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Eine kulturwissenschaftliche Einordnung des Phänomens Rollenspiel soll Dimensionen des Rollenspiels sein. Das heißt, der kulturelle Kontext, aber auch die sozialen Funktionen von LARP und P&P werden in vielen Aspekten beleuchtet. Theaterwissenschaftler Robin Junicke erläutert, wie Spiel und Spielerei, Identität und Performance im Hobby zusammenkommen.

Tischrollenspiel gibt es in Deutschland seit den 1980er-Jahren – ungefähr. Das wissen die meisten. Wie und warum das Hobby von Amerika zu uns kam und welche tieferen historischen Wurzeln es hat, wissen hingegen die wenigsten, und mit seinem soziologischen und kulturellen Kontext hat sich die Wissenschaft bislang auch noch nicht intensiv beschäftigt. Robin Junickes Buch Dimensionen des Rollenspiels – Geschichte – Format – Identität – Performance stellt einen ersten Versuch dar, diese Forschungslücke zu schließen.

Inhalt

Kulturwissenschaft, so hieß es noch zu meiner Studienzeit, sei das akademische Äquivalent zu dem Versuch, einen Pudding an die Wand zu nageln. Dementsprechend können für ein Werk, das laut Klappentext einen „Einstieg in die kulturwissenschaftliche Spieltheorie“ bieten soll, wohl nicht die allerhöchsten Standards an konkrete und allgemeinverständlich präsentierte Ergebnisse angesetzt werden. Das Werk ist als Doktorarbeit des Theaterwissenschaftlers Robin Junicke in der Schriftenreihe Scripta scenica. Bochumer Beiträge zur Theaterforschung erschienen und der Schreibstil allein macht schon klar: Es handelt sich hierbei nicht um eine populärwissenschaftliche Bearbeitung. Junickes Zielgruppe sind, so scheint es beim weiteren Lesen, auch nicht unbedingt Rollenspielende, sondern eher fachlich Interessierte aus den Forschungsbereichen Soziologie und Kulturwissenschaft, die selbst bisher wenig Berührung mit dem Hobby hatten – vermutlich der Promotionsausschuss.

Für eine wissenschaftliche Publikation allerdings bleibt selbst unter den oben genannten Voraussetzungen etwas unklar, was genau die zentrale These der Arbeit ist und welchen Mehrwert sie ihrer Leserschaft bringen soll. Es geht um Spieltheorie bzw. Spieltheorien, Plural, so viel wird im zweiten Kapitel konstatiert, das auch eine Reihe gängiger Spieltheorien auflistet. Der Autor erklärt dabei unter anderem die Distinktion zwischen dem freien, ergebnisoffenen Spielen (engl.: play), wie es zum Beispiel Kinder als „Vater-Mutter-Kind“ oder „Räuber-und-Gendarm“-Szenarien betreiben, und dem Spiel (engl.: game), das ein Regelwerk beinhaltet, und weist auf die Bedeutung heutiger Tisch-, Live- und Digitalrollenspiele als Medien hin, die diese beiden Aspekte wieder miteinander verbinden.

Befremdlich wirkt, dass manche rollenspielerischen Fachausdrücke ohne ausreichende Definition eingeführt werden. Was z.B. ist Nordic LARP? Nicht etwa eine Wikinger-Con, wie manche Lesenden jetzt meinen könnten, sondern eine besonders intensive Form des Liverollenspielens, die ihren Ursprung in skandinavischen Ländern hatte. Das wird allerdings nicht bei der Erstnennung des Begriffes erklärt, sondern erst etwas später in einem gesonderten Abschnitt. Solcherlei Vorgriffe kommen häufiger vor, was die Lektüre des Werkes nicht eben weniger anstrengend macht.

Auch sonst wirkt das Buch als wissenschaftliche Arbeit immer wieder terminologisch unsauber bzw. inkonsequent. So identifiziert der Autor etwa das Pen-and-Paper-Rollenspiel, LARP und die inzwischen größte Kategorie Digitalrollenspiel als die Sorte „echter“ Rollenspiele, die im Fokus seiner Forschung steht, nur um später ausschließlich auf die ersten beiden Kategorien näher einzugehen. Ähnlich wird das historische Reenactment zuerst als dem Rollenspiel nur ähnliche Nebenkategorie eingeführt, dann später aber als Unterkategorie des LARP näher beschrieben. Dies wirkt methodisch undurchdacht. Der Autor erklärt zwar an mehreren Stellen, dass die vorgenommenen Kategorisierungen schon aus Mangel an wissenschaftlicher Literatur zum Thema nicht allgemeingültig sind, dennoch hätte man gerade unter dieser Voraussetzung erwarten können, dass er wenigstens bei seiner eigenen Einteilung bleibt.

Ein Lichtblick ist die historische Einführung in die Welt des Rollenspiels bzw. Rollenspielens, seine Wurzeln in Konfliktsimulationen und den Salonspielen des 17. Jahrhunderts sowie die Ursprünge der heute beliebtesten Fantasy-Tischrollenspielsysteme Dungeons & Dragons und Das Schwarze Auge. Immer wieder ist in der detaillierten Beschreibung von Regeln und Spielpraktiken deutlich, dass sich das Buch auch – wenn nicht nur – an Menschen richtet, die selbst noch keine Erfahrung mit Rollenspielen haben. Als ebenfalls lesenswert erweist sich das fünfte Kapitel, das sich unter anderem mit Narrativen und Identitäten im Rollenspiel befasst.

Überhaupt scheint die Beschäftigung mit Identitäten ein Hauptinteresse des Autors zu sein. Theaterwissenschaftler Robin Junicke erklärt hier fachlich kompetent das Verhältnis von Rolle zu Identität, die Wurzeln des Rollenbegriffs im Theater und die erweiterte Verwendung des Ausdrucks im gesellschaftlichen Kontext. Auch das folgende Kapitel, das die Verwurzelung der Phantastik in der Mythologie und damit verbundene Theorien zum kulturellen Gedächtnis anreißt, regt zur Reflektion an. Schade ist nur, dass man sich erst durch das halbe Buch „durcharbeiten“ muss, um an diese interessanten Stellen zu gelangen.

Leider ist das Werk nicht nur wegen des geisteswissenschaftlichen Tons schwer zu lesen. Auch die unglückliche Angewohnheit des Autors, wörtliche Zitate zu benutzen, anstatt Quellen in eigenen Worten zu zitieren, macht die Lektüre sehr holprig – zumal englische Zitate noch nicht einmal übersetzt werden. Dazu kommen Fußnoten, die vom Lesefluss ablenken. Alles in allem bleibt der Eindruck eines Werks, das sich nicht genau entscheiden kann, welche Zielgruppe es eigentlich anspricht. Die Rollenspiel-Community kann es eigentlich nicht sein, dafür wird zu viel Zeit und Papier aufgewendet, um zu erklären, was Rollenspiele eigentlich sind und wie sie funktionieren.

Ob die Arbeit indes akademischen Ansprüchen genügt, kann die Autorin dieser Zeilen nicht fachkompetent genug entscheiden. Als meines Wissens erstes deutschsprachiges Werk, das Spieltheorie auf Live- und Tischrollenspiel anwendet, ist es allerdings zumindest der Beginn, eine klaffende Forschungslücke zu schließen. Dafür allein gebührt dem Autor schon Anerkennung.

Der Autor

Robin Junicke legte mit Dimensionen des Rollenspiels seine Dissertation im Fach Theaterwissenschaft vor. Er arbeitet als freier Dramaturg, Lehrbeauftragter für Schauspiel und Regie und forscht als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Theaterwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum. Sein Forschungsinteresse gilt unter anderem Spieltheorie und Phantastik.

Erscheinungsbild

Als Softcover im DIN-A5-Format liegt das Werk gut in der Hand. Es ist qualitativ hochwertig gebunden, ohne Tendenz zu herausfallenden Seiten oder Knickrücken. Auch die Front- und Rückcoverillustration machen einen guten ersten Eindruck. Ein Panoramafoto, das ein Holzschwert (vorne) und einen vermutlich stumpfen Säbel (hinten) in einem Stoppelfeld steckend zeigen, weckt direkt Assoziationen an Kinderspiel, LARP oder historisches Reenactment.

Innen zeigt sich, dass hier möglichst viel Information auf möglichst kleine Fläche gepresst werden sollte – in serifenloser Schrift und mit einfachem Zeilenabstand. Während diese Entscheidung das Buch angenehm transportabel hält, hilft sie nicht gerade der Lesbarkeit. Auf weitere Illustrationen oder Grafiken verzichtet der Autor ebenfalls. Quellen sind in Form von Fußnoten angegeben. Dankenswerterweise gibt es aber auch eine nach Kapiteln sortierte Bibliographie am Ende des Buches.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Athena
  • Autor: Robin Junicke
  • Erscheinungsjahr: 2019
  • Sprache: Deutsch
  • Format: Taschenbuch
  • Seitenanzahl: 223
  • ISBN: 978-3-7455-1081-2
  • Preis: EUR 24,00
  • Bezugsquelle: Fachhandel, Amazon

 

Fazit

Dimensionen des Rollenspiels ist auf keinen Fall ein Buch, das man mal eben als Zerstreuungslektüre liest. Dafür ist der Schreibstil zu trocken, der Ton zu wissenschaftlich. Eine soziologisch-kulturwissenschaftliche Aufarbeitung des Phänomens Rollenspiel in all seinen Schattierungen scheint eher der Anspruch des Werkes zu sein.

In den verschiedenen Kapiteln ist es Robin Junicke unterschiedlich gut gelungen, diesen zu erfüllen. Die historisch-soziologische Einordnung in den ersten Kapiteln ist interessant, sowohl für Menschen, die selbst rollenspielen, als auch für Interessierte aus der Kulturwissenschaft. Das Buch hat in verschiedenen Kapiteln immer wieder interessante Fakten und Denkanstöße zum sozialen Kontext von Rollenspielen zu bieten.

Eine populärwissenschaftliche Überarbeitung dieser Promotionsschrift mit flotterem Schreibstil und ansprechenderem Layout hätte ein breiteres Publikum und insbesondere auch Interessierte aus dem Hobby selbst ansprechen können. So aber scheint das Werk mehr wie ein kurzer Blick über den Tellerrand der arrivierten Theaterwissenschaft. Als wissenschaftliche Arbeit bleibt es meines Erachtens dabei methodisch und terminologisch zu beliebig. Es ist aber zumindest ein erster Schritt in Richtung der weiteren soziologischen und kulturwissenschaftlichen Erforschung des Phänomens Rollenspiel.

 

Artikelbild: ATHENA Verlag, Bearbeitet von Verena Bach
Dieses Produkt wurde kostenlos zur Verfügung gestellt.

 

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