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Zutaten: Eine große Portion Echtzeit-Strategie, dazu eine Dieselpunk-Welt, drei schön erzählte Kampagnen und phantasievolle Einheiten. Alles in einem großen Topf vermischen und mit einer großen Prise Kunst von Jakub Różalski Doch wie gut ist das Rezept gelungen? Wir haben uns aufgemacht, die Welt von gegnerischen Mechs zu befreien.

Iron Harvest knüpft an Genregrößen wie Company of Heroes Es gilt, Bereiche einer Karte zu erobern oder zu halten, Kontrollpunkte einzunehmen, Ressourcen zu sammeln und durch gute strategische Planung am Ende den Sieg zu erringen. Das Bauen eigener Basen ist nicht Fokus der Kampagnen, die meiste Zeit sind wir mit Einheiten im Feld unterwegs.

Genaueres Setting/Geschichte

Iron Harvest ist angesiedelt in einer alternativen Welt um das Jahr 1920. Der große Krieg ist scheinbar vorbei, doch schwelen schon die Brände, die zum nächsten Konflikt führen. Die Ingenieure aller Fraktionen arbeiten fieberhaft an der Verbesserung der im letzten Krieg erfundenen Mechs: Dieselgetriebener Laufmaschinen mit schwerer Bewaffnung, die auf den Schlachtfeldern Angst und Schrecken verbreiten – und den Tod bringen.

Die Fraktionen sind die Nachfolgerinnen von Militärbündnissen, die sich im großen Krieg gebildet haben. Polania ist dabei eher friedliebend und wurde bereits im ersten Krieg gezwungen, sich zu verteidigen. Aber auch damit konnte nicht verhindert werden, unter die Kontrolle von Rusviet zu fallen. In Rusviet hat es die Revolution von 1917 nicht gegeben, und Zar Nicholas II ist noch an der Macht, zusammen mit seinem getreuen Berater Rasputin. Saxony wiederum ist stark an das preußische Reich und dessen unterstützenden Mächten angelehnt und steht Rusviet erbittert gegenüber.

Erzählweise

Die Geschichte in den Kampagnen wird nicht nur in Cutscenes erzählt, sondern auch in gescripteten Sequenzen direkt im Spielverlauf. Alle Cutscenes und Scriptsequenzen sind stimmig animiert, allerdings fällt bei den Cutscenes ein teilweise deutlicher Unterschied in der Qualität der Charakteranimationen auf. Es entsteht das Gefühl, dass einige Cutscenes sehr hastig produziert wurden. Dies hat jedoch keinen Einfluss auf die Erzählung.

Iron Harvest beginnt mit einem harmlosen Einführungsszenario, welches das Deckungssystem des Spiels anhand einer Schneeballschlacht erklärt. Hier lernen wir gleich die Protagonistin der ersten Kampagne kennen: Ana Kos, die schon in jungen Jahren eine treffsichere Schützin ist. Sie wird ständig begleitet von ihrem Bären Woitek, welcher sie im Kampf tatkräftig unterstützt. Im weiteren Verlauf der ersten, in Form einer Entwicklungs-Geschichte erzählten Kampagne wird sie zusammen mit ihrem Bär Woitek zur polanischen Heldin.

Die zweite Kampagne spielt auf rusvietischer Seite. Die Protagonistin ist die Spionin Olga Romanova, deren Spezialität heimliches Vorgehen und das unbemerkte Ausschalten von gegnerischen Einheiten ist. Im Gegensatz zu Ana wirkt Olga jedoch leider etwas zu stereotypisch. Es wirkt, als wäre sie einfach nur eine typische Kommandoeinheit, wie man sie aus anderen Echtzeitstrategie-Titeln kennt: Sie kann schleichen, Dinge sprengen und ganze Trupps gegnerischer Einheiten alleine ausschalten, solange sie nicht bemerkt wird. Auch sie hat einen tierischen Begleiter in Form des Tigers Changa – nur hat Changa keine nützlichen Fähigkeiten und ist keine große Hilfe. Dieser Charakter wirkt etwas lieblos modelliert und hätte etwas mehr Tiefe vertragen können.

Der dritte im Bunde ist der saxonische Veteran Gunter von Duisburg. Er bekämpft seine Gegner*innen nicht nur auf dem Schlachtfeld, sondern hat gleichzeitig noch mit politischen Wirren innerhalb des saxonischen Reiches zu tun. Dadurch wird er zur Hauptfigur der komplexesten, aber auch spannendsten Kampagne in Iron Harvest. Auch Gunter von Duisburg hat Begleittiere in Form der beiden Wölfe Tag und Nacht. Auf dem Schlachtfeld erscheint er nicht nur als Infanterist, sondern des öfteren auch in seinem eigenen Mech „Brunhilde“.

Begleiter und Nebenfiguren

Die Tierbegleiter aller Protagonist*innen handeln weitgehend selbständig. Wir können ihnen aber, wie allen anderen Einheiten auch, gezielt Befehle erteilen. Desweiteren verfügen sie über spezielle Fertigkeiten, die wir einsetzen können – so kann Anas Bär Woitek beispielsweise Einheiten heilen oder Gegner mit einem vernichtenden Zerfleischen-Angriff ausschalten.

Die Nebenfiguren innerhalb der Kampagnen sind ebenfalls nicht grau und langweilig. Man merkt, dass das nicht nur notwendige Figuren in der Geschichte sind, sondern dass sie eigene Motivationen, Ziele und Gefühle haben. Viele von ihnen haben Eigenheiten, durch die sie noch lange im Gedächtnis bleiben, beispielsweise Frieda, die freche Ingenieurin auf saxonischer Seite.

Features

Iron Harvest bringt fast alles mit, was ein Echtzeit-Strategiespiel braucht. Die Kontrolle der Einheiten gelingt flüssig, die Wegfindung hat keine allzu großen Schwächen. Die Ziele sind klar formuliert und jederzeit auf einer Karte ersichtlich. Durch Kriegsnebel wird Spannung aufgebaut, da man nur einen kleinen Bereich der Karte wirklich unter Kontrolle hat.

Iron Harvest versucht, mit nicht allzu viel Micro-Management auszukommen. Gruppen von Soldaten können als Einheit befehligt werden, und der Aufbau der Basen ist eher rudimentär gehalten.

Das Deckungssystem

Starke Abstriche müssen leider beim Deckungssystem gemacht werden. Dies lehnt sich deutlich an die Vorlage von Company of Heroes an, indem beispielsweise verfügbare Deckung in grün hervorgehoben wird. Leider hat man versäumt, den Einheiten im Spiel das Prinzip näherzubringen. So gehen diese teilweise vor einer Deckung in Stellung. Oder gegnerische Einheiten, deren Stellung überrannt wird, gehen in den offenen Sturm, statt zurückzufallen und neue Deckung zu suchen. Da KING Art nicht untätig ist und schon mehrere Patches veröffentlicht wurden, gehe ich davon aus, dass diese Probleme mit der Zeit gelöst werden.

Truppenentwicklung

Sehr schön gelöst ist die Spezialisierung der eigenen Truppen. Die Infanterie-Einheiten können mit Gegenständen, die auf dem Schlachtfeld gefunden werden, in Spezialeinheiten verwandelt werden. Beispielsweise werden sie mit Werkzeugen ausgerüstet zu Pionieren, die Kriegsgerät reparieren oder Hindernisse beseitigen können. Mit Granaten ausgerüstete Einheiten werden zu Grenadieren, die mehr Schaden anrichten.

Gerade im Multiplayer-Modus führt dies zu einem dynamischen Spielverlauf, da sich anfangs meist nur Schützen-Trupps gegenüberstehen. Sobald die ersten Kontrollpunkte eingenommen wurden und somit weitere Optionen zur Verfügung stehen, werden die Einheiten spezialisierter.

Mechs

Ein Herzstück von Iron Harvest sind die Mechs. Diese sind so liebevoll gestaltet, wie man das für Kampfmaschinen sagen kann. KING Art und Jakub Różalski  haben es geschafft, in den Mechs die Eigenheiten der jeweiligen Fraktion aufzugreifen. Beispielsweise sehen polanische Mechs meist aus wie übergroße Regentonnen, an die diverse Waffen montiert wurden, passend zu einer Nation, die nicht wirklich gerne in den Krieg zieht, aber hastig Kriegsgerät bauen muss. Rusvietische Mechs sind dagegen durchgeplante Kriegsmaschinen, die nur zu einem Zweck gebaut wurden: Eroberung und Dominanz.

Detaillierte und veränderbare Schlachtfelder

Die Schlachtfelder in Iron Harvest sind sehr detailliert gestaltet. Die Landschaften, Dörfer und anderen Umgebungen wirken glaubhaft. Neben den Grundstrukturen liegt überall irgendwelches Zeug herum, was zur jeweiligen Gegend passt und in einigen Fällen sogar aufgehoben und genutzt werden kann.

Die eine oder andere Karte birgt dabei offene und versteckte Möglichkeiten, den Schlachtverlauf zu wenden, wenn man sie einmal entdeckt und/oder instandgesetzt hat. Ich möchte an dieser Stelle nicht zu viel spoilern.

Das Beste an den Schlachtfeldern ist, dass sie dynamisch sind und im Laufe des Gefechts verändert werden können. So kann es beispielsweise passieren, dass eine Deckung einfach durchbrochen wird oder ein schwerer Mech einfach durch das Haus läuft, welches unsere Truppen eigentlich gerade besetzen wollten, und es in einen Trümmerhaufen verwandelt.

Stein, Schere, Papier

Iron Harvest bietet drei Fraktionen, die sich alle minimal anders spielen. Während die Grundeinheiten nahezu gleich sind, unterscheiden sich die Mechs in ihren Ausrichtungen und Bewaffnungen. Zusätzlich hat jede Fraktion noch Exoskelett-Einheiten. Diese sind stabiler oder schlagkräftiger als normale Infanterie, aber nicht so stark wie kleine Mechs.

Das Balancing zwischen den Einheiten ist gelungen. Gefechte werden in der Regel durch Taktik entschieden und nicht dadurch, dass eine Seite per se die bessere Technik hat. Die Stärken und Schwachstellen aller Einheiten greifen perfekt ineinander, so dass es keine unbesiegbaren Einheiten gibt. Beispielsweise haben alle Mechs, obwohl das rein logisch gar nicht notwendig wäre, eine schwächere Rückenpanzerung. Durch diese Achillesferse sind sie von geschickt geführten Infanterietrupps besiegbar, die sie auf dem offenen Feld einfach niedermähen würden. Gleichzeitig spendierten die Entwickler*innen ihnen die Möglichkeit, sich rückwärts zu bewegen, damit sie nicht gezwungen sind, dem gegnerische Einheiten bei einem Rückzug diese schwächere Panzerung mehr als nötig zu präsentieren.

Grafik und Sound

Grafisch ist Iron Harvest ein Gesamtkunstwerk. Das Spiel zaubert beeindruckende Grafiken auf den Bildschirm, selbst bei schwächeren Grafikkarten. Auf den Schlachtfeldern sind alle wichtigen Informationen jederzeit gut zu erkennen.

Das Spiel ist sehr detailverliebt. Kleinigkeiten, Dreck, liegengelassenes Material und Überbleibsel aus dem vergangenen Krieg liefern Details, die die Welt zum Leben erwecken. Die alternativen 1920er wirken glaubhaft. KING Art und Jakub Różalski  haben hier gute Arbeit geleistet.

Die Soundeffekte klingen glaubhaft, was gerade bei den Mechs viel Aufwand erfordert haben dürfte. Auch die Sprachausgabe ist gelungen. Alle Sprecher*innen beherrschen ihr Handwerk, es gibt keine Verständnisschwierigkeiten. Leider sprechen alle deutschen Sprecher*innen akzentfrei, obwohl bei einem deutschen Entwickler*innen-Studio davon ausgegangen werden könnte, die Primärsprache des Spieles sei Deutsch. In der englischen Variante haben alle Fraktionen einen eigenen Akzent, was die Charaktere noch einmal etwas glaubhafter werden lässt.

Der Soundtrack trägt sein übriges dazu bei, ein stimmiges Gesamtbild zu schaffen. Die Musik passt zur Stimmung, zur Zeit und zu den Schlachtfeldern. Hört man bewusst hin, unterstreicht sie die Details. Hört man nicht bewusst hin, ist sie unaufdringlich und bleibt im Hintergrund. Der Soundtrack dürfte sich daher auch gut als Untermalung für Rollenspielrunden eignen.

Die harten Fakten:

  • Entwickler*innen-Studio: KING Art
  • Publisher: Deep Silver
  • Plattform: PC
  • Sprache (Audio): Deutsch, Englisch
  • Sprache (Untertitel/Oberfläche): Deutsch, Englisch, Französisch, Italienisch, Spanisch
  • Mindestanforderungen: Win10 x64, DX11, Core i5-4460 oder AMD-Äquivalent GTX960 oder AMD-Äquivalent, 8 GB RAM, 30 GB Speicherplatz
  • Empfohlen: Win10 x64, DX11, Core i7-8700k oder AMD-Äquivalent, GTX2060 oder AMD-Äquivalent, 4 GB VRAM, 16 GB RAM, 30 GB Speicherplatz
  • Genre: Echtzeit-Strategie (RTS)
  • Releasedatum: 01.09.2020
  • Spielstunden: 30+ in drei Kampagnen, darüber hinaus Multiplayer
  • Spieler*innen-Anzahl: Singleplayer-Kampagne, Multiplayer-Modus
  • Altersfreigabe: USK 16
  • Preis: 49,99
  • Bezugsquelle: Fachhandel, Amazon, idealo

Fazit

Drei gelungene Singleplayer-Kampagnen mit interessant gestalteten Haupt- und Nebenfiguren laden zum Durchspielen ein. Die Geschichten sind nicht unabhängig, sondern geschickt verwoben, sodass sie nur nacheinander gespielt werden können. Schön: Der Krieg wird in keiner der Kampagnen verherrlicht.

Iron Harvest ist ein ernstzunehmendes Echtzeit-Strategiespiel, welches mit einer liebevoll gestalteten Welt, schön erzählten Geschichten und gut abgestimmten Einheiten punkten kann. Durch wandelbare Einheiten und zerstörbares Gelände ist die strategische Tiefe hoch.

Es gibt ein paar kleine Wermutstropfen, beispielsweise beim Deckungssystem. Dies war in Company of Heroes besser gelöst. Passionierte „Basenbauer“ werden in den Kampagnen zu viele „Laufmissionen“ bemängeln.

Die Entwickler*innen sind nicht untätig und reichen stetig Patches nach, mit denen entdeckte Fehler behoben oder Wünsche aus der Community umgesetzt werden. Eine Deluxe-Edition bietet weitere Spielinhalte.

Für knapp 50 Euro bietet Iron Harvest großartige Unterhaltung zum angemessenen Preis.

 

Artikelbilder: © Deep Silver
Layout und Satz: Annika Lewin
Lektorat: Jessica Albert
Dieses Produkt wurde kostenlos zur Verfügung gestellt.

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