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Als das Tischrollenspiel noch in den Kinderschuhen steckte, waren Kaufabenteuer anders aufgebaut als heutige Abenteuer. Alle heutigen Abenteuer? Nein, ein Teil der Szene leistet beständig Widerstand und holt die Abenteuer von früher zurück in die Gegenwart. Wir haben mit Into the Borderlands gleich zwei Klassiker im modernen Gewand ausgiebig getestet.

1979 war Dungeons & Dragons und damit das Hobby Tischrollenspiel als solches offiziell fünf Jahre alt. Die ersten Auflagen des Spiels waren ausverkauft, das Verschwinden von Dallas Egbert III sollte in den folgenden Jahren eine mediale Hexenjagd über das noch junge Hobby hereinbrechen lassen, die die Faszination an diesem ungewöhnlichen Zeitvertreib aber eher befeuern würde.

In dieser angespannten Lage erscheinen zwei Abenteuermodule, die die Zeit überdauern werden. 1979 schreibt Mike Carr In Search of the Unknown (deutsch: „Vorstoß ins Ungewisse“, geplant, aber nie erschienen); ein Abenteuer, das die Spielercharaktere den Rückzugsort zweier legendärer Helden erforschen lässt. Abgesehen von einigen Gerüchten, die die Charaktere vorab aufschnappen, besteht das Abenteuer, typisch für die Ära, größtenteils aus der Beschreibung eines weitläufigen Dungeons, der von der Spielleitung noch mit Monstern und Schätzen ausgestattet werden muss.

Ein Jahr später wird The Keep on the Borderlands (deutsch: Die Festung im Grenzland, für mehr Informationen sei der Podcast zum Abenteuer von System Matters empfohlen) aus der Feder von Gary Gygax veröffentlicht. Auch dieses Abenteuer kreist um unterirdische Höhlen und Verliese, liefert aber auch eine Heimatbasis und die umliegende Wildnis, die erkundet werden kann. Vorgegebenen Plot sucht man in beiden Modulen vergebens.

Artwork aus dem Band
Artwork aus dem Band

Dafür enthalten die Abenteuer reichliche Hinweise darauf, wie sie gespielt werden sollen. Zahlreiche Tipps und Handreichungen für Spieler und Spielleiter ergänzen die eigentlichen Abenteuer. Häufig betreffen diese Hilfestellungen weniger das Abenteuer selbst, sondern das Hobby Rollenspiel im Allgemeinen.

Sowohl Into the Unknown als auch The Keep on the Borderlands werden von der Spielerschaft begeistert angenommen, beide Titel erfahren weitere, zum Teil veränderte Auflagen. Die Liebe zu den Modulen geht so weit, dass 2018 eine modernisierte Fassung erscheint. Goodman Games, bekannt für OSR-Abenteuer und das Rollenspiel Dungeon Crawl Classics, kann dank einer Übereinkunft mit Wizards of the Coast, dem aktuellen Rechteinhaber von Dungeons & Dragons, ein Buch verlegen, in dem beide Abenteuer für die fünfte Edition des Systems konvertiert werden.

Wir haben dieses Buch unter die Lupe genommen und haben zusätzlich eine Gruppe Abenteurer ins namensgebende Grenzland geschickt. Finden wir heraus, ob Abenteuer von damals auch heute noch ihren Wert beweisen können.

Inhalt

Bevor man als SpielleiterIn überhaupt das eigentliche, konvertierte Abenteuer zu Gesicht bekommt, hat man 181 Seiten entweder überblättert oder gelesen. Welche Inhalte verbergen sich in diesen Seiten? Die Antwort darauf bietet schon das Inhaltsverzeichnis.

Artwork aus dem Band
Artwork aus dem Band

Nach einem Einleitungskapitel, das mit fünf Essays verschiedener Autoren (darunter Luke Gygax, Sohn eines der legendären Erfinder von Dungeons & Dragons) und einem Interview mit Mike Carr aufwartet, sind beide Abenteuer in ihrer Originalversion abgedruckt. Dabei sind je zwei Versionen enthalten, die die originale Darstellung zweier Auflagen des jeweiligen Abenteuers abbilden.

Jede Menge Material also, das zum gewaltigen Umfang von 384 Seiten beiträgt, aber nicht benötigt wird, um das eigentliche Abenteuer zu leiten. Hintergrundinformationen und Zeitgeschichtliches zum Hobby und zu den speziellen Produkten – Inhalte, die sicherlich nicht alle Leser begeistern können. Dieser Teil des Buches ist definitiv nur für Liebhaber geeignet, die dann aber auch Einiges geboten bekommen.

