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Letzte Woche verlieh die World Science-Fiction Society in Dublin einmal mehr den vielleicht wichtigsten Preis für phantastische Literatur – und auch im deutschsprachigen Raum findet die Zeremonie von Jahr zu Jahr mehr Beachtung. Wir stellen die nominierten Romane und natürlich den Gewinner vor.

Auf der Worldcon, dem jährlichen Treffen der World Science-Fiction Society, wird mit den Hugo-Awards der älteste bis heute bestehende Science-Fiction-Preis der Welt verliehen. Zu einer Zeit, in der Fragen nach Gleichstellung und Diversität auch im deutschsprachigen Raum immer mehr in den Fokus rücken, erweckten die diesjährigen Shortlists mit ihren insgesamt fünfzehn Kategorien bereits im April einiges Aufsehen, denn erneut waren ungewöhnlich viele Frauen und People of Colour unter den Nominierten. Darin zeigt sich ein grundliegendes Umdenken der WSFS, denn noch Mitte des Jahrzehnts hatte es massive Widerstände seitens der rechtskonservativen Sad-Puppies-Bewegung gegeben, die das Phantasma einer unpolitischen Science-Fiction zum Vorwand nahm, Stimmung gegen marginalisierte AutorInnen zu machen. Deutliche Stellungnahmen von Szenegrößen wie George R. R. Martin mögen maßgeblich dazu beigetragen haben, dass diese kaum zukunftsträchtigen Attitüden sich nicht durchgesetzt haben, um für ein weiteres Jahrzehnt das Genre zu prägen. Woher die Wendung hin zu einer offeneren Phantastik ihre Dynamik erhält, wurde erst in Dublin wirklich sichtbar.

Hugo Awards - Alle GewinnerInnen © John Scalzi auf Twitter
Hugo Awards – Alle GewinnerInnen © John Scalzi auf Twitter

Die Hugo-Awards werden nämlich nicht von einer Fachjury vergeben, sondern waren schon immer ein Publikumspreis, für den alle Mitglieder der WSFS und somit auch alle Worldcon-Besucher stimmberechtigt sind. Es ist eine Auszeichnung von Fans für Fans, die neben phantastischer Literatur, Comics und Filmen auch Fanart, Fanmagazine und Podcasts prämiert. Dies fördert natürlich das Bewusstsein einer Mitverantwortung seitens der Community für die ins Rampenlicht gerückten Werke, für die geschaffene Atmosphäre und für die transportierte Außenwirkung. Und in den letzten Jahren hat die Community deutlich entschieden und kürte die Afroamerikanerin N. K. Jemisin für ihre bahnbrechende Broken Earth-Trilogie zum Gesicht einer neuen Science-Fiction. Umso spannender war natürlich die Frage, wer nun das Zepter übernimmt.

Unterm Strich war das Gros der GewinnerInnen weder kontrovers noch überraschend. Wie im Vorjahr wurde eines von Martha Wells’ Murderbot-Büchern als beste Novelle ausgezeichnet, und ebenso gewann Marjorie Lius und Sana Takedas Monstress erneut für den besten Comic. Der Lodestar Award for Best Young Adult Book gong an Tomi Adeyemis Children of Blood and Bone. Bemerkenswert war hingegen der Award für “Best Related Work”, der trotz Nominierung und anders als 2018 kein weiteres Mal an die verstorbene Ursula K. Le Guin ging, sondern an die größte Nonprofit-Seite für Fanfiction, Archive Of Our Own, auf der etwa zwei Millionen User ihre Texte zur Verfügung stellen. Eine derartige symbolische Anerkennung von – im Übrigen in der öffentlichen Wahrnehmung oft weiblich konnotierter – Fanfiction als essenziellem Bestandteil von Fankultur war längst überfällig und dürfte lange im Gedächtnis bleiben. Ebenso denkwürdig, wenngleich umstrittener, war die Rede der John W. Campbell Award for Best New Writer-Preisträgerin Jeannette Ng. Hatte Jemisin letztes Jahr in San José für Unmut gesorgt, als sie die raketenförmige Hugo-Trophäe als Mittelfinger für ihre Kritiker in die Höhe hielt, betrat Ng die Bühne und bezeichnete den Namensgeber des Preises rundheraus als Faschisten. Dass dies keine allzu großen Wellen schlug und in den folgenden Tagen sowohl John Scalzi als auch Cory Doctorow, die zu Beginn ihrer Karrieren ebenfalls mit dem Campbell-Award ausgezeichnet wurden, das Recht der Nachwuchsautorin auf eine derartige Polemik nachdrücklich verteidigten, zeigt ein weiteres Mal die Bereitschaft der Szene zu Neuevaluation und Weiterentwicklung.

Die Nominierten:

Revenant Gun – Yoon Ha Lee (Solaris)

Alles, was Fans schon früh in der vielfach nominierten Machineries of Empire-Reihe von Yoon Ha Lee gesehen haben, erweist sich spätestens im dritten und letzten Buch als absolut zutreffend. Dass die Fangemeinde des vierzigjährigen koreanisch-amerikanischen Mathematikers stetig anwächst, liegt nicht zuletzt an den seinen verschiedenen Figuren zugeordneten Faktionen, die das hochkomplexe Worldbuilding durch großen Wiedererkennungswert auflockern und den Geschmack einer mit Hogwarts-Häusern aufgewachsenen Leserschaft treffen dürften.

Neun Jahre nach den Ereignissen in Raven Stratagem erwacht Shuos Jedao in einem neuen Körper, ohne Erinnerungen, aber mit einem klaren Auftrag: Er soll dem unsterblichen Hexarchen Nirai Kujen dabei helfen, das auseinandergebrochene Hexarchat wiederherzustellen. Nur langsam wird ihm bewusst, dass dessen kalendarische Struktur auf regelmäßige Menschenopfer angewiesen war. Unterdessen versucht Kel Brezan gemeinsam mit dem verbleibenden Hexarchen Shuos Mikodez das System zu reformieren. Die Galionsfigur ihrer Revolution, Kel Cheris, die zudem noch immer Jedaos verbleibende Erinnerungen in sich trägt, gilt als verschollen.

© Solaris
© Solaris

Lee vollendet seine Trilogie, die so schwer zugänglich begann, mit frappierender Leichtigkeit. Neben dem anstehenden Kampf gegen Kujen, der sich notwendigerweise aus den bisherigen Büchern ergibt, erlaubt die Welt von Machineries of Empire einmal mehr minutiös ausgearbeitete und tief in den Sprachgebrauch der einzelnen Charaktere hineingewobene Darstellungen von Sozialstrukturen und ermöglicht so nebenbei noch einige Überlegungen zum Thema Gender, Macht und Einvernehmlichkeit. Ein schlechterer Autor hätte diese Aspekte weiter aufgebauscht, doch Lee lässt sie mit einer bescheidenen Eleganz in das Gesamtwerk einfließen, die ihn zumindest gegenwärtig konkurrenzlos erscheinen lässt.

Die harten Fakten

  • Verlag: Solaris
  • Autor: Yoon Ha Lee
  • Erscheinungsdatum: 12. Juni 2018
  • Sprache: Englisch
  • Seitenanzahl: 400
  • ISBN: 978-1-7810-8607-0
  • Preis: 11,30 EUR
  • Bezugsquelle: Amazon

 

Space Opera – Catherynne M. Valente (Corsair)

Bei all den wichtigen sozialen Themen, die in den letzten Jahren verhandelt wurden, war das Interesse an Science-Fiction-Komödien augenscheinlich gering. Catherynne M. Valente gelang es dieses Jahr dennoch, die LeserInnen zum Lachen zu bringen. Die Vierzigjährige, die 2006 für In the Night Garden, dem ersten Band ihrer Fantasyreihe The Orphan’s Tales, den James Tiptree, Jr. Award gewann, war bereits für den Hugo nominiert, jedoch noch nie ausgezeichnet worden. Space Opera geht als alleinstehender Roman ursprünglich auf einen Witz auf Twitter zurück und ist eine Liebeserklärung an den Eurovision Song Contest.

Der metagalaktische Grand Prix sichert Frieden und Wohlstand im Universum. Jede Spezies, die den Blick zu den Sternen hebt, muss einen musikalischen Vertreter entsenden, der in der größten Bühnenshow der Galaxis sein Können unter Beweis stellt. Als also der Abgesandte der Großen Oktave in Form eines blauen, flamingoartigen Wesens auf der Erde erscheint und die Menschheit zur Teilnahme verpflichtet, fällt die Wahl ausgerechnet auf den gescheiterten Rockstar Decibel Jones, dessen einziger Hit offenbar den Geschmack verschiedener Alienrassen trifft. Der von seiner Vergangenheit geplagte David-Bowie-Verschnitt stürzt kopfüber in ein Abenteuer voll aufgesetzter Fröhlichkeit und pompös überzogener Dramatik.

 © Corsair
© Corsair

Witzig, absurd und völlig überdreht ist Space Opera der Versuch einer Science-Fiction-Komödie, die mehr als einmal an Douglas Adams’ Per Anhalter durch die Galaxis erinnert, und sich in staunender Begeisterung für die vielfältigen Lebensformen, Kulturen und Bräuche des Universums ergeht. Das Loblied auf den Grundgedanken des ESC – Musik als Vehikel des interkulturellen Verständnisses und der gegenseitigen Anerkennung – schallt einem aus jedem Kapitel entgegen – mitunter deutlich lauter, als man es heutzutage beim realen Vorbild vernimmt. Dabei ist das absurde Brimborium schrill, bunt und gelegentlich etwas stressig, wie der Wettbewerb, von dem es inspiriert wurde. Eine Fortsetzung unter dem wenig überraschenden Titel Space Oddity ist bereits für 2021 angekündigt. Die ausführliche Besprechung gibt es hier.

Die harten Fakten

  • Verlag: Corsair
  • Autor: Catherynne M. Valente
  • Erscheinungsdatum: 6. September 2018
  • Sprache: Englisch
  • Seitenanzahl: 304
  • ISBN: 978-1-4721-1507-2
  • Preis: 5,29 EUR
  • Bezugsquelle: Amazon (auch in deutscher Übersetzung)

 

Trail of Lightning – Rebecca Roanhorse (Saga Press)

Autorin Rebecca Roanhorse wurde mit der Kurzgeschichte Welcome to Your Authentic Indian Experience bereits mit dem Hugo und auch mit dem Nebula-Award ausgezeichnet. Ihr Debutroman Trail of Lightning ist darüber hinaus auch noch für den im November verliehenen World-Fantasy-Award nominiert. Roanhorse hat sowohl afroamerikanische als auch Pueblo-Wurzeln, und die damit einhergehenden Erfahrungen verflochtener Diskriminierungsstrukturen prägen ihr Schreiben. So spielt die als Tetralogie angekündigte The Sixth World-Reihe im ehemaligen Navajo-Reservat, das in einer von Klimakatastrophe nebst ansteigendem Meeresspiegel gezeichneten Welt plötzlich zu neuem, magischen Leben erwacht.

Maggie Hoskie schlägt sich mittels übernatürlicher Kräfte als Monsterjägerin durch die von einer Mauer gegen das Meer abgeschirmte und nur spärlich besiedelte Wildnis. Sowohl der Verlust ihrer Familie als auch der Verrat ihres einstigen Mentors Neizghání, einem mächtigen Magier, haben sie zur grimmigen Einzelgängerin gemacht. Das ändert sich, als sie eine neue Art blutrünstiger Monster entdeckt, die offenbar von einem gefährlichen Zauberer erweckt wurden. Gemeinsam mit dem Heiler Kai versucht sie, die Hintergründe aufzuklären, und findet sich bald im Spiel eines tückischen Trickster-Gottes mit ganz eigenen Plänen wieder.

© Saga Press

Stilistisch eher einfach und auf hohen Unterhaltungswert angelegt, ist Trail of Lightning ein dann doch überraschender Kandidat für die Shortlist. Der Auftakt zu Maggie Hoskies Abenteuern führt in eine mit ihren Anleihen bei indigenen Traditionen zweifellos ungewöhnliche Welt ein; jedoch wirkt sie Geschichte trotz dieser Kulisse allzu herkömmlich. So sind die Sozialstrukturen um die Protagonistin, die langsam lernen muss, anderen Menschen zu vertrauen, gut ausgearbeitet, und es ist durchaus erfrischend, die sonst mit Männern besetzte Rolle skrupelloser Kämpfer mit dunkler Vergangenheit durch eine Frau ausgefüllt zu sehen. Derartig neu fühlt sich die toughe Actionheldin, die in der Wildnis allein in einem Trailer lebt, aber dann eben doch nicht an.

