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In der Zukunft werden Gefängnisse wegen akuter Überfüllung ins All verlegt. In Durance-Gefangen! seid ihr die Insassen – und Wächter – einer dieser interstellaren Strafkolonien. Das Überleben in diesen abgeschlossenen Welten muss hart erkämpft werden. Und vielleicht ist alles umsonst, denn es gibt von nichts genug.

In einer fernen, aber leider nicht allzu fremd wirkenden Zukunft hat sich die Menschheit über das Universum ausgebreitet. Zu dieser nicht allzu strahlenden Zeit sind sämtliche Probleme der Gegenwart erhalten geblieben und haben sich sogar noch verschlimmert – Überbevölkerung, Armut, Gewalt, Kriminalität und Unruhen sorgen für einen steten Strom an Kundschaft für das Justizsystem, welches mit der Masse an zu verwaltenden Menschen überfordert ist. Dieses Justizsystem stellt sich in die stolze Tradition der britischen Gerichtsbarkeit des späten 18. Jahrhunderts und entlädt ihre Strafgefangenen in entfernte Orte – Australien ist leider schon voll -, um dort für ihre Strafzeit und in so gut wie allen Fällen darüber hinaus dahinzuvegetieren.

Man merkt gleich, dass Durance-Gefangen! kein Spiel übermenschlicher Superhelden im Stile eines Dungeons and Dragons sein wird, sondern ganz im Gegenteil das reine Überleben des eigenen Charakters schon einen großartigen Erfolg darstellt. Gleich zu Beginn sei gesagt: wer sich mit menschlichen Abgründen, Verzweiflung und dem Überleben mit allen Mitteln nicht anfreunden kann, wird an diesem Spiel mit ziemlicher Sicherheit keine große Freude haben.

Unsere kleine Strafkolonie im All

Zu Beginn einer jeden Runde Durance-Gefangen! werden der Planet, die eigentliche Kolonie und die Charaktere der Spielsitzung erstellt. Eine*r der anwesenden Spieler*innen wird zum*zur ersten von vielen Aufseher*innen gewählt und beginnt damit, eine Tabelle mit der „planetaren Einstufung“ nach links an den*die nächste*n Spieler*in zu überreichen. Die Planeten in Durance-Gefangen! haben mögliche Eigenschaften wie exzellente Atmosphäre, stabile Geotechnik, ungefährliche Flora und Fauna etc. Die Spieler*innen entscheiden sich nacheinander dafür, einen dieser Faktoren zu markieren (und damit als unumstößlichen Fakt zu setzen) und einen weiteren Faktor durchzustreichen und somit ins Gegenteil zu verkehren. Danach wird die Karte weiter gereicht und genauso verfahren. Nach dem*der dritten Spieler*in ist der Planet fertig erstellt. Durance-Gefangen! hat für jede sich daraus möglicherweise ergebende Kombination aus diesem System einen Beispielplaneten angegeben, dessen Hintergrund man verwenden kann, fertig mit eigenen Gerüchten und Spieloptionen. Ein großes Lob sei hier für die Vielfalt an Plotideen vermerkt.

Unser neues Zuhause? Nun, zumindest ist das Wetter beständig…

Nach dem Planeten geht es an die koloniale Klassifizierung, die Erstellung der eigentlichen Strafkolonie. Hier können sich die Spieler*innen unter anderem zwischen den Optionen erschlossene Infrastruktur, motivierte Arbeitskräfte, etablierte Ordnung etc. entscheiden. Auch hier gibt es für jede mögliche Kombination eine vorgeschlagene Strafkolonie. Aufgrund der Tatsache, dass jeweils die Hälfte der Bedingungen der planetaren Einstufung sowie der kolonialen Klassifizierung absolut schlecht für alle Beteiligten sind, wird schnell klar, dass das Überleben aller Spielercharaktere unwahrscheinlich ist.

Zum Schluss der Kolonieerstellung muss von der Spieler*innengruppe noch der Antrieb der Charaktere festgelegt werden. Wieder wird eine Tabelle mit mehreren Optionen im Kreis herumgereicht. Dieses Mal kann aber keine Option gesichert werden, es wird lediglich reihum der am wenigsten gewünschte Antrieb durchgestrichen. Am Ende bleibt ein für die Spielrunde definierender Antrieb übrig, welcher später im Spielsystem relevant werden wird.

Insass*innen und Wächter*innen – der Charakterbau

Im Zentrum des Spiels stehen die Insass*innen und Wächter*innen eines interstellaren Gefängnisses, welche entweder in ihrer jeweiligen Hierarchie aufsteigen, einfach nur überleben oder vielleicht auch fliehen möchten. Anders als in so gut wie jedem anderen Rollenspielsystem gibt es für die Spieler*innencharaktere keine Werte, keine definierenden Zahlen oder einen gewohnten Charakterbogen.

Um eine*n Gefängnisinsasse*in zu kreieren, ist wieder eine spezielle Tabelle hinzuzuziehen. Die Strafkolonie beherbergt zwei Hierarchien, die Strafgefangenen und die Wächter. Für eine Spielrunde bauen sich die Spieler*innen jeweils einen Charakter aus jeder Seite, haben für eine Spielsitzung also immer zwei Charaktere zur Verfügung. Die Kategorien rechtschaffen oder gut werden hier bewusst nicht bemüht, da sich diese Eigenschaften bunt durch die Bewohner*innen des Komplexes ziehen können.

Aus der Hierarchie beider Lager suchen sich die Spieler*innen reihum eine Position aus, die sie gerne als Charakter bekleiden würden. Allerdings gibt es nur eine begrenzte Zahl an Positionen für die Spielercharaktere – so kann es lediglich eine*n Gouverneur*in, eine*n Captain der Marines, eine*n Dieb*in etc. geben.

Um einen Charakter für Durance-Gefangen! zu erstellen, wird wieder eine Übersichtstabelle mit den Funktionen der Strafkolonie reihum gereicht. Der*die erste Spieler*in sucht sich nun eine Position auf einer beliebigen Seite aus und überlegt sich, welchen persönlichen Eid dieser Charakter sich selbst gegenüber ablegt. Das kann der Schwur sein, eine gewisse Person oder Organisation niemals zu verraten, die persönliche Ehre unter allen Umständen zu schützen, das bereits Aufgebaute zu erhalten etc. Diese Eide sollen eine spielerische Herausforderung für den Charakter darstellen und Probleme bringen. Eine spieleigene Liste macht interessante Vorschläge, es wird aber klargestellt, dass man sich als Spieler*in auch beliebig eigene Eide ausdenken kann.

Danach wird die Karte weitergereicht und der*die nächste Spieler*in darf sich ebenso einen Charakter erstellen – allerdings keine Position, die bereits vergeben ist. Nachdem die Tabelle einmal komplett herumgereicht wurde, erstellen sich die Spieler*innen noch ihren zweiten Charakter – allerdings muss dieser auf der anderen Seite des Rechts und auf einer anderen Hierarchiestufe stehen. Das soll wahrscheinlich ein zu einseitiges Spiel unterbinden.

Sobald alle Spieler*innen zwei Charaktere erstellt und mit Namen versehen haben, sollten die Spieler*innen überlegen, ob ihre Charaktere bereits eine gemeinsame Vergangenheit haben bzw. eventuelle Verbindungen zwischen den Charakteren bestehen. Und damit sind die Spielvorbereitungen für Durance-Gefangen! abgeschlossen.

Das System

Durance-Gefangen! behauptet, ein spielleiterloses Rollenspiel zu sein, dennoch wird für das Spiel ein*e sogenannte*r Aufseher*in bestimmt, welche*r das Spiel mit einer Frage um den Eid eines Charakters in Gang setzt. Diese Frage kann simpel gehalten sein, wie zB.: „Ich wundere mich, woher die Langfinger das Material haben, um ihre Hütten gegen den Schwefelsäureregen zu schützen. Interessant. Ophria hatte doch geschworen, niemals wieder zu stehlen, oder?“ oder auch „Ob Corporal Phill dem rechtswidrigen Befehl Folge leisten wird und das Lager der Einheimischen niedermetzelt? Hatte er nicht geschworen ihnen niemals Schaden zuzufügen?“. Aus dieser vom*von der Aufseher*in gestellten Frage an einen oder mehrere Charaktere ergibt sich das Spiel, welches von den beteiligten Charakteren „ausgefochten“ und erlebt wird. Da ein*e Spieler*in als amtierende*r Aufseher*in in dieser Szene die Rolle der Spielleitung übernimmt, sollen die eigentlichen Charaktere dieses*dieser Spieler*in dabei bewusst eher im Hintergrund gehalten werden.

Sobald sich ein Konflikt ergibt, welcher nicht durch die Worte der Spieler*innen gütlich geeinigt werden kann, kommt das sogenannte Unsicherheits-Dreieck zum Tragen. Dieses Dreieck besteht aus den Werten Gehorsam, Gewalt und dem jeweiligen, von den Spieler*innen für diese Sitzung gewählten Antrieb. Um den jeweiligen Wert für diese drei Parameter zu eruieren, wird zu Beginn einer Spielsitzung für jeden Aspekt dieser Kolonie ein sechsseitiger Würfel geworfen. Sobald eine spielentscheidende Frage um einen oder mehrere Charaktere auftritt, wählt der*die Aufseher*in die zwei passendsten Attribute aus dem Unsicherheits-Dreieck und würfelt, während der dritte Wert unverändert liegen bleibt. Der höchste Würfel aus diesem Wurf setzt sich mit seinem dazugehörigen Attribut durch. Der Wurf wird interpretiert und danach mit der Szene fortgefahren, bis die Frage um den Eid des Charakters zufriedenstellend beantwortet wurde. Das kann durchaus mehrere Würfel und Konfliktsituationen beinhalten. Zentral bleibt die Frage, wie sich die Charaktere unter den ihnen gegebenen Umständen bewähren. Brechen sie ihre Überzeugungen und Ideale, um eine missliche Situation zu meistern? Oder schaffen sie es, trotz allem, sich selbst treu zu bleiben? Erst, wenn die eingangs gestellte Frage des*der Aufseher*in beantwortet wurde, wird zu einer neuen Szene fortgeschritten. An dieser Stelle geht auch die Position des*der Aufseher*in an den*die nächste*n Spieler*in, der*die wiederum die nächste Szene mit einer eigenen Frage eröffnet. Es gibt also keine vorgegebenen Szenarien, diese ergeben sich nur aus der von der gerade amtierenden Spielleitung gestellten Eingangsfrage zum Eid eines oder mehrerer Charaktere.

Sobald ein Charakter seinen*ihren persönlichen Eid bricht – ob aus Gewalt oder einem anderen Grund, ist nicht weiter relevant -, wird der Charakter nicht mehr weiter bespielt und verschwindet in der Masse der namenlosen Nichtspielercharaktere. Wenn die Anzahl der eidbrechenden bzw. toten oder vermissten Charaktere die Anzahl der Spieler*innen überschreitet, rät Durance-Gefangen! dazu, eine letzte Szene auszuspielen, in der eventuelle lose Fäden zusammengeführt werden.

Klar, die Atmosphäre ist giftig, wir haben kaum beheizbaren Platz und wir haben bald keine Vorräte mehr, aber hey, dafür ist der Nachthimmel einfach wunderschön! Und Mensch schmeckt angeblich gar nicht so schlecht…

Der Umfang

Durance-Gefangen! wurde mithilfe einer Kickstarterkampagne im Oktober 2020 mit etwas über 4.000 € realisiert. Man sieht also, dass es sich hier um ein eher kleines, bescheidenes Projekt handelt. Nichtsdestotrotz ist das in A5 gehaltene Hardcover vollfarbig und in guter Qualität. Zusätzlich wurde vom Verlag auch ein Kartenset veröffentlicht, welches die Informationen des Grundregelwerks auf Spielkartengröße übertragen hat. – Alle Planeten und Kolonien, die Ränge für die Charaktere und Regelerinnerungstexte sind auf hochwertige Karten gedruckt. Das ist nett, aber für das Spiel nicht essenziell.

Durance-Gefangen! kennt keinen großen, übergreifenden Plot. Es gibt die Prämisse interstellarer Strafkolonien. Dazu kommen einzelne Plothooks zu den jeweiligen Planeten und Gefängnissen. Außerdem gibt es noch den Hinweis, dass man das Spiel auch historisch, etwa mit der Gefangenenkolonie von Sydney, spielen kann. Ansonsten sind die Spieler*innen gefragt, was der übergreifende Plot sein soll.

Die Härte der Rechtsprechung wird von den Charakteren in hohen Machtpositionen bestimmt.

Da die Entscheidungen der Spieler*innen bei der Erstellung ihrer Spielumgebung sowie der Charaktere einen so zentralen Punkt des Spiels einnehmen, kann man Durance-Gefangen! getrost als einen riesigen Sandkasten wahrnehmen, der vor allem durch die Teilnahme der Spieler*innen lebt. Dadurch ist Durance-Gefangen! eigentlich nur erfahreneren Rollenspielrunden ans Herz zu legen, da schon ein oder zwei stillere Spieler*innen, welche man normalerweise „mitziehen“ könnte, hier mehr ins Gewicht zu fallen scheinen. Auch die schwere Thematik der Hoffnungslosigkeit und Gewalt dürfte nichts für jede Rollenspielrunde sein. Dass auch die Entwicklung der Charaktere jenseits ihrer Erlebnisse am Spieltisch fehlt, sie also keine Punkte auf einem Charakterblatt steigern können, dürfte den einen oder die andere Spieler*in abschrecken.

Das Kartenmaterial

Aufgrund der Dimension des Spiels, welches sich theoretisch auf ganze Planeten erstrecken kann, befindet sich im Band keinerlei Kartenmaterial. Da ein Gefängnis, welches mehrere hundert bis tausend Insassen beherbergen muss, auch nicht in seiner Gesamtheit sinnvoll in einem Buch im A5-Format abgebildet werden kann, war das aber auch zu erwarten.

Übernatürliches und Monster

Sämtliche Begegnungen in Durance-Gefangen! sind vom Grundbuch lediglich angedeutet und optional. Ob in der Fremde Fauna oder Aliens auftauchen bzw. mit ihnen interagiert werden kann, ist absolut freigestellt.

Schätze

Durance-Gefangen! beinhaltet keinerlei Regeln für Ausrüstungen oder anderweitige Schätze. Es gilt hier der gesunde Menschenverstand und die Fantasie der teilnehmenden Spieler*innen, was alles zum Einsatz kommen bzw. gefunden werden kann.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Pro-Indie
  • Autor*in(nen): Jason Morningstar
  • Erscheinungsjahr: 2020
  • Sprache: Deutsch
  • Format: Hardcover
  • Seitenanzahl: 143
  • ISBN: 978-3-9820652-6-7
  • Preis: 19,95 EUR
  • Bezugsquelle: Fachhandel, Sphärenmeister

 

Fazit

Durance-Gefangen! ist ein Spiel, welches sich traut, die Spieler*innen und ihre Charaktere ohne den Ballast eines ausufernden Regelsystems, Charakterbögen oder eines Progressionssystems in das Abenteuer Rollenspiel zu schicken. Die düstere Atmosphäre eines fernen Gefängnisplaneten lässt sogar grimdarke Settings wie Warhammer 40.000 direkt nett wirken. Und die Freiheit beim gemeinsamen Bau des Settings, der Charaktere und der Konfliktlösung ist erfrischend einfach.

Aber:

Die gerade aufgezählten Gründe, warum Durance-Gefangen! für die eine Runde wunderbar funktionieren und tolle Rollenspielmomente produzieren kann, werden auch dieselben Gründe sein, warum manche Spielrunden damit absolut nicht glücklich werden. Sollte man ein belastbares Regelsystem suchen, um die Traglast eines Sträflings, die Kraft eines Baggers oder die Geschwindigkeit einer abgefeuerten Patrone nachlesen zu können, wird man hier definitiv nicht fündig.

Trotz der oben angeführten Punkte kann man für den moderaten Preis des Grundregelwerks durchaus einen Blick riskieren. Allein die Plothooks für die einzelnen Planeten und Kolonien beherbergen die ein oder andere Idee, welche auch für andere Systeme Verwendung finden können. Und für knapp 20€ kann man hier wenig falsch machen.

 

 

Artikelbilder: © albund, © grandfailure, © it.i3d.pl, © neilld | depositphotos.com
Layout und Satz: Melanie Maria Mazur
Lektorat: Susanne Stark
Für diese Rezension wurden vom Verlag freundlicherweise ein Grundregelwerk und ein Satz Spielkarten zur Verfügung gestellt.

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