Die ungefähr 200 Seiten, die verbleiben, enthalten das Abenteuer selbst. Das Abenteuer? War nicht von zwei klassischen Abenteuern die Rede? Ja, es werden beide Abenteuer präsentiert, aber die Autoren haben sich für einen interessanten Kniff entschieden, der die Schauplätze miteinander kombiniert und so das titelgebende Abenteuer Into the Borderlands generiert.

Da In Search of the Unknown sich allein in der Beschreibung des Dungeons Quasqueton erschöpft, wird die Option mitgeliefert, das Gewölbe in der Wildnis von The Keep on the Borderlands anzusiedeln. Das Ergebnis sind zwei Abenteuer, die separat gespielt werden können oder einfach zu einem gewaltigen Schauplatz kombiniert werden können. Letztere Methode wird von den Autoren offensichtlich favorisiert.

Das Ergebnis ist dann eine Sandbox mit den folgenden Bestandteilen: Eine Heimatbasis in Form der Festung im Grenzland mit 27 Gebäuden und ihren Bewohnern, die umgebende Wildnis mit zwölf festen Begegnungen und diversen zufälligen Ereignissen und zwei große Gewölbe mit 73 bzw. 86 Räumen. Genug Material ist also durchaus enthalten.

Alte Hasen, die eines oder beide Abenteuer bereits von früher kennen, können sich über zusätzliche Inhalte freuen, die nur in der modernisierten Fassung enthalten sind. Die Wildnis rund um die Festung ist um einige feste Begegnungen ergänzt worden und beide Dungeons weisen weitere Räume und Bewohner auf. Dabei haben die Macher sehr darauf geachtet, dem Stil der Originale treu zu bleiben.

Während der Stil der Abenteuer aus den späten siebziger und frühen achtziger Jahren beibehalten wurde, sind sämtliche Regeln an die fünfte und aktuellste Version von Dungeons & Dragons angepasst worden. Wo nötig, wurden passende Werte für Monster, Zauber und magische Gegenstände neu kreiert, was zu umfangreichen Appendices von insgesamt 35 Seiten führt. Da die enthaltenen Elemente in den seltensten Fällen nur in diesem speziellen Abenteuer nutzbar sind, bieten sie ein praktisches Arsenal für eigene niedrigstufige Abenteuer und bieten einen zusätzlichen Mehrwert.

Artwork aus dem Band
Artwork aus dem Band

Trotz dieser Fülle an Inhalten bleibt die Frage, ob ein so altmodisches Abenteuer, das praktisch keinerlei Plot enthält, die Rollenspieler von heute an den Spieltisch lockt. Immerhin gibt es keinen roten Faden, keine Aktstruktur und kein dramatisches Finale, sondern nur die Schauplätze und ihre Bewohner. Wie also spielt sich das Abenteuer?

Wir haben Into the Borderlands im Rahmen eines gemeinsamen Rollenspiel-Urlaubs mit sechs SpielerInnen und einem Spielleiter über vier Tage hinweg intensiv getestet. Betrachtet man den gesamten Umfang des Produkts, so konnten wir nur einen flüchtigen Blick auf das Grenzland werfen, in dem die einsame Festung steht. Zu viele Richtungen können eingeschlagen werden, zu viele Hinweise und Gerüchte locken die jungen Abenteurer.

Trotzdem haben wir einen guten Eindruck von der Qualität des Abenteuers gewonnen. Die Gruppe ist auf Echsenmenschen, Wasserspinnen, Gnolle, Kobolde, Goblins, Oger und Hobgoblins getroffen und konnte so manches Mal nur knapp mit dem Leben davonkommen. Die Charaktere haben Freunde, Geschäftspartner und auch Feinde in der Festung kennengelernt und konnten bereits einige Schätze erringen.

Artwork aus dem Band
Artwork aus dem Band

Nach vier Tagen voller Gefahren und Herausforderungen, in deren Verlauf die Charaktere sich von Level 1 auf Level 3 arbeiteten, haben wir uns keinen Moment gelangweilt. Wir haben gelacht, manchmal gelitten und oft gefiebert. Einen vorgefertigten Plot haben wir keinen Moment vermisst, unsere Geschichte ist von ganz allein entstanden. Ich danke allen Teilnehmern an diesem Ausflug ins Grenzland ausdrücklich für ihr Mitwirken an einem besonderen Erlebnis.

