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Die Bunker & Badasses sind zurück! Nach vorherigen Kurzausflügen mit DLC-Umfang wird sich mit Tiny Tina’s Wonderlands erstmals in Vollzeitlänge durch die wirre Welt von Borderlands Tiny Tina geballert. Motivieren soll hier wieder die Spirale aus schnellem Shooter und glänzender Beute. Kann der Ableger überzeugen?

Ein Zustand der Tischrollenspieler*innen bekannt vorkommen dürfte: Ist die Spielleitung erst einmal gefunden, hat man schnell willige Spieler zu Hand. Das ist in der Welt der Borderlands nicht anders, denn wenn Sprengstoffenthusiastin Tiny Tina nicht gerade allerlei Böllerei für die Recken der apokalyptischen Wüste entwickelt, vertreibt sie sich die Freizeit mit dem Trend des Tischrollenspiels. Neben etablierten Gesichtern hat es euch als Neuling der Runde an den Spieltisch verschlagen, ehe ihr direkt ins chaotische Geschehen geworfen werdet. Schnell wird damit klar, dass Spielleiterin Tina dank Glyzerin und Glukose im Blut ein hohes Tempo an ihrem Tisch fährt und nicht vor göttlichen Eingriffen, egal ob zu oder gegen eure Gunsten, zurückschreckt.

Soweit zumindest die Meta-Ebene auf der Tiny Tina’s Wonderlands den neuesten Ableger der Borderlands-Reihe ansiedelt. Das Setting der Dungeons & Dragons Persiflage, Bunker & Badasses, hatte 2013 bereits im DLC Tiny Tina’s Assault on Dragon Keep seinen Erstauftritt und konnte sowohl bei Kritikern als auch Spielern viel Lob einheimsen. Ein formidabler Ausgangspunkt also, um in die Gefilde des alleinstehenden Vollpreis-Spielerlebnisses aufzubrechen und die frischen Ansätze des Settings als eigene Stärken auszuspielen – ob die Entwickler*innen bei Gearbox es hier geschafft haben, genug Wumms in den neuen Ausflug zu packen?

Neue Klassen mit Klasse

Auch eine explosionsliebende, überdrehte Spielleiterin ändert jedoch nichts daran, dass auch zu Beginn dieser Rollenspielrunde ihr als Spieler*in Charakter und Klasse wählen dürft. Bei der Charaktererstellung darf sich ausgetobt werden: Zig Körperformen, Frisuren, Bärte und Tattoos, das alles auch noch individuell einfärbbar, stehen zur Wahl. Lobend sei hier erwähnt, dass Tiny Tina’s Wonderlands sowohl Stimme als auch äußerliche Merkmale komplett von einer Geschlechterwahl entkoppelt, zusätzlich bietet die Erstellung eine erweiterte Pronomen-Auswahl an.

Mit dem Ausflug in die postapokalyptische Mittelalter-Fantasy kommen natürlich auch nicht mehr die bekannten Klassen um Siren oder Gunner auf den Spieltisch. Stattdessen winken der Brr-serker für den Nahkampf oder der nekromantische Grabspross, welcher eigene Lebensenergie dazu benutzt, Fähigkeiten zu verstärken. Mit dem Klauenbringer führt man eine hammerschleudernde Mischung aus Thor und Drachenreiter ins Feld, während der Sporenhüter als fernkämpfender Waldhüter einen giftspuckenden Pilzgefährten an seine Seite ruft. Die sechs unterschiedlichen Klassen locken wieder mit unterschiedlichen Gewichtungen im Kampf, vom zähen Nahkämpfer bis zur zerbrechlichen Glaskanone ist wieder alles möglich. Unterschiedliche Skilltrees ermöglichen die weitere Gewichtung zum präferierten Spielstil, dazu kommt die Wahl aus zwei unterschiedlichen Spezialfähigkeiten, die besonders mächtige Boni oder Angriffe darstellen. Weiter steht so etwa zur Hälfte des Spiels eine ergänzende Wahl der Zweitklasse an, womit sich der Held weiter individualisieren lässt.

Verschiedenste Wummen helfen euch dabei, in diesem Falle „bösen blauen Zwergen“ Herr zu werden.

Obwohl sich die Klassen in schon bekannte Borderlands-Muster einfügen, stellen sie doch ein frühes Highlight im Spielerlebnis. Die frische Präsentation macht Lust aufs Ausprobieren, simple Umsetzungen der Magier- und Krieger*innen hätten nahe gelegen – hier aber einen kleinen, fiesen Giftpilz auf die Gegner hetzen zu können oder als rasender Barbar Gegner im Nahkampf zu schockfrosten, macht dagegen Lust auf gleich mehrere Durchläufe.

