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Ein Kind verschwindet in der Lagunenstadt Venedig und seine Eltern versuchen fieberhaft seine Spur aufzunehmen, während sie mit ihren eigenen Erinnerungslücken und lang ignorierten Konflikten kämpfen. Als ersten Abenteuerband für FHTAGN legt die Deutsche Lovecraft Gesellschaft ein Drama in zwölf Akten vor.

Der Tod in Venedig ist der erste Abenteuerband für das frei verfügbare Rollenspiel FHTAGN, das unter der Regie der Deutschen Lovecraft Gesellschaft veröffentlicht wurde und als Druckvariante exklusiv im Cthulhu Webshop erhältlich ist. Angesiedelt im unverbrauchten Setting des Venedig der 50er-Jahre, lässt Autor Moritz Honert die Charaktere auf einen – auf den ersten Blick – klassischen Ermittlungsplot los, bei dem es um die Suche nach einem verschwundenen Kind geht. Dabei handelt es sich nicht um irgendein Kind, sondern um das Kind der beiden spielbaren Charaktere. Als Spieler ist man also direkt von Beginn an mittendrin in einem sehr persönlichen und emotional aufwühlenden Plot, der sich zu keiner Zeit die sprichwörtlichen Samthandschuhe anzieht. Aber lohnt sich der Horrortrip an die Adriaküste, oder sollte man lieber zu Hause bleiben? Wir haben den Trip für euch gewagt, um davon zu berichten.

Ein Wort der Warnung allerdings vorab: Es ist kaum möglich, dass Szenario zu besprechen, ohne dabei zwangsläufig über dessen Hintergründe zu sprechen. Da diese mit der eigentlichen Handlung in einer Art nicht-euklidischem gordischem Knoten verknüpft sind, werden kleinere Spoiler unvermeidlich sein. Interessierte Spieler lesen also ab hier auf eigene Gefahr weiter. 

Inhalt

Einleitung

Generell dreht es sich bei dem Abenteuer um einen Ermittlungsplot, bei dem die zwei Spieler ein Ehepaar darstellen, das sein gemeinsames Kind sucht. Die Spieler stellen dabei Reginald und Rebecca Martin dar. Reginald ist ein Autor, der mit dem Erwartungsdruck seiner Familie und seines Verlegers nicht gut zurechtkommt. Seine daraus resultierende Schreibblockade führt zu einer nicht unerheblichen Spannung zwischen den Eheleuten, da Rebecca ihrerseits eine vielversprechende Karriere als Opernsängerin aufgegeben hat, um ihre für die 50er-Jahre typische Rolle als Hausfrau und Mutter ausfüllen zu können. Da Martin nun immer längere Zeitabschnitte allein in seinem Arbeitszimmer verbringt und dabei aber auch immer weniger zu Stande bringt, beschließen beide, gemeinsam mit ihrem dreijährigen Sohn Nicolas und dem Kindermädchen eine Reise nach Venedig zu unternehmen.

Kaum dort angekommen, werden sie eines Morgens damit konfrontiert, dass ihr gemeinsames Kind verschwunden ist und eine fieberhafte Suche beginnt.

So sieht das Setup des Spiels aus und man kann bereits erkennen, dass es sich um ein untypisches Abenteuer handelt. Weder gibt es ein breites Angebot an vorgenerierten Charakteren, noch ist es vorgesehen, bestehende Spielercharaktere in das Abenteuer einzubauen. Die Fokussierung auf zwei spielbare Charaktere, die idealerweise auch noch von zwei Spielleitern betreut werden, zeigt bereits an, dass es sich um ein sehr dramatisches und dichtes Erlebnis handelt, auf das sich die Spieler einlassen müssen, um das meistmögliche aus dem Buch herauszuholen.

Mit der gleichnamigen Novelle von Thomas Mann oder dem Film von Luchino Visconti hat das Abenteuer übrigens nicht direkt etwas zu tun. Zwar finden sich einige Verweise und Anspielungen auf die beiden großen Vorbilder, aber die Kenntnis von Buch oder Film sind definitiv nicht zwingende Voraussetzung für diesen Band.

Die Zwölf Akte

Das Abenteuer gliedert sich in zwölf Akte, die jeweils aus einer oder mehreren Szenen bestehen können. Einige der Akte, vor allem jene, die sich um Ermittlungen rund um das Verschwinden des Kindes drehen, können deutlich mehr Zeit einnehmen als andere, aber insgesamt hat man es mit einem recht kurzen, intensiven Abenteuer zu tun.

Die Akte lassen sich grob in drei Arten einteilen. Es gibt Ermittlungsszenen, Verbindungszenen und Flashbacks. Ermittlungsszenen sind sicherlich ohne weitere Erläuterung verständlich. Diese Szenen stellen schlicht jene Abschnitte des Abenteuers dar, in denen die Charaktere nach Hinweisen suchen und sich mit möglichen Hintergründen des Verschwindens. Verbindungsszenen sind solche Szenen, in denen die Handlung neue Impulse von außen bekommt, die das Szenario in eine neue Richtung lenken und weitere Ermittlungen ermöglichen.

Die Flashbackszenen stellen allerdings eine besondere Art von Szene dar. Wie der Name schon sagt, erleben die Charaktere in diesen Szenen Rückführungen in die Ereignisse des vergangenen Tages und können so nach und nach erkennen, was genau vorgefallen ist und wie sie darin verwickelt sind. Qua ihrer Natur sind diese Szenen natürlich nicht interaktiv und können von den Spielern nicht beeinflusst werden, sodass sie relativ kurz ausfallen. Da beide Spieler jedoch jeweils eigene Sequenzen haben, die so designt sind, dass das Misstrauen der beiden Charaktere gegeneinander langsam, aber sicher steigt, kann so die Dynamik des Spiels gesteuert werden.

Die gesamte Handlung erstreckt sich wahrscheinlich nicht über viel mehr als zwei Tage im Spiel und – laut Angabe des Autors – circa zwei Stunden reale Spielzeit am Tisch. Aber diese zwei Tage bzw. Stunden haben es in sich.

Herausforderungen des Szenarios

Beginnen wir direkt mit dem Elefanten im Raum. Die Thematik und vor allem die letztliche Auflösung des Plots gehören zum härtesten Tobak, der in Deutschland publiziert worden ist. Man sollte als Spielleiter sehr sicher sein, wen man als Spieler am Tisch hat und ob das Abenteuer eine gute Wahl ist. Durch die Reduktion auf zwei Spieler und die relative Kürze des Abenteuers hat man es im wahrsten Sinne des Wortes mit einem Horrortrip zu tun. An dieser Stelle soll die Auflösung des Plots natürlich nicht verraten werden, aber wer es genauer wissen will, dem sei ein Blick in den Spoilerkasten empfohlen. Allen anderen sei gesagt, dass es eine echte Herausforderung sein dürfte, das Abenteuer so zu leiten, dass alle Beteiligten am Ende einen gelungenen Abend hatten.

Worum es geht (Spoiler)

Das verschwundene Kind ist zu Beginn des Abenteuers bereits tot. Es wurde von seinen Eltern in einem blasphemischen Ritual geopfert und verzehrt, um auf magische Weise die Schreibblockade des Mannes zu beenden. Durch die Art und Weise, wie man sich zu Beginn in einem klassischen Ermittlungsplot wähnt, beginnt man erst nach und nach – nachdem man bereits eine Identifikation mit dem Charakter und seinem verschwundenen Kind aufgebaut hat –zu vermuten, dass man selbst schuld am Verschwinden respektive am Tod des Kindes ist. Das Finale schließlich verlangt von beiden Spielern die Entscheidung ab, wie sie mit ihrem wiedergefundenen Wissen umgehen wollen und welche Folgen sie daraus ziehen. Werden sie sich gegenseitig töten? Einer den anderen? Oder umarmen sie den dunklen Abgrund ihrer Seele und geben sich ein zweites Mal dem Kult und den kannibalistischen Ritualen hin, um noch mehr „Gewinn“ für sich herauszuschlagen? Man sieht also, dass es sich beileibe nicht um Themen oder Bilder für jede Spielrunde handelt.

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Neben den harten Themen des Hintergrunds arbeitet das Abenteuer auch mit einigen weiteren Tricks bzw. Techniken, die der Spielleitung einiges an Aufwand abverlangen. Die Flashbackszenen zum Beispiel werden mit musikalischen Triggern assoziiert (eine Hommage an die großen Vorbilder) und es wird mehrfach empfohlen, bestimmte Szenen getrennt für beide Spieler zu leiten. Damit der Zeitfluss und die Dramaturgie des Szenarios nicht durch solche Parallelszenen ins stocken gerät, wird auch empfohlen, das Szenario mit zwei Spielleitern gleichzeitig zu leiten, um eine möglichst dichte Stimmung aufrecht erhalten zu können. Zu Gunsten der Stimmung wird auch auf eine modulare oder offene Handlung verzichtet. Der Tod in Venedig ist von seiner Struktur her mehr oder weniger eine klassische Achterbahn ohne viele Möglichkeiten, den engen Rahmen des Szenarios zu verlassen.

Man kann als vorgezogenes Fazit sicher sagen, dass es sich bei Der Tod in Venedig keinesfalls um ein besonders einsteigerfreundliches Abenteuer handelt. Weder auf Seite der Spieler noch auf Seite der Spielleitung.  

Erscheinungsbild

Das Abenteuer ist gedruckt als DIN-A4-Softcover mit Klammerbindung erschienen. Das Papier macht haptisch einen guten Eindruck, die Schriftart ist gut leserlich und die abgedruckten Karten und Handouts gestochen scharf. Die Illustrationen bestehen – mit einer Ausnahme – aus Schwarz-weiß-Fotografien des historischen Venedig und bringen die spezielle Stimmung der Stadt sehr gut rüber.

Mit 32 Seiten, davon 25 als eigentliches Abenteuer, ist der Band eher am kürzeren Ende des Spektrums angesiedelt. Der Preis von 5,95 EUR für ein gedrucktes Exemplar ist aber mehr als fair, vor allem wenn man die Preise mancher reinen PDF-Veröffentlichung zum Vergleich heranzieht.

Lobend zu erwähnen ist noch der Fakt, dass wichtige Personen, Orte, Handouts etc. im Text stets fett hervorgehoben werden, sodass man auch ohne Index beim Durchblättern schnell die gewünschte Information finden sollte. 

Es sei auch noch gesagt, dass der Band ausschließlich in gedruckter Form vorliegt. Eine PDF-Fassung ist zurzeit weder erhältlich noch geplant. Wer sich das Abenteuer also zulegen möchte, muss mit der Papierfassung vorliebnehmen.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Deutsche Lovecraft Gesellschaft
  • Autor: Moritz Honert
  • Erscheinungsjahr: 2019
  • Sprache: Deutsch
  • Format: DinA4
  • Seitenanzahl:632
  • ISBN: –
  • Preis: 5,95 EUR
  • Bezugsquelle: Cthulhu Webshop

 

Bonus/Downloadcontent

Auf der Webseite der Deutschen Lovecraft Gesellschaft kann man sich die Charakterbögen für die beiden vorgefertigten Charaktere als PDF herunterladen. Ansonsten ist zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Artikels noch kein Bonus- oder Download-Content für das Spiel veröffentlicht worden.

Fazit

Der Tod in Venedig ist definitiv ein in mehrfacher Hinsicht außergewöhnliches Abenteuer für das FHTAGN-Regelsystem der Deutschen Lovecraft Gesellschaft, das sich nicht scheut, Risiken einzugehen. Nicht nur weicht der Autor nicht vor den düsteren Abgründen des Genres zurück, sondern er wirft Spieler und Spielleitung kopfüber hinein. Hier zeigt sich, dass Horror-Rollenspiel mehr sein kann als Kämpfe gegen tentaklige Schrecken oder das Aufspüren sinisterer Kulte.

Das Ganze kommt allerdings – sehr passend für das Genre – nicht ohne einen Preis daher. Sowohl Spieler wie auch SL müssen bereit sein, sich auf ein sehr intensives und verstörendes Erlebnis einzulassen. Durch inszenatorische und strukturelle Kniffe werden den beiden Spielern immer wieder sprichwörtliche Knüppel zwischen die emotionalen Beine geworfen, die man im klassischen Cthulhu-Rollenspiel sonst nicht gewohnt ist und die sicherlich einige Spieler und Spielleiter abschrecken können. Beide Seiten sollten – zumindest grob – wissen, worauf sie sich einlassen, ehe das Spiel beginnt.  

Insgesamt kann man sagen, dass es sich bei Der Tod in Venedig um kein Abenteuer für jede Gruppe handelt. Wer aber Interesse an einer sehr persönlichen und intensiven Art von Horror hat, oder wer einfach mal eine grundlegend andere Herangehensweise an das Thema Horror im Rollenspiel sehen will, dem sei der Kauf des Bandes uneingeschränkt empfohlen. Wer eher klassische Mystery oder Gruselabenteuer sucht, der sollte einen Bogen um diesen Band machen.

 

Artikelbild: ©Deutsche Lovecraft Gesellschaft, ActiActi / depositphotos, Tratatushki / depositphotos
Dieses Produkt wurde kostenlos zur Verfügung gestellt.

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