Into the Borderlands ist mehr als ein einzelnes Abenteuer. Die Inhalte reichen, um eine kleine Kampagne zu leiten, die die Charaktere mit kleinen Anpassungen vermutlich sogar über das von den Autoren angedachte fünfte Level bringen kann. Eine Gruppe, die Spaß am Erkunden und Erforschen des Grenzlandes findet, kann je nach Häufigkeit der Spielrunden sicherlich mehrere Monate mit dem Buch verbringen.

Für alle RollenspielerInnen, die Dungeons & Dragons mögen und sich für die Entstehungsgeschichte dieses Spiels interessieren, ist Into the Borderlands also Pflicht. Aber auch diejenigen, die dem nostalgischen Abfeiern der alten Abenteuer im ersten Teil des Buches nichts abgewinnen können, sollten sich vom Preis des Abenteuers nicht abschrecken lassen. Denn dafür wird auch eine entsprechende Menge an Inhalt geboten, der für sehr viel Spaß am Spieltisch sorgt.

Erscheinungsbild

Wie schon beim Inhalt präsentiert sich Into the Borderlands auch äußerlich altmodisch im allerbesten Sinne. Das annähernd 400 Seiten starke Werk ist fast durchgehend in schwarz-weiß gehalten, die einzigen farbigen Inhalte sind Hochglanzseiten mit den Front- und Backcoverartworks der Originalabenteuer.

Die Illustrationen des neuen Abenteuers sind durchweg solide und haben einen recht einheitlichen Stil. Besonders gelungen ist hier die Verwendung einer ikonischen Gruppe Abenteurer, die, von verschiedenen Illustratoren in Szene gesetzt, diverse Situationen des Abenteuers durchlebt. Das Artwork der Originale entspricht selbstverständlich nicht mehr dem heutigen Standard und kann daher nur aufgrund von Nostalgie überzeugen.

Textlich ist Into the Borderlands durchgängig solide. Das Lektorat hat zuverlässig gearbeitet, auch im Satz sind keine offensichtlichen Fehler vorhanden. Die Texte sind wenig poetisch, was aber bei einem Abenteuer eher positiv zu bewerten ist.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Goodman Games
  • Autor(en): Gary Gygax, Mike Carr, Chris Doyle u.a.
  • Erscheinungsjahr: 2018
  • Sprache: Englisch
  • Format: Letter
  • Seitenanzahl: 384
  • ISBN: 9781946231352
  • Preis: 47,16 EUR
  • Bezugsquelle: Amazon, Sphärenmeister

 

Bonus/Downloadcontent

Auf der Firmenhomepage von Goodman Games werden vorgefertigte Spielercharaktere für das Abenteuer zum Download angeboten. Außerdem stehen die Spielwerte für ein Monster zur Verfügung.

Fazit

Into the Borderlands ist in erster Linie ein Liebhaberprodukt für Fans von Old-School-Abenteuern. Neben der schon auf dem Cover angekündigten Konvertierung klassischer Abenteuer in die aktuellste Fassung von Dungeons & Dragons werden dem Leser Nachdrucke mehrerer Auflagen der verarbeiteten Originalabenteuer geboten.

Artwork aus dem Band
Artwork aus dem Band

Dieses Paket wird mit farbigen Coverartworks von damals und einer Reihe von ergänzenden Essays garniert. Alles zusammen ergibt einen Hardcoverband von beinahe 400 Seiten zu einem Preis, der für die meisten Grundregelwerke ausreicht. Wer dem Old-School-Rollenspiel bisher nichts abgewinnen konnte, wird über einen Kauf mit Recht zweimal nachdenken.

Warum also eine so positive Bewertung?

Wer bereit ist, sich auf das Monumentalbuch einzulassen, bekommt eine Sandbox geboten, die geradezu überquillt vor Inhalt. Zwei große und vielseitige Dungeons, eine vollständig beschriebene Basis für die Expeditionen der Spielercharaktere und das namensgebende Grenzland voller abwechslungsreicher Begegnungen bieten genug Material, um als eigene Kampagne durchzugehen.

Ein viertägiger Spieltest hat alle Beteiligten begeistert und sehr gut unterhalten, obwohl wir nur an der Oberfläche gekratzt haben. Und kