionierte auch noch sowohl im frühen als auch im späten 20. Jahrhundert. Wer sich jetzt noch schämt, die Mythen und Legenden der Vergangenheit zu „fleddern“, um sich für Plots inspirieren zu lassen, sollte sich ins Gedächtnis rufen: Selbst Tolkien hat diesen Weg gewählt.

Zum Weiterlesen: Viele der Hintergrundinformationen für diesen Artikel stammen aus dem Buch Spooky Archaeology von Jeb J. Card.

Artikeltitelbild: © KKulikov, depositphotos.com

1 Kommentar

  1. Sehr schöner Artikel!
    Und haben wir als Fans von Phantastik und Rollenspiel nicht auch alle wirklich ein bisschen einen Hang zu akteb Rätseln, Mythen und Legenden?
    Und grade in der Mittelalter Darstellung (im Reenactment natürlich noch viel mehr als im LARP) ein Interesse an archäologischen Funden und daran wie frühere Kulturen gelebt haben?

    Ich für meinen Teil mochte Geschichte schon als Schulfach immer gerne und finde sie bis heute überaus spannend^^

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