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Der Cthulhu-Mythos, kosmischer Horror von Wahnsinn erzeugender Dimension, inspiriert bis heute Bücher, Filme und nicht zuletzt etliche Rollenspiele. Sein geistiger Vater war ein Menschenfeind, der fest an die Minderwertigkeit anderer „Rassen“ glaubte. Können aufgeklärte Rollenspiel-Fans mit diesem Weltbild kritisch umgehen und dennoch den Schauer des Mythos genießen?

Die düsteren Visionen eines notorischen Menschenfeindes – so kann man H.P. Lovecrafts Cthulhu-Mythos beschreiben. Genau diese düstere Stimmung ist es ja, was seine Welt als Rollenspiel-Szenario so reizvoll macht. Sein Rassismus und Antisemitismus hingegen können dem Spielabend gerne fernbleiben. Überlegungen zu kritischem Spiel.

Nazis jagen im Pulp … und echter Rassimus

In diesem Monat ist Achtung! Cthulhu 2d20 erschienen. Während der Titel für deutschsprachige Ohren eher wie ein Straßenschild klingt, wissen Eingeweihte: Hier handelt es sich um eine Variante des cthuloiden Rollenspiels, das während der Zeit des Zweiten Weltkriegs angesetzt ist. Genauer gesagt: des „Geheimen Krieges“, den heldenhafte alliierte Agent*innen gegen okkulte Geheimorganisationen des Dritten Reiches führen. Der deutsche Ausruf soll das anglophone Publikum wohl wissen lassen: „Aufgemerkt, in diesem Szenario kommen Nazis vor“. Nun gut, das Klischee sei verziehen. Schließlich befinden wir uns im Pulp. Da kämpfen moralisch einwandfreie Held*innen auf der einen gegen unzweifelhaft verdorbene Bösewichte auf der anderen Seite und als Vertreterin Letztgenannter eignet sich die Kriegsmaschinerie Nazideutschlands – insbesondere in Kombination mit dunkler Zauberei und Anbetung der Großen Alten – nun einmal recht gut.

© Modiphius
© Modiphius

Das Setting ist indes nicht neu: Schon 2014 kam Achtung! Cthulhu mit dem FATE-Regelwerk auf den internationalen Markt. Die neue Variante ist vor allem eine Anpassung an das bei Modiphius beliebte, pulptaugliche 2d20-Regelwerk. Es geht also darum, Nazi-Kultist*innen zu bekämpfen und ihre finsteren Pläne zu durchkreuzen. Prima! Mit diesem Vorhaben können sich wohl die meisten unserer Leser*innen identifizieren. Aber wie verträgt sich das eigentlich mit einer Spielwelt, die auf den Fantasien eines Rassisten und Antisemiten basiert, der an die Überlegenheit der „arischen Rasse“ glaubte und dessen kosmischer Horror maßgeblich von Furcht und Abscheu vor dem „Anderen“ angetrieben wurde? Besteht da nicht eine kognitive Dissonanz?

„Ich mag den Jungen!“

Daran, dass Howard Phillips Lovecraft (1890-1937) ein Vertreter der Ideologie war, die man heute „White Supremacy“ nennt, besteht kein Zweifel. Er war darin überdies nicht – wie oft behauptet wird – nur ein „Mann seiner Zeit“, sondern selbst für das frühe 20. Jahrhundert außergewöhnlich xenophob und rassistisch eingestellt. Er wird zwar immer wieder als höflich, gar charmant im Umgang beschrieben, aber seine privaten Aufzeichnungen sprechen eine andere Sprache.

In Briefen lamentierte er etwa darüber, dass in seiner Heimat Neuengland nicht die gleiche Rassentrennung herrschte wie in den amerikanischen Südstaaten, und während seiner kurzen Zeit in New York stieß es ihn besonders ab, auf engem Raum mit Schwarzen und jüdischen Menschen (die er als „rattengesichtig“ bezeichnete) leben zu müssen. Darüber hinaus war er davon überzeugt, dass jüdische Verleger den Literaturbetrieb kontrollierten – eine Vorstellung, die sicherlich auch von damals gängigen (und heute leider immer noch existenten) Verschwörungsmythen beeinflusst war. Warum er als ausgemachter Antisemit mit dem jüdischen Performer Harry Houdini, für den er als Ghostwriter einen Essay über das Übel des Aberglaubens verfasste, zusammenarbeitete, wird wohl im Dunkel der Geschichte bleiben.

H. P. Lovecraft um 1915 © Wikipedia, gemeinfrei
H. P. Lovecraft um 1915 © Wikipedia, gemeinfrei

Ebenso unklar ist, auf welcher Seite der Vater des Horrorgenres sich im Zweiten Weltkrieg gesehen hätte, denn er verstarb schon 1937. Zwar zeigen sich klare patriotische oder antideutsche Einstellungen in allen Geschichten, in denen der Erste Weltkrieg behandelt wird (etwa Herbert West – Reanimator oder Der Tempel), doch war er auch ein Bewunderer Adolf Hitlers – zumindest von dessen Ideen zur „Reinhaltung“ der „arischen Rasse“: „Er ist ein Clown, aber bei Gott, ich mag den Jungen!“, schrieb er Anfang der 1930er Jahre begeistert.

Auch Lovecrafts Texte bedenken vor allem Schwarze, Asiat*innen, Menschen jüdischer Herkunft und die indigene Bevölkerung von außerhalb Europas mit zutiefst abfälligen Worten. Der Autor war von alten außereuropäischen Kulturen gleichermaßen fasziniert und abgestoßen und befasste sich geradezu obsessiv mit Nachrichten über Archäologie. Generell ist sein Werk als misanthropisch zu beschreiben, eine düstere Vision von übermächtigen, fremdartigen Mächten und Wesenheiten, die die Menschheit entweder zu pervertieren oder zu vernichten suchen – und damit auch kein Problem haben werden, wenn sie sich jemals dazu entscheiden. Genau darin liegt wohl unter anderem die Faszination von Lovecrafts Werk: der kalte Schauer, den die Vorstellung auslöst, jederzeit von der Erdoberfläche gefegt werden zu können – von einer Macht, die wir weder verstehen noch bekämpfen können.

100 Jahre Rezeption

Fast ein Jahrhundert ist vergangen, seit Lovecraft seinen düsteren Kosmos erschuf, aber die Beliebtheit seiner Kreation ist ungebrochen. Schon zu seinen Lebzeiten haben andere Pulp-Autor*innen Geschichten in der Welt des Cthulhu-Mythos geschrieben. Später haben auch Filmschaffende versucht, seine Werke umzusetzen. Nur wenige filmische Werke konnten die unheimliche Stimmung des Cthulhu-Mythos einfangen – herausstechend zu nennen ist hier Stephen Kings The Mist. Die meisten scheiterten an der Umsetzung des widernatürlichen Grauens, was das Ergebnis oft ins Alberne kippen ließ. Ein herausragendes Beispiel dafür ist die Reanimator-Trilogie, die, wenn nicht als Mutter aller Zombiefilme, doch zumindest als deren exzentrische Tante gelten darf.

Faszination H. P. Lovecraft – ein Exkurs in die Welt der analogen Spiele
Faszination H. P. Lovecraft – ein Exkurs in die Welt der analogen Spiele © mpriv

In den 1980ern dann hielt der Cthulhu-Mythos Einzug in die Welt der Spiele: Das Brettspiel Arkham Horror wurde 1987 entwickelt und die ersten Auflagen des Tischrollenspiels Call of Cthulhu wurden ebenfalls in diesem Jahrzehnt publiziert. Seither ist Cthulhu ein Horror-Rollenspiel-Klassiker mit einer Vielzahl von unterschiedlichen Settings. Kampagnen sind unter anderem angesetzt in der viktorianischen Periode, den 1920ern – als Blütezeit von Lovecrafts Schaffen wohl am beliebtesten – dem europäischen Mittelalter oder sogar in der Jetztzeit. Darüber hinaus gibt es noch andere Regelwerke, die sich auf den Cthulhu-Mythos beziehen wie Mythos World oder Apocthulhu. Auch der Erste und eben der Zweite Weltkrieg sind beliebt, vermutlich aus dem Grund, dass das menschengemachte Grauen des Krieges mit dem kosmischen Grauen der großen Alten zusammenpasst. In einem üblichen Cthulhu-Szenario sollten die Spielenden meist nicht damit rechnen, dass ihre Charaktere allzu lange überleben. Pulp-Adaptionen wie Achtung! Cthulhu oder Chtulhu Pulp hingegen geben den SC die Chance, einen Kampf mit einem Großen Alten oder einer Gruppe Kultist*innen nicht nur zu überleben, sondern vielleicht sogar zu gewinnen!

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Auch über Verfilmungen und andere direkte Adaptionen seiner Werke hinaus war Lovecrafts Einfluss enorm: Die Vorstellung, dass die Gottheiten alter Kulturen in Wahrheit außerirdische Wesen waren, ist bis heute unter Anhänger*innen pseudoarchäologischer Verschwörungsmythen sehr beliebt, wie sie etwa in der amerikanischen Serie Ancient Aliens verbreitet werden. Der Rassismus ist hier nicht ganz so deutlich wie bei Lovecraft selbst, aber immerhin basiert diese Erzählung auf der Grundannahme, dass sämtliche prä-kolonialen Völker auf die Hilfe von Außerirdischen angewiesen waren, um Kultur zu entwickeln.

Auch andere Verschwörungserzählungen klingen für Lovecraft-Kenner*innen oft erstaunlich „cthulhoid“: Die Vorstellung, dass Hitler mit Hilfe Außerirdischer und deren Flugscheiben-Technologie 1945 nach Antarktika geflohen sei, wo diese eine unterirdische Basis unterhielten etwa: Das erinnert nicht nur an Lovecrafts Novelle Berge des Wahnsinns, sondern ist auch ein Klassiker unter Verschwörungsgläubigen. Wenn man den Teasern glauben darf, wird auch diese Idee ihrerseits in Achtung! Cthulhu 2d20 wieder aufgenommen.

Ideen für kritisches Spiel

Achtung! Cthulhu 2d20 Quickstart © Modiphius
Achtung! Cthulhu 2d20 Quickstart © Modiphius

Es ist nicht leicht, die Welt des Cthulhu-Mythos von den rassistischen Narrativen zu befreien, die ihr geistiger Vater in sie hineingearbeitet hat. Aber die inzwischen fast hundertjährige Rezeption von Lovecrafts Werk bietet durchaus Möglichkeiten, sie zu unterwandern, ohne sich ganz vom wohligen Schrecken des Mythos abzuwenden. Ein Beispiel der letzten Jahre ist Matt Ruffs Roman Lovecraft Country und die darauf basierende HBO-Serie. Darin erlebt eine Gruppe Schwarzer Amerikaner*innen in den 1950er Jahren eine Reihe von an den Cthulhu-Mythos angelehnten Abenteuern, in denen sie sich neben finsteren Kabalen verrückter Okkultist*innen auch noch mit dem alltäglichen Rassismus ihrer Umgebung herumschlagen müssen. Ähnlich wie in Weltkriegsszenarien des Rollenspiels wird hier der reale Horror mit dem Übernatürlichen geradezu ironisch kontrastiert. Auch Ruffs Protagonist Atticus Turner kämpft mit sich, da er Lovecrafts unheimliche Geschichten liebt, aber um dessen menschenverachtende Einstellungen weiß.

© Modiphius
© Modiphius

In diesem Wissen liegt der Schlüssel dazu, cthuloide Welten zu bespielen, ohne die Narrative weiterzutragen, auf denen sie basieren. Nicht immer schaffen es die Rollenspielverlage, diesen kritischen Blick schon im Regelwerk anzulegen. Auch wenn diese heutzutage natürlich wenigstens von rassistischer Sprache befreit sind, finden sich selten vorgeschlagene Charaktere, die nicht weiß sind und viele Abenteuer enthalten immer noch das alte kolonialrassistische Klischee des degenerierten Eingeborenenvolkes, das irgendwo im Dschungel finstere Götter verehrt. Dann müssen die Spielenden, besonders die Spielleitung, eingreifen. Mit genug Vorstellungsvermögen sollte es allerdings durchaus möglich sein, Abenteuer zu entwerfen, die diese Klippen umschiffen.

Nehmen wir noch einmal das Beispiel von Achtung! Cthulhu: Warum zum Beispiel sollten okkultistische Archäolog*innen im Dienste von Heinrich Himmler ihre düsteren Geheimnisse auf irgendwelchen Südseeinseln lüften, wenn nordische Wikingerkulturen viel eher ihrer Ideologie entsprechen? Und auch die Held*innen müssen nicht immer blütenweiße englische Ladies und Gentlemen sein – die wahre Geschichte des Zweiten Weltkrieges zeigt, dass die Kämpfenden weit diverser waren, als allgemein angenommen wird. Diese Regel gilt nicht nur für die Weltkriege. Auch in allen anderen üblichen Cthulhu-Szenarien lässt sich leicht etwas mehr Diversität einarbeiten, wenn man die in Lovecrafts Schriften angelegten Klischees nicht als sakrosankte Vorgaben auffasst, sondern als das, was sie sind: Die Vorurteile eines leicht paranoiden Rassisten.

Ein weiteres oft benutztes Mittel, um die lovecraftschen Klischees zu konterkarieren, ist Humor. Zu viele Witze sind allerdings in ernsteren Szenarien nicht passend und stören den erwünschten Gruseleffekt. Ironie und Galgenhumor können die Stimmung subtiler auflockern.

Schlussbemerkung

Howard Phillips Lovecraft war ein Rassist und Antisemit, der Hitler bewunderte und präkoloniale Hochkulturen mit ebensoviel Abscheu wie Faszination betrachtete. Doch das muss uns nicht davon abhalten, in einer von seinen düsteren Fantasien inspirierten Welt gegen Nazis und andere Widerlinge zu kämpfen. Es lohnt sich, die rassistischen Narrative, die in Lovecrafts Werk stecken, im Spiel zu hinterfragen. Auch mit kritischem Blick lassen sich namenlose Schrecken kosmischen Ausmaßes im Rollenspiel umsetzen – sei es im Pulp- oder im Horrorgenre.

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Titelbild:
depositphotos © FairytaleDesign
Layout und Satz: Roger Lewin
Lektorat: Lukas Heinen

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