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Warum mal nicht wieder ein Soloabenteuer spielen? In Thousand Year Old Vampire steigen wir in die Rolle eines uralten Vampirs, der mit seinem verschwindenden Gedächtnis kämpft. Werden wir im Laufe der Zeit unsere Menschlichkeit und Erinnerungen verlieren oder bewahren wir einen Rest Menschlichkeit und uns selbst? Finden wir es heraus…03

Einleitung – das Ungeheuer und die Einsamkeit

Vampire sind einsame Jäger. Ihre untote Natur und ihre Nahrungsrestriktion bedeuten, dass Vampire ihr Unleben in wenig Gesellschaft verbringen werden – sofern man nicht gerade mit Mitspieler*innen Vampire als Rollenspiel, als Larp oder etwas anderem spielt.

Vampire faszinieren. Ihre Stärke, ihre Anmut und ihre Tragik sind grundlegende Elemente einer mitreißenden und spannenden Geschichte. Leider ist ihre Natur ebenso nicht besonders gruppenverträglich, wodurch es gerade bei Rollenspielen mit Vampircharakteren oft auf einen Charakter-vs-Charakter-Konflikt hinauslaufen kann.

Bei einem Solorollenspiel haben wir dieses Problem nicht. Hier sind wir der einzige Spielercharakter und daher dreht sich die Geschichte exklusiv um uns und unsere Befindlichkeiten. Sehr passend für ein untotes Monster, das mit seiner Menschlichkeit und dem Wegbrechen derselben kämpft.

Thousand Year Old Vampire von Tim Hutchings ist ein Solorollenspiel, in welchem wir ein solches untotes Monster spielen. Anders als in klassischeren Solorollenspielen, wie das bereits von Teilzeithelden besprochene Invasion der Normannen, haben wir in diesem Spiel allerdings keine numerischen Spielwerte zu verteilen, sondern definieren den Charakter vielmehr über seine im Leben angehäuften Beziehungen, Fähigkeiten sowie Reichtümer. Natürlich dürfen auch seine Erinnerungen nicht fehlen. All diese Werte werden sich im Laufe des Abenteuers verändern.

Wo genau euer Abenteuer spielt, ist eurer Fantasie überlassen. Ein normannischer Krieger, der während der Schlacht von Hastings 1066 zum Vampir wird? Ein*e Forscher*in im Jahre 1920, welche*r Ruinen erkundet hat, welche besser unentdeckt geblieben wären? Jede Epoche und Kultur eignet sich zum Start des Abenteuers. Während die Jahre fortschreiten (und man von Abschnitt zu Abschnitt des Buches weiterliest), vergehen die Jahre. Zunächst nur einige wenige, aber je länger man ein Vampir ist, desto schneller vergeht die Zeit und die Abstände zwischen den einzelnen Episoden können länger werden.

Die Spielmechanik

Es gibt zwei Arten, das Spiel zu spielen: eine schnelle mit dem Abhaken der einzelnen Fragen und dem schnellen Weiterwürfeln. Oder die langsame, in welcher man zu jeder Frage einen Eintrag verfasst und so langsam das Versinken des Charakters in den Wahnsinn des Untodes dokumentieren kann.

Das eigentliche Spielen von Thousand Year Old Vampire ist denkbar einfach. Man beginnt bei Station 1 und beantwortet die erste Frage:

In your blood-hunger you destroy someone close to you. Kill a mortal Character. Create a mortal if none are available. Take the skill Bloodthirsty.

Was mag hier geschehen sein?

Ab hier geht das Spiel mit Würfelwürfen weiter. Wir werfen jeweils einen zehn- und einen sechsseitigen Würfel, ziehen das Ergebnis des Sechsseiters vom Zehnseiter ab und bewegen uns entsprechend viele Abschnitte im Buch weiter. Jeder Abschnitt stellt dabei ein einschneidendes Erlebnis im Unleben unsere Vampirs dar, welches eine wichtige Frage an uns stellt. Dort beantworten wir wieder jeweils die oberste Frage. Sollten wir dadurch eine negative Anzahl erhalten, bewegen wir uns ebenso viele Schritte zurück. Sollten wir uns beim ersten Würfeln nicht vorwärtsbewegen oder auf eine bereits beantwortete Seite noch einmal gelangen, wird die erste noch nicht behandelte Frage beantwortet. Sollten wir auf einer Seite schon alle drei Fragen beantwortet haben, gehen wir automatisch zur ersten neuen Frage auf der nächsten Seite.