Wummen statt Würfel – und doch alles beim Alten

Egal wie groß der Spielleiterschirm Tiny Tinas auch ausfallen mag, kann er dennoch nicht verstecken, dass sich eines im Kern des neuesten Borderlands-Ablegers natürlich nicht geändert hat: Trotz RPG-Setting wird wieder geballert, was der Abzugsfinger hergibt. Trotz der eingezogenen Meta-Ebene oder den nun fantasievoll angehauchten Klassen führt der Weg zum Gegenüber weiterhin durch den Pistolenlauf und alle Veteranen alter Schule werden sich sofort heimisch fühlen. Im Fokus steht erneut schnelles Shooter-Gameplay, größeren Gegnergruppen muss mit Zaubern (welche die Granaten aus den Vorgängern ersetzen) beigekommen und die eigene Schildleiste im Auge behalten werden und für den in dicker Stahlrüstung gekleideten Ork greift man bestenfalls zur Pistole mit Korrosionsschaden, um das Problem abzuätzen.

Erstaunlich viel ist dabei beim Alten geblieben, Tiny Tina’s Wonderlands wagt hier wenig Neues bei Gegnertypen oder Abwechslung im Gameplay. Mit der immer noch famos funktionierenden Loot-Spirale der vorherigen Borderlands-Spiele kann der Titel allerdings auch auf ein starkes Fundament bauen. Denn die schnellen Gefechte in den begrenzten Arealen, gefolgt vom Beute sammeln mit leuchtenden Augen, können wieder in ihren Bann ziehen. Dennoch hätte Gearbox für diesen Ableger etwas mehr wagen können, mit dem Tischrollenspiel-Hintergrund lagen die Möglichkeiten hier förmlich vor dem Schlosstor. Ein W20, der beim Looten je nach gewürfelter Augenzahl entsprechend gute oder armselige Beute auswirft, ist hier stellvertretend dafür, wie wenig aus der Idee insgesamt gezogen wird.

Die neue Oberweltkarte winkt mit netten Nebenpfaden – und eurem Char als potthässlicher Spielfigur.

Eine Neuerung ist die neue Oberweltkarte, welche diesmal die verschiedenen Questgebiete miteinander verbindet. Statt mit waffenstrotzenden Wüstenbuggys durch die Steppe zum nächsten Auftrag zu brettern, marschiert ihr nun in gemütlicher Brettspielmanier über den Tisch, löst kleine Rätsel, um Abkürzungen und neue Spielareale zu entdecken, oder manövriert um einen gigantischen Käseflip herum, der das Spielfeld verschmutzt (Brettspieler dürften das Problem kennen und erschaudern). Natürlich nutzt das Spiel auch hier die Pausen und Wege wieder für zahlreiche Dialoge, so richtig passend fühlt sich diese Oberweltkarte eines For the Kings aber nicht an für die Reihe. Dafür ist das Ganze zu gemächlich und bietet für das langsame Tempo nicht genug Spannendes zum Entdecken im Ausgleich. Hohes Gras, als nette Anspielung auf die Welterfolge der Reihe rund um die kleinen Taschenmonster, will hier mit zufallsgenerierten Kampfarenen für schnelle Action zwischendurch locken, macht stattdessen aber nur das Knirschen zwischen den unterschiedlichen Ebenen noch deutlicher.

Ballern mit viel Gequatsche auf den Ohren

So schießt ihr euch durch die zahlreichen Haupt- und Nebenquests, diese sind dabei wie gewohnt von Kommentaren und Funksprüchen unterlegt – Ruhe in die schrille Welt der Borderlands tritt auch bei Tiny Tina’s Wonderlands nicht ein. Für den Plot der Haupthandlung macht sich das Spiel die Meta-Ebene aus Spielcharakteren, die zu einem Tischrollenspiel zusammen sitzen, zu Nutze, ganz rund funktioniert das aber nicht. Die Verschachtelung gekoppelt mit dem letztendlichen Shooter-Gameplay, ist bei genauem Nachdenken mehr verwirrend als clever. Für einen Titel, der ein großes Augenzwinkern sein will, ist dies aber keine zu tragische Ladehemmung. Zur Mitte der Handlung gelingt dem Spiel sogar ein genialer Kniff, der Spieler*innen breit grinsen lassen dürfte und hier nicht gespoilert werden soll (es sei nur das Stichwort „Magic Missile“ gesagt). Schade, dass dieser die große Ausnahme bleibt.

Die Nebenquests halten es da direkter und üben sich zu größten Teilen in Parodien bekannter Fantasy-Klischees oder Persiflagen anderer Geschichten. Wie in den Vorgängern mag die Trefferquote der Gags mit den eigenen Vorlieben steigen und sinken, die Mühe der Entwickler*innen, nicht immer den erstbesten Gag zu nehmen, ist aber erkennbar. Die Länge der einzelnen Aufträge bewegt sich dabei fast immer im perfekten Umfeld von etwa 20 Minuten und kann so auch beim Wiedereinstieg nach längerer Pause mit einem nett-bescheuert klingendem Nebenauftrag oder der Aussicht auf eine fette Belohnung wieder zurück ins Spiel locken. Unterm Strich macht die Mischung hier wieder eine gute Figur, irgendwas zur Motivation findet sich immer, ob die nächste lilane Waffe oder die Vorfreude auf einen verbalen Schlagabtausch.