Die harten Fakten

  • Verlag: Saga Press
  • Autor: Rebecca Roanhorse
  • Erscheinungsdatum: 26. Juni 2018
  • Sprache: Englisch
  • Seitenanzahl: 304
  • ISBN: 978-1-5344-1349-8
  • Preis: 5,13 EUR
  • Bezugsquelle: Amazon

 

Spinning Silver – Naomi Novik (Macmillan)

2016 gewann Naomi Novik mit dem Fantasyroman Uprooted (Deutsch: Das dunkle Herz des Waldes) den Nebula und wurde für den Hugo nominiert. Zu diesem Zeitpunkt war die Autorin längst mit ihrer Reihe Die Feuerreiter seiner Majestät um die Freundschaft zwischen einem britischen Captain und dem aufmüpfigen Drachen Temeraire im Krieg gegen Napoleon bekannt geworden. Was viele nicht wissen: Die Reihe hatte ihren Ursprung in Fanfiction zu Master and Commander. Novik, die sich generell um die aufblühende Fanfictionkultur verdient gemacht hat und auf die der Name Archive Of Our Own zurückgeht, hielt entsprechend stellvertretend für die AutorInnen der Seite die Dankesrede. Dass Erzählen oft schlicht Neuerzählen bedeutet, schlägt sich gerade in ihren alleinstehenden Romanen nieder. Während Uprooted auf ein polnisches Märchen zurückgeht, ist Spinning Silver eine sehr freie Neuerzählung des Märchens vom Rumpelstilzchen, durchsetzt mit Elementen russischer Folklore.

Als die Weichherzigkeit des Vaters droht, ihre Familie in Armut zu stürzen, übernimmt die junge Miryem das Amt als Geldverleiherin des Dorfes und treibt fortan mitleidlos alle Schulden ein. Bald sagt man ihr nach, Silber zu Gold zu spinnen. Doch unvorsichtige Worte haben oft mehr Macht als gedacht, und so steht eines Nachts der König der Staryk vor ihrer Tür. In dessen verzaubertem Eisreich ist das gelbe Metall eine Seltenheit. Daher verlangt er von ihr, drei Taschen Silber zu vergolden. Gelingt es ihr, soll sie seine Königin werden; versagt sie, so wird sie zu Eis erstarren. Miryem stellt sich der Prüfung, verkauft das Silber und findet sich als Königin des kalten Landes jenseits der gleißenden Feenstraße wieder, mit wenig Hoffnung, jemals zu ihrer Familie zurückzukehren. Doch ist sie nicht die einzige, die gegen ihren Willen mit einer magischen Kreatur verheiratet wurde: Ohne ihr Wissen ist ihr Schicksal längst mit dem eben jener Fürstentochter verflochten, die sie mit dem Elfensilber zur Prinzessin gemacht hat.

© Macmillan

Mit seinem Fokus auf den Handels- und Schuldstrukturen, welche die verschiedenen Figuren immer weiter aneinanderbinden, ist der einzige klassische Fantasybeitrag in diesem Jahr ungewöhnlich stark. Dem in vielen Volksmärchen tradierten Antisemitismus tritt Novik entgegen, indem sie die praktizierte Religion der Protagonistin wiederholt zum Thema macht – in Fantasykontexten eine Seltenheit. Dabei transportiert sie die verwunschene Stimmung des Vorgängers Uprooted, erzählt jedoch dank komplexerer Charaktere und sicheren Gespürs für Klischeevermeidung die deutlich bessere Geschichte. Ein schöneres Wintermärchen hätte man sich nicht wünschen können.

Die harten Fakten

  • Verlag: Macmillan
  • Autorin: Naomi Novik
  • Erscheinungsdatum: 12. Juli 2018
  • Sprache: Englisch
  • Seitenanzahl: 480
  • ISBN: 978-1-5098-9902-9
  • Preis: 15,84 EUR
  • Bezugsquelle: Amazon (auch in deutscher Übersetzung)

 

Record of a Spaceborn Few – Becky Chambers (Hodder & Stoughton)

Becky Chambers ist eine der wichtigsten Vertreterinnen der neuen Welle feministischer sozialer Science-Fiction, die herkömmlichen Plotstrukturen um gewaltsame Konfliktlösung eine Absage erteilen und den Fokus stattdessen auf Zwischenmenschlichkeit und Selbstfindung lenken. Die Nominierung des abschließenden Wayfarers-Romans kam also nicht gerade überraschend, waren doch die Vorgänger The Long Way to a Small, Angry Planet und A Closed and Common Orbit ebenfalls Publikumslieblinge, obwohl sie sich gegen die hochkarätige Konkurrenz der letzten Jahre nicht durchsetzen konnten. Die Bedeutung der gesamten Wayfarers-Reihe für die gegenwärtige Phantastik wurde am Sonntag mit dem Award für „Best Series“ herausgestellt.

Record of a Spaceborn Few (Deutsch: Unter uns die Nacht) ist noch einmal völlig anders als alles, was Chambers zuvor geschrieben hat. Auf eine typische Handlung, wie man sie von einem Roman erwarten würde, verzichtet sie nun endgültig. Stattdessen folgt sie sechs Protagonisten, die auf ihre Weise alle um Selbstentfaltung ringen, und zeigt aus deren Sicht, wie die auf Abschottung und Bewahrung bedachte Kultur einer an ihr Ziel gelangten Sternenflotte sich an ihren eigenen Traditionen abarbeitet. Auf der Suche nach ihrem Platz in der Welt treffen Chambers’ Figuren aufeinander und erleben glückliche Momente im Familien- und Freundeskreis, fortwährend bestrebt, die eigene Geschichte und jene ihrer Vorfahren zu verstehen. Diese tiefen Einblicke in den Mikrokosmos der Sternenflotte zeigen, was Science-Fiction mit bloßem Worldbuilding erreichen kann.

© Hodder&Stoughton

Dabei steht wiederholt der Tod als Rätsel und Herausforderung im Mittelpunkt der lose verwobenen Erzählstränge. Für eine über Generationen hinweg auf Wiederverwertung aller vorhandenen Rohstoffe ausgerichte Gesellschaft gehen Trauerrituale und Kompostierung ineinander über, sodass das Verhältnis zu den Verstorbenen, welche buchstäblich getrunken und geatmet werden, ganz ohne mythische Verklärung einen holistischen Charakter erhält. Dass Chambers angekündigt hat, sich nach diesem dritten Band zunächst anderen Projekten zuzuwenden, ist zwar schade, zugleich ist es aber doch spannend, welche Richtung die Pionierin nachdenklicher Geborgenheits-Science-Fiction als nächstes einschlägt.

Die harten Fakten

  • Verlag: Hodder & Stoughton
  • Autorin: Becky Chambers
  • Erscheinungsdatum: 24. Juli 2017
  • Sprache: Englisch
  • Seitenanzahl: 368
  • ISBN: 978-1-4736-4761-9
  • Preis: 11,71 EUR
  • Bezugsquelle: Amazon (auch in deutscher Übersetzung)

 

Der Gewinner:

The Calculating Stars – Mary Robinette Kowal (Tor)

2014 gewann Mary Robinette Kowal ihren zweiten Hugo mit der Novellette The Lady Astronaut of Mars. Darin muss die alternde Astronautin Elma York, ihres Zeichens erste Frau im Weltall, die schier unmögliche Entscheidung zwischen einer letzten Weltraummission und der Hinwendung zu ihrem todkranken Ehemann treffen. Den alternativen Geschichtsverlauf, auf dem die Handlung basiert, hat Kowal inzwischen in zwei Prequel-Romanen genauer ausgeführt. Immerhin muss die Novellette viele Fragen offenlassen: Wie wurde Elma York erste Frau im All? Welche Erfahrungen macht eine US-amerikanische Astronautin in den 50er-Jahren? Welche Katastrophe zwang die Menschheit in dieser alternativen Realität dazu, so früh zum Mars aufzubrechen? All das erfährt man in The Calculating Stars bis ins kleinste Detail.

