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Was haben Elfen eigentlich mit der Romantik zu tun? Wie beeinflussen sich Erzählwelt und Wahrnehmung? Teilzeithelden hat Autor James A. Sullivan interviewt und mit ihm über sein neuestes Buch – Das Erbe der Elfenmagierin –, Rollenspiel, Schreiben, die Bedeutung der Phantastik und natürlich Elfen gesprochen.

Mit dem Roman Das Erbe der Elfenmagierin begeisterte der Autor James A. Sullivan Teilzeithelden-Redakteurin Vanessa .

Vor seiner neuen Reihe – Die Chroniken von Beskadur – veröffentlichte Sullivan mehrere Science-Fiction-Romane und war unter anderem Co-Autor für Die Elfen. Wir haben mit ihm über Elfen, das Schreiben und die Möglichkeiten der phantastischen Literatur gesprochen.

Interview

Teilzeithelden: Hallo James, erst einmal ganz herzlichen Dank, dass du dir die Zeit nimmst, uns bei Teilzeithelden einige Fragen zu beantworten.

James: Hallo! Sehr gerne nehme ich mir die Zeit.

Unser Gesprächspartner: Autor James A. Sullivan
Unser Gesprächspartner: Autor James A. Sullivan

Teilzeithelden: Viele unserer Leser*innen kommen aus dem Rollenspielbereich, weswegen sie sicher auch deine Bezüge zu diesem Hobby interessieren dürften. Du spielst ja auch Rollenspiele, aber welches System besonders und bist du lieber Spielleitung oder Spieler?

James: Ich wünschte, ich würde mehr spielen, aber Corona hat meinen Versuch, nach langer Zeit wieder mal eine Runde aufzubauen im Keim erstickt, und ans Online-Spielen taste ich mich gerade erst langsam heran. Angefangen habe ich Ende der 80er mit Das Schwarze Auge, und es gab Ausflüge zu Shadowrun, Vampire und so obskuren Rollenspielen wie Talislanta. Da wir von Anfang an auch eigene Abenteuer entworfen haben und merkten, dass wir mehr und mehr auf das Erzählspiel und immer weniger auf Regelwerke abzielten, reduzierten wir die Regeln Stück für Stück und spielten irgendwann nur noch in eigenen Spielwelten. Mal waren es Einzelwelten der jeweiligen Spielleiter*in; mal waren es gemeinsame Welten, bei denen wir uns beim Spielleiten abwechselten. Für eine davon dachte ich mir minimalistische Regeln aus, die viel Verantwortung den Spielenden überlässt und mir als Spielleiter Raum für andere Dinge ließ.

Ob ich lieber Spieler bin oder Spielleiter bin, kann ich gar nicht sagen. Ich war öfter Spielleiter, weil ich gerne Erzählwelten baue und vermittle, aber ich habe es auch immer genossen, in den Welten anderer oder in gemeinsame Welten abzutauchen.

Teilzeithelden: Heute baust du als Autor Erzählwelten. Beeinflussen sich Schreiben und Rollenspiel bei dir gegenseitig?

James: Früher, als ich noch viel gespielt habe, war der gegenseitige Einfluss sehr groß. Inzwischen ist es so, dass die Einflüsse nach Jahren einfach auftauchen. Die Welt von Das Erbe der Elfenmagierin geht tatsächlich auf eine Spielwelt von mir zurück, die ich Ende der 90er für eine Rollenspiel-Kampagne aufgebaut habe. Einige Ideen sind auch in Die Elfen eingeflossen. Zum Beispiel, dass es zwei Strömungen in der Elfenkultur gibt, die zwei Seiten der Romantik abbilden: die eine, die alles nach dem Ideal formen möchte; und die andere, die glaubt, dass alles bereits dem Ideal entspricht und man es mit geschärften Sinnen erkennen kann. Das war bei Die Elfen der Kontrast zwischen der Gesellschaft und der Figur Nuramon. In Das Erbe der Elfenmagierin tauchen Figuren und Schauplätze auf, die in jener Kampagne damals eine Rolle spielten. Natürlich hat sich alles im Laufe der Jahre mit mir verändert, und wenn ich jetzt in meine alten Notizen schaue, dann erkenne ich die Erzählwelt kaum wieder.

Teilzeithelden: Aber die jetzige Erzählwelt ist sehr schön. Würdest du mal direkt für ein Rollenspiel schreiben wollen?

James: In den 90ern hätte ich das gewollt. Viele meiner frühen (unveröffentlichten) Texte spielten in Aventurien, und meine erste Absage bekam ich für einen DSA-Roman, den ich mit meiner Frau geschrieben hatte. Über diesen lernten wir immerhin Bernhard Hennen kennen und er wurde eine Art Mentor und brachte mir bei, wie die Buchbranche damals funktionierte. Im Nachhinein bin ich froh, dass unser Roman damals nicht genommen wurde. Es hätte für meinen Geschmack zu viele Kompromisse bedeutet, während wir uns gleichzeitig immer weiter von Das Schwarze Auge wegentwickelten, weil wir merkten, dass wir mit unseren eigenen Erzählwelten glücklicher waren.

Elfen und Elfen

Teilzeithelden: Stichwort Bernhard Hennen, was viele nicht wissen, du bist Co-Autor von Die Elfen. Wie kam es dazu und warum steht dein Name nicht mit auf dem Cover?

James: Bernhard und ich sprachen Ende der 90er viel über das Schreiben und die Phantastik. Wir sind zwar als Autoren sehr unterschiedlich, aber konnten immer gut über Literatur reden. Ich war damals auch einer seiner Erstleser*innen und er sagte, dass er gerne irgendwann mal was mit mir gemeinsam schreiben wolle. Dass er mich dann während der Vorbereitungen meiner Magisterprüfungen anrief und fragte, ob ich mit ihm einen Roman über Elfen schreiben wolle, damit hätte ich nicht gerechnet. Ich war noch ganz vertieft in die Vorbereitungen für die Literatur des Mittelalters und bat ihn, mich eine Stunde später noch einmal anzurufen. Und da ich nicht bereuen wollte, abgesagt zu haben, sagte ich zu und muss in meiner Verwirrung so etwas geäußert haben wie: »Wenn Frau Aventiure zum Abenteuer ruft, dann kann ein wahrer Recke nicht ablehnen.«

Es gab damals bereits ein Exposé, das dem Verlag zu radikal war, und auch ich hatte meine Probleme damit. Die Elfenkultur darin hielt sich Sklaven, und als Schwarzer Deutsch-Amerikaner hatte ich verständlicherweise meine Probleme damit. Wir überlegten kurz, ob wir das alte Exposé umwandeln könnten, merkten aber schnell, dass es besser wäre, etwas ganz Neues anzubieten. In kürzester Zeit sprachen wir (am Telefon) über unsere Vorstellungen und entwickelten den groben Rahmen, dann machten wir jeweils für uns Notizen. Ich schrieb sogar einen frühen, groben Exposé-Entwurf. Und dann nahmen wir uns ein Wochenende und schrieben Seite an Seite an Bernhards Computer ein gemeinsames Exposé, das wir schließlich einreichten. Das alles dauerte nur wenige Wochen. Der Vorteil damals war, dass Bernhard und ich beide Germanistik studiert hatten und ohne Umwege über Literatur reden konnten. Es war sehr schnell klar, was wir wollten. Und der Verlag sagte sofort zu. Wir machten dann allerlei Vorbereitungen und ich begann sogar schon mit dem Schreiben einiger Szenen. Meine Sorge, meine Prüfungen könnten unter der Arbeit an Die Elfen leiden, stellte sich als unbegründet heraus. Ich glaube sogar, dass die Arbeit am Roman mir einen Motivationsschub gab.

Bestseller Die Elfen – teilweise aus Sullivans Feder.
Bestseller Die Elfen – teilweise aus Sullivans Feder. © Heyne

Dass mein Name nicht auf dem Cover steht, war eine Verlagsentscheidung, mit der ich einverstanden war. Bernhard war 2003 schon bekannt; ich aber war ein unbeschriebenes Blatt. Intern haben wir aber immer als gleichberechtigte Autoren gearbeitet und sind auch zu gleichen Teilen an diesem Roman beteiligt. Ich war mir damals trotz allem nicht sicher, wie sichtbar ich sein wollte, und so passte es für mich, dass ich nur auf dem Titelblatt und nicht auf dem Cover genannt werde. Und dabei sind wir dann einfach geblieben. Natürlich ist mir nicht entgangen, dass bei Heyne ein Umdenken stattgefunden hat, sodass bei den Romanen zu Bernhards Phileasson-Saga Robert Corvus als Co-Autor auf dem Cover genannt ist. Ob diese veränderte Sicht sich irgendwann auch auf Die Elfen beziehen wird, weiß ich nicht. Dagegen hätte ich sicherlich nichts.

Teilzeithelden: Wir auch nicht. Deine Autorenkarriere ist dann von der Fantasy mit den Elfen zur Science-Fiction gewechselt. Jetzt mit den Chroniken von Beskadur geht es wieder zurück in die Fantasy und zu Elfen. Wie ist das für dich, betrachtest du diese beiden Genres stark getrennt oder ist das eher ein organischer Übergang? Sind auch einige deiner Erfahrungen im 25. Jahrhundert in die neue Reihe mit eingeflossen?

James: Meist werden bei den beiden Subgenres der Phantastik die Unterschiede betont. Ich schaue aber lieber erst einmal auf die Gemeinsamkeiten. Viele Autor*innen, die mich beeinflusst haben und weiterhin beeinflussen, waren in beiden Subgenres unterwegs: Roger Zelazny, Ursula K. Le Guin, Samuel R. Delany, Joanna Russ und viele andere. Für mich ist es beim Schreiben ein natürlicher Übergang gewesen. Man kann aber an meinen drei Science-Fiction-Romanen verfolgen, wie ich mich nach und nach tiefer ins Genre hineinbewege. Chrysaor ist eine von der griechischen Mythologie geprägte Space Opera. Bei Die Granden von Pandaros geht es um Verbrecher in einer Zukunft, in der die technische Singularität die Notwendigkeit Verbrechen zu begehen – so würde man meinen – eigentlich hätte beseitigen müssen. Und mit Die Stadt der Symbionten habe ich eher einen dystopischen SF-Roman geschrieben, der in einer fernen Zukunft in einer Kuppelstadt in der Antarktis spielt.

Wie aus allen Romanen, nehme ich auch aus den drei Science-Fiction-Romanen etwas mit. Ich kehre mit verschiedenen Erfahrungen zurück. Nehmen wir meinen letzten Roman – Die Stadt der Symbionten. Da war es mir sehr wichtig, die Beziehungen unter den Hauptfiguren ohne Erzähltricks darzustellen. Sie fallen sich nicht ständig in den Rücken, spinnen Intrigen oder halten untereinander Informationen zurück, die ganze Handlungsstränge überflüssig gemacht hätten. Die Figuren reden klar heraus miteinander und es gibt keine künstlichen Konflikte zwischen ihnen. Und unter diesen Bedingungen die Konflikte am Laufen zu halten ist wirklich eine Herausforderung, sorgt aber – wenn es gelingt – dafür, dass die Leser*innen eine besondere Bindung zu den Figuren aufbauen.

Teilzeithelden: Was du in die Chroniken von Beskadur mitgenommen hast, in denen du wiederum auch Elfen aufgreifst – spannend. Was fasziniert dich an Elfen? Sicher nicht die Ohren.

James: Mich interessiert an ihnen vor allem die Frage des langen Lebens. Was würde es mit uns machen, wenn wir alle Zeit der Welt hätten, uns zu entfalten? Würden wir abstumpfen oder würde uns die Welt in immer neuen Facetten erscheinen. Das führt wieder zu diesen beiden Bereichen der Romantik, in der die einen die Dinge immer weiter so formen, wie sie ihrem Ideal entsprechen, während die anderen ihre Sinne immer weiter schärfen und die Dinge anders zu betrachten lernen. Die Spannung zwischen diesen beiden Bereichen, finde ich sehr interessant. Und mit Elfen lassen sich solche Gedankenräume sehr gut erschließen.

Teilzeithelden: Definitiv. Die Elfen in Chroniken von Beskadur erinnern an die in Die Elfen in Bezug auf das Wiedergeborenwerden, bis sie ihre Bestimmung erfüllen. Was fasziniert dich speziell daran?

James: Die Wiedergeburt habe ich damals bei Die Elfen mit der Figur Nuramon eingebracht. Ich finde Reinkarnation bietet eine nützliche Großmetapher für die verschiedenen Lebensabschnitte, die wir alle erleben, oder für die verschiedenen Rollen, die wir im Laufe unseres Lebens erfüllen oder nicht so sehr erfüllen. Wir sind Individuen, aber wenn wir zurückschauen, stellen wir fest, dass wir dennoch mal ganz andere Personen zu sein schienen. Der Unterschied zwischen der Wiedergeburt in Die Elfen und in Das Erbe der Elfenmagierin ist, dass es bei Die Elfen vor allem um Selbsterfüllung geht. Nuramon findet die Erinnerung an seine früheren Leben und hofft darauf, damit sein Lebensziel zu finden. Bei Das Erbe der Elfenmagierin geht es darum, dass Ardoas seine Erinnerung findet, um der Gemeinschaft altes Wissen wiederzubringen. Er soll also dafür sorgen, dass er, nachdem er sich selbst gefunden hat, der Gemeinschaft etwas zurückgibt.

Teilzeithelden: Doch erst muss er sich finden. Ardoas ist gerade erst erwachsen, wenn Das Erbe der Elfenmagierin beginnt und zweifelt an sich. Das dürfte vielen Lesenden an diesem Punkt ebenso gehen. War das für dich ein wichtiger Aspekt bei der Gestaltung von Ardoas?

James: Ja, wobei das sich nicht nur auf das Erwachsensein beziehen muss. Wir alle kennen aus verschiedenen Lebensphasen Situationen, in denen die Gemeinschaft Erwartungen an uns stellt. Und daraus erwachsen Zweifel und dann zum Beispiel Fragen wie: Bin ich wirklich das, was die Leute in mir sehen? Überhaupt spielt eine Rolle, dass wir von Leuten unterschiedlich wahrgenommen und deswegen beinahe als unterschiedliche Personen betrachtet werden. Und mit dieser Wahrnehmung sind auch Erwartungen und vielleicht sogar Zwänge verbunden.

Teilzeithelden: Oh ja. Von welchem Charakter hättest du dir einen Rat am Tag deines Mündigwerdens gewünscht? Welcher Rat wäre das gewesen? Und welchen Rat würdest du jungen Erwachsenen geben wollen?

James: Von Zordura. Sie ist Ardoas’ Tante und eine alte Elfe, die schon viel erlebt hat. Sie hätte mir wahrscheinlich geraten, mal auf Elfenweise und mal auf Menschenweise vorzugehen. Auf Elfenweise vorzugehen heißt in meiner Erzählwelt, dass man die Dinge in der Gewissheit auf sich zukommen lässt, dass sich alles fügen wird. Auf Menschenweise zu handeln heißt, sich schnell zu bewegen und die Chancen zu nutzen, weil sie sich vielleicht nie wieder bieten. Zwischen diesen beiden Bereichen einen Pfad zu finden, das wäre Zorduras Rat. Mein Rat an junge Erwachsene wäre: Fragt euch bei Chancen, die sich euch bieten, oder Wagnisse, die ihr eingehen könntet: „Werde ich mich mein ganzes Leben lang fragen, was gewesen wäre, hätte ich mich dieser Chance gestellt oder wäre ich dieses Wagnis eingegangen?“ Ist die Antwort darauf ja, dann traut euch, die Chance zu ergreifen und das Wagnis einzugehen.

Teilzeithelden: Das kann ich nur unterschreiben. Apropos Chancen, Wagnisse und Abenteuer, du hast Anglistik, Germanistik und Sprachwissenschaften studiert und dich dabei unter anderem mit der Artusepik beschäftigt. Ist von dir irgendwann mal mit einem Artusroman zu rechnen?

Mitunter schreibt James A. Sullivan auch dystopisch und elfenfrei. © Piper
Mitunter schreibt James A. Sullivan auch dystopisch und elfenfrei. © Piper

James: Einen Artusroman werde ich wahrscheinlich irgendwann einmal schreiben. Die Frage ist, ob ich so etwas bei einem Verlag unterbringen kann. Denn es wäre ein großes Projekt, wahrscheinlich über mehrere Bände. Und Verlage lassen sich auf so etwas nicht leichtfertig ein. Ich vermute aber, wenn ich mir all meine Notizen vor Augen führe, dass ich von den deutschsprachigen Fantasy-Autor*innen wahrscheinlich im Augenblick die Person bin, die am gründlichsten auf ein solches Projekt vorbereitet ist. Mal schauen. 

Erzählwelten und Gesellschaft

Teilzeithelden: Ich würde ihn sofort lesen wollen. Beeinflussen dich gesellschaftliche Themen beim Schreiben?

James: Wie mich alles beim Schreiben beeinflusst, beeinflussen mich auch gesellschaftliche Themen. In Das Erbe der Elfenmagierin findet man vieles, über das in der Gesellschaft diskutiert wird: Diversität, Geschlecht, Sexualität und vieles mehr. Ich gehöre nicht zu denen, die sich der Illusion hingeben, es könne etwas Unpolitisches geben. Leute, die sagen, sie seien unpolitisch, meinen wahrscheinlich, dass sie keine expliziten Standpunkte vertreten. Das Verborgene und der Status quo sind aber politische Standpunkte. Insofern sind wir alle von gesellschaftlichen Themen beeinflusst.

Teilzeithelden: Eine Position, die du ja auch öffentlich vertrittst, du machst dich ja mit anderen Autor*innen für Progressive Phantastik stark. Magst du unserem Publikum kurz ausführen, was sich dahinter verbirgt?

James: Die Progressive Phantastik ist erst einmal genau das, wonach es klingt: Phantastik, die progressiv ist. Sie ist sich bewusst, dass alles politisch ist und hinterfragt Entscheidungen, die wir direkt aber auch indirekt treffen. Wir sehen den Wert von Traditionen, hinterfragen sie aber und prüfen, ob sie uns noch nützen oder aber schädlich oder verletzend sind. Im Sommer 2020 habe ich mit Judith Vogt einen Artikel geschrieben („Lasst uns progressive Phantastik schreiben“), in dem wir Autor*innen auf dieser Basis dazu ermuntern, über das eigene Tun zu reflektieren. Gerade in der High Fantasy haben wir immer wieder mit sehr konservativen Vorstellungen zu kämpfen. Zwar scheint es oft, als herrschte wegen der verschiedenen Wesen Vielfalt, aber zu oft werden die einzelnen Kulturen auf wenige Eigenschaften reduziert. Die einen Wesen sind gierig, die anderen weise, die wieder anderen kriegerisch. Der Schritt zu rassistischen Lesarten ist da nicht weit.

In der Progressiven Phantastik hinterfragen wir solche Strukturen und streben danach, überall Vielfalt darzustellen. Natürlich ist das fortwährender Prozess, und es gibt keine Instanz, die uns vorschreiben kann, ob wir das richtig machen. Aber in fortlaufender Selbstreflexion können wir vieles besser machen als bisher. Und das heißt nicht, dass wir unsere Möglichkeiten einschränken, sondern – im Gegenteil – dass wir sie bewusst erweitern.

Teilzeithelden: Was ja große Chancen sind. Welche Chancen siehst du in der Phantastik für die Veränderung der Welt?

James: Die gleichen Chancen wie in jeder anderen Art von Literatur. Literatur ist meiner Ansicht nach grundsätzlich mit der Gegenwart verbunden. Und ich meine nicht die Gegenwart, in der die Texte geschrieben wurden, sondern die Gegenwart, in der sie gelesen werden. Und da wir alle unterschiedliche Blicke auf die Wirklichkeit haben, lesen wir auch Texte unterschiedlich. In diesem Rahmen wirken phantastische Texte ein bisschen anders als nicht-phantastische. Welchen Einfluss sie auf die Wirklichkeit (oder besser auf die verschiedenen Lebenswirklichkeiten) haben, ist nicht ganz so leicht zu sagen. Bei einem realistischen Roman, der sich eines gesellschaftlichen Themas annimmt, ist in der Regel leicht erkennbar, worum es geht; bei phantastischen Texten muss meistens erst eine Art Übersetzung stattfinden. Wir lesen Dinge aus den Texten heraus, und oft machen wir uns gar nicht bewusst, was das mit unserem Leben zu tun hat, sondern spüren, dass es uns berührt. Der Vorteil, den wir gegenüber der Nicht-Phantastik haben, ist, dass wir über Dinge in anderen Räumen, in anderen Bildern reden können. Wir können darüber reden, wie eine Gesellschaft in der Zukunft aussieht, in der wir die wichtigsten Probleme gelöst (oder eben nicht gelöst) haben. Und wir können in einer völlig anderen Welt eine Gesellschaft zeigen, in der es zum Beispiel keinen Rassismus gibt, wie wir ihn kennen. Da sich all das aber immer auf die (jeweilige) Gegenwart bezieht, dürfen wir natürlich nicht vergessen, dass wir heute mit dem Klimawandel, dem Rassismus und anderen Problemen konfrontiert sind, und die Texte auf diesem Hintergrund gelesen und interpretiert werden. Es ist also immer ein Wechselspiel zwischen Verhältnissen in der Erzählwelt und denen in der Wirklichkeit der Leser*innen.

Teilzeithelden: Weshalb Bücher so unterschiedlich auf Menschen wirken können. Gibt es ein Buch der Phantastik, dass Du allen ans Herz legen möchtest? Außer deinen eigenen.

James: Es ist schwierig, ein einziges Buch zu empfehlen, also empfehle ich zwei. Denn dieses Jahr war ein sehr ergiebiges Jahr in der deutschsprachigen Phantastik – insbesondere in der Progressiven Phantastik. Ich empfehle Die Götter müssen sterben von Nora Bendzko. Das ist Dark Fantasy, die von Amazonen der griechischen Mythologie handelt und damit Frauen of Color ins Zentrum rückt. Meine zweite Empfehlung ist Anarchie Déco von Judith und Christian Vogt. Das ist historische Urban Fantasy und spielt in den 20er Jahren in Berlin – nur ändert sich alles, als dort die Magie entdeckt wird. Wenn man diese beiden Bücher und mein Buch vergleicht, scheinen sich die Romane auf den ersten Blick sehr voneinander zu unterscheiden, doch in ihnen ist auch all das lebendig, worüber wir in unserer progressiven Ecke in den letzten Jahren gesprochen haben.

Sullivans neuestes Buch lädt uns mit auf die Reise nach Beskadur ein. © Piper
Sullivans neuestes Buch lädt uns mit auf die Reise nach Beskadur ein. © Piper

Teilzeithelden: Die Götter müssen sterben hat uns auch begeistert – wir haben es rezensiert und ich kann mich der Empfehlung nur anschließen. Gibt es etwas, dass Du uns allen für die Reise nach Beskadur mitgeben möchtest?

James: Die Reise nach Beskadur ist ein Wechselspiel der Wahrnehmung. Mal bewegen wir uns auf Elfenweise, mal auf Menschenweise. Der Roman spiegelt das in seiner Erzählform wider. Und so können Leser*innen das Geschehen verfolgen, wie Ardoas es als Elf wahrnimmt, wenn er sich in der Fremde bewegt. Was euch dort erwartet? Dazu habe ich einige Tags zusammengestellt:

Elfen – Reise – Orakel als Personen – Progressive Phantastik – Polyamorie – Enemies to Lovers – Oh nein, es gibt nur ein Bett! – Enemies to Friends – Reinkarnation – Found Family – Wahlverwandtschaft – Hurt/Comfort – Multiple Rivalitäten – Die Familie hat Erwartungen – Aber wir gehen unseren eigenen Weg –Bibliothekswesen – Flugboote – Diversity als Default – Unsere Unterschiedlichkeit ist unsere Stärke – Wholesome Epic Fantasy

Mit diesem kleinen Wegweiser solltet ihr für eine Reise nach Beskadur gut vorbereitet sein.

Teilzeithelden: Die Tags sind ein großartiger Wegweiser und haben auch schon meine Kollegin Vanessa auf die Reise gelockt. Ich danke dir im Namen von Teilzeithelden ganz herzlich für dieses Interview und hoffe, dass wir uns bald weitere großartige Bücher von dir zu lesen bekommen – mit und ohne Elfen oder Artus.

Artikelbilder: © privat; Heyne, Piper
Layout und Satz: Roger Lewin
Lektorat: Nina Horbelt

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