Richtig gesehen und gehört – dieser Kobold trägt Tutu und reimt romantische Gedichte.

Gewohnt grandioser Ohrenschmaus

Vertont ist das Ganze dann gerade in der englischen Sprachausgabe wieder mit fantastischen Sprecher*innen. Andy Samberg, bekannt aus Brooklyn Nine-Nine, gibt den blasierten Neuzugang Valentine und kabbelt sich gekonnt mit Tischgenossin Frette (gesprochen von Wanda Sykes), Jim Foronda gibt wieder den liebenswert-nervigen Roboter Claptrap und Ashly Burch als Tiny Tina ist sowieso wieder über jeden Zweifel erhaben. Wie in den Vorgängern holt sie mit der Figur alle Sympathien auf ihre Seite, diesmal glänzt sie besonders dann, wenn sie Tinas spontane Einfälle als Spielleiterin präsentiert und von ihrem eigenen Einfallsreichtum eingeholt wird.

Der Dragon Lord bedroht die Beschützerin der Borderlands Lady … Arschgaul.

Als Bösewicht ist diesmal der Dragon Lord mit von der Rollenspiel-Partie, der in stacheliger Rüstung und düsterem Hoodie genauso klischeehaft präsentiert wird, wie der Name vermuten lässt. Sprecher Will Arnett ist hier eine Glanzbesetzung, sein dauerhaft-sarkastischer Unterton, welcher ihn schon in Arrested Development und Bojack Horseman punkten ließ, ist für einen ironischen Bösewicht dieses Kalibers genau richtig. Dass auch er trotz der Punktbesetzung Daemon Clarkes Handsome Jack als bestem Bösewicht der Reihe nicht das Wasser reichen kann, hat wie auch bei Borderlands 3 mehr mit Story und Skript zu tun als mit der Sprecherleistung. Auch die deutsche Vertonung macht eine insgesamt sehr gute Figur und gibt sich beste Mühe, die zahlreichen Gags entsprechend zu übersetzen. Wie so oft gilt aber, dass im direkten Vergleich die originale Sprachausgabe natürlich deutlich mehr punkten kann und der O-Ton, eventuell ergänzend mit Untertiteln, wird wärmstens empfohlen.

Die harten Fakten:

  • Entwicklerstudio: Gearbox Software
  • Publisher: 2K
  • Plattform: PC, PlayStation 4, PlayStation 5, Xbox One, Xbox Series X/S
  • Sprache: Deutsch, Englisch, Französisch, Spanisch, Italienisch
  • Mindestanforderungen:
    • Setzt 64-Bit-Prozessor und -Betriebssystem voraus
    • Betriebssystem: Windows 10
    • Prozessor: AMD FX-8350 (Intel i5-3570)
    • Arbeitsspeicher: 6 GB RAM
    • Grafik: AMD Radeon RX470 (NVIDIA GeForce GTX 960 4GB)
    • Netzwerk: Breitband-Internetverbindung
    • Speicherplatz: 75 GB verfügbarer Speicherplatz
  • Genre: Shooter
  • Releasedatum: 25.02.2022
  • Spielstunden: 25 Stunden
  • Spieler*innen-Anzahl: 1 – 4
  • Altersfreigabe: FSK 16
  • Preis: 59,99 EUR
  • Bezugsquelle: Fachhandel, Amazon, MMOGA, Epic Games, Steam

 

Fazit

Trotz des sympathischen Settings mit passender Optik und frischen Charakterklassen kann und will Tiny Tina’s Wonderlands nicht verstecken, dass hier gewohnt Gutes für Fans der Borderlands-Reihe wartet. Kämpfe machen durch abwechslungsreiche Ausrüstung und skalierbare Herausforderungen wieder Spaß, die Loot-Spirale greift und die Geschichte wird wie immer mit (viel zu) vielen Worten, aber sympathischen Sprecher*innen erzählt. “Mehr vom Gleichen, Fans sollten glücklich sein” ist 100% die Devise.

Und dennoch können Spieler*innen der ersten Stunde den neuesten Ableger der Borderlands auch als vertane Chance zur Evolution sehen. Denn wo alles beim Alten bleibt, gibt es wenig Neues und keine Überraschungen. In dem irrwitzigen Spannungsfeld aus bekloppten Ballereien, Meta-Erzählperspektive und Tischrollenspielklischees läge so viel Potenzial mitten auf dem Spieltisch. Statt der Neuerungen greift Tiny Tina’s Wonderlands aber lieber nur nach den Käseflips.

 

  • Bewährte Belohnungsspirale aus Shoot & Loot
  • Grandiose Sprecher
  • Breite Charakter- und Klassenauswahl
 

  • Funktionale Handlung
  • Kaum Neuerungen für Serien-Veteranen
  • Angeschnittene Ideen des Settings werden nicht mutig bis zum Ende verfolgt

 

Artikelbilder: © Gearbox Software
Layout und Satz: Melanie Maria Mazur
Lektorat: Katrin Holst
Dieses Produkt wurde kostenlos zur Verfügung gestellt.

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