Nachdem 1952 ein Meteoriteneinschlag Verheerung anrichtet und droht, das Klima auf der Erde langfristig zur Unbewohnbarkeit kippen zu lassen, verdoppeln sich weltweit die Bemühungen um Raumfahrtprojekte. Elma York, eine öffentlichkeitsscheue Mathematikerin und ehemalige Kampfpilotin, gehört zu den wenigen Frauen, die für die International Aerospace Coalition arbeiten dürfen. Dabei träumt sie heimlich selbst vom Weltraum. Gegen gesellschaftliche Widerstände und im ständigen Kampf mit ihren eigenen Selbstzweifeln beginnt Elma, die Vorstellung von Frauen im Weltall salonfähig zu machen. Was mit kleinen Fernsehauftritten als „Lady Astronaut“ beginnt, mündet im ersten Ausbildungsprogramm für Astronautinnen.

Die Prämisse allein genügt als Erklärung, weshalb dieses Buch einen Nerv traf und dieses Jahr neben dem Hugo auch den Nebula gewann. Insbesondere das geschickte Marketing, mit dem Cover an den Erfolgsfilm Hidden Figures anknüpfend, mag seinen Teil dazu beigetragen haben. Und zugegeben: Der Moment, in dem am Sonntag in Dublin die tatsächliche Astronautin Jeanette Epps der Autorin der Lady Astronaut-Romane die silberne Rakete überreichte, ist symbolträchtig genug, um als wichtiger Moment der Science-Fiction-Geschichte verbucht zu werden. Insbesondere, wenn Kowal in ihrer Dankesrede über das Sichtbarmachen realhistorischer marginalisierter Personen spricht, möchte man den kleinen Wermutstropfen eigentlich gar nicht wahrhaben, der darin besteht, dass das Buch in Wahrheit nicht gerade herausragend ist.

The Calculating Stars versteht sich als durch und durch feministische Erzählung, hat aber leider genau in dieser Hinsicht einige Schwierigkeiten. Das beginnt damit, dass der Schwerpunkt auf der weißen Ich-Erzählerin liegt, was den intersektionalen Ansatz erschwert. Zu den unterschiedlichen Frauenfiguren verschiedener Herkunft und Hautfarbe hat Elma im Roman kein sonderlich enges Verhältnis, sodass deren Perspektiven zwar gelegentlich angesprochen, aber nie eingenommen werden. Insbesondere der Rassismus der Fünfzigerjahre ist wiederholt Thema, bleibt aber stets ein Beiwerk und ohne Bedeutung für den Plot, und ähnlich steht es mit dem jüdischen Glauben der Protagonistin. Außerdem leidet die Geschichte sehr darunter, dass Elmas Ehemann Nathaniel – vielleicht schon auf die später spielende Novelette hinarbeitend – als engelhafte, verständnisvolle Person ohne eigene, nicht auf Elma bezogene Eigenschaften auftritt. Darüber hinaus ist natürlich klar, worauf die Handlung hinauslaufen wird – es sind Lady Astronaut Novels, Elma wird wohl kaum auf der Erde bleiben –, und so wirkt die Geschichte einer selbstbestimmten Heldin in schwächeren Passagen wie ein künstlich in die Länge gezogener Leidensweg.

© Tor

Auf dem aktuellen Stand der Dinge ist ein Hugo-Award für einen harmlosen Feelgoodfeminismus-Roman mit hohem symbolischen Wert, aber ohne Tiefgang, nichts, worüber man sich beklagen müsste. Denn schließlich wurde auch und gerade männlichen Autoren in der Science-Fiction-Geschichte über Jahre hinweg die Gnade eines prämierten Mittelmaßes zuteil. Es steht allerdings zu hoffen, dass dies langfristig nicht zur schlechten Angewohnheit verkommt.

Die harten Fakten

  • Verlag: Tor
  • Autor: Mary Robinette Kowal
  • Erscheinungsdatum: 3. Juli 2018
  • Sprache: Englisch
  • Seitenanzahl: 384
  • ISBN: 978-0-7653-7838-5
  • Preis: 13,38 EUR
  • Bezugsquelle: Amazon

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