Wir haben zu Beginn unseres Unlebens jeweils drei Eigenschaften, Besitztümer und menschliche Kontakte erhalten. Diese können alles sein, was man sich vorstellen kann. Ein Handelsimperium zur Zeit der Hanse ist dabei genauso nur ein Besitztum wie die längst verblichene Daguerreotypie eines geliebten, schon lange toten Menschen. Im Laufe dieser untoten Existenz werden wir Eigenschaften und Besitztümer verlieren, aber auch mitunter neue dazu erhalten (wie zum Beispiel automatisch die Eigenschaft Blutdürstig zu Beginn des Spiels). Wenn wir eine Eigenschaft oder ein Besitztum benutzen müssen, streichen wir es von der Liste. Sollten wir jemals eine Eigenschaft oder ein Besitztum streichen müssen, haben aber keine(s) mehr, ist das Spiel zu Ende. Auch die menschlichen Kontakte werden irgendwann enden, und sei es nur durch bloßes Altern. Jedenfalls gibt es am Ende des Buches eine Handvoll unterschiedlicher Ausgänge für das Unleben unseres Blutsaugers.

Vom Vergessen und der Ewigkeit – Erinnerungen in Thousand Year Old Vampire

Wir haben zu Beginn unseres Spiels ebenfalls bereits drei Erinnerungen aus dem Leben übernommen. Diese stellen die Lebenserfahrung unseres Charakters zu Beginn seiner untoten Existenz dar. Im Laufe unserer weiteren Abenteuer werden wir neue Erinnerungen ansammeln, können allerdings immer nur fünf Erinnerungen (mit jeweils bis zu drei genaueren Details) gleichzeitig besitzen – das Unleben verlangt auch von unserem Geist, sich auf die wichtigen Dinge zu konzentrieren. Sollte man zu viele Erinnerungen ansammeln, kann man diese in ein Tagebuch übertragen und so einem externen Speicher anvertrauen. So weit, so einfach. Kompliziert wird die Sache allerdings, da man auch seiner Tagebücher verlustig gehen kann. Sollte dies geschehen, verändert dies natürlich auch unseren Vampir.

Und hier beginnt der eigentliche Spaß an Thousand Year Old Vampire. Wenn ich nicht einmal mehr meiner eigenen Erinnerung vertrauen kann, was bedeutet dann Unsterblichkeit? Wenn ich meine Erinnerungen und damit meine Persönlichkeit jederzeit verlieren kann, was bedeutet dann meine endlose Existenz? Werde ich dann nicht zu einer neuen, jedenfalls veränderten Person, die sich immer wieder neu definieren muss?

Die Bilder erzählen kleine inspirierende Geschichten.
Die Bilder erzählen kleine inspirierende Geschichten.

Thousand Year Old Vampire wird mit dieser Mechanik zu mehr als einem simplen Solorollenspielbuch wie die ganzen „Go to 400“-Bücher (der Hexenmeister vom Flammenden Berg sei hier als berühmtes Beispiel genannt), die Steve Jackson und Ian Livingstone und ihre Epigonen in den Achtzigern und den folgenden Jahrzehnten geschrieben haben. Das soll keinesfalls die Bemühungen dieser tollen Autoren schmälern, aber es ist offensichtlich, dass Thousand Year Old Vampire hier einen Schritt weiter Richtung Rollenspiel gegangen ist. Es wäre schön, etliche Bücher mehr in diesem Stil zu sehen.

Mittlerweile gibt es mehrere durchgespielte Spielberichte zu Thousand Year Old Vampire, hier ist ein besonders gelungener zum Nachlesen empfohlen.

Umfang

Neben den eigentlichen 80 Textabschnitten, von denen die meisten noch zwei weitere Unterabschnitte aufweisen, enthält Thousand Year Old Vampire noch 135 alternative Abschnitte, die man bei einem zweiten oder weiteren Durchlauf bespielen kann. Diese sind oftmals allerdings wesentlich ausführlicher vom Spiel formuliert und damit einschränkender als die originalen Textabschnitte. Für einen zweiten Spieldurchlauf bieten sie jedenfalls eine Fülle an neuen Ideen und Möglichkeiten.

Des Weiteren sind zwei Interviews mit Tim Hutchings und mehrere Seiten mit willkürlichen Ziffern enthalten, welche man verwenden kann, falls einmal keine Würfel zur Hand sein sollten. Somit kann man Thousand Year Old Vampire auch im Zug, am Strand oder im Bad spielen, ohne Angst haben zu müssen, die Würfel während seiner Reise zu verlieren.

Den Abschluss des Buches bilden noch Vorschläge für das Spielen von Thousand Year Old Vampire als Gruppe. Somit hätte es den Bogen von einem Solorollenspiel zurück zu einem gemeinsamen Rollenspiel geschlagen.

Trotz des stolzen Preises von knapp 70 Euro lohnt es sich, Thousand Year Old Vampire anzusehen. Die Mischung aus Soloabenteuer, Wiederspielbarkeit und Kreativität machen es zu einer spielenswerten Erfahrung. Das Buch ist hochwertig produziert.

Bildmaterial

Das Buch weist eine Fülle an optischem Material auf, welches zwischen grotesk und skurril oszilliert. Etliche Seiten der ersten Hälfte des Buches sind gefärbt, was dem Band einen optischen Alterungseffekt verleiht. Dazu wirken die Bilder teils wie eingeklebt, wie in einem Notizbuch. Dieser Effekt wird noch durch scheinbare Kritzeleien und Klebestreifen verstärkt.

Der zweite Teil des Buches ist etwas nüchterner aufgebaut. Insgesamt wirkt die Optik unterstützend und passt zur gewollten Stimmung, allerdings hätte eine etwas hellere Färbung beim Lesen geholfen. Gerade bei den originalen Textabschnitten ist die Hintergrundfarbe leider etwas düster. Insgesamt wirkt das Buch hier etwas zusammengewürfelt (was aber beabsichtigt ist).

Die harten Fakten:

  • Verlag: Petit Guignol LLC und Tim Hutchings
  • Autor*in(nen): Tim Hutchings
  • Erscheinungsjahr: 2019
  • Sprache: Englisch
  • Format: A5
  • Seitenanzahl: 153
  • ISBN: keine
  • Preis: EUR 69,95
  • Bezugsquelle: Fachhandel, Amazon, idealo

 

Fazit

Thousand Year Old Vampire ist ein fantastisches Beispiel dafür, was gedruckte Textabenteuer heutzutage leisten können. Obwohl es eine eigentlich simple Prämisse hat, können wir viele unterschiedliche Abenteuer(ausgänge) erleben. Die Grenzen setzen wir uns nur durch unsere Vorstellungskraft.

Spieler*innen, die mit Vampiren partout nichts anfangen können, werden mit Thousand Year Old Vampire vermutlich nicht besonders warm werden. Auch kann dem*r ein oder anderen Spieler*innen die Thematiken von Verfall, Verlust der eigenen Persönlichkeit und das Definieren des eigenen Charakters schwer oder (miss)fallen. Spieler*innen, denen die beschriebenen Konzepte und Themen jedoch gefallen, werden ihre helle Freude an diesem seltenen Beispiel der nichtlinearen Erzählkunst haben.

Alles in allem kann man hier eine klare Kaufempfehlung aussprechen. Viel Spaß mit euren Vampiren.

 

  • Ein tolles Beispiel dafür, wie die Linearität eines Textes aufgebrochen werden kann.
  • Die eigene Phantasie schreibt die besten Geschichten.
  • Man kann es alleine spielen.
 

  • Auf den Typus Vampir beschränkt

 

Artikelbilder: © Petit Guignol LLC und Tim Hutchings
Layout und Satz: Verena Bach
Lektorat: Katrin Holst
Dieser Artikel wurde privat finanziert.

2 Kommentare

  1. Servus Delderon,

    ja, du hast recht, der Preis ist eine Hausnummer. Das war auch mit ein Grund, warum der Daumen nicht ganz nach oben zeigt. Ich habe den Preis aber bewusst nicht in den „Nachteile“-Bereich gelegt, weil Preise – auch beim Hobby Pen&Paper – sehr relativ sind und das Werk für so manchen es den Preis wert sein mag, für andere wiederum nicht.

    Soloabenteuer sind toll, aber wie du schon geschrieben hast, sind die meisten doch etwas linear und haben nicht so viel Wiederspielwert (die von TZH besprochene Fabled-Lands/Legenden von Harkuna-Reihe mal ausgenommen).

    Ich persönlich habe dem Buch den Preis vor allem wegen seiner Wiederspielbarkeit nachgesehen. Ich verstehe aber natürlich, wenn er für andere ein Ausschlußkriterium sein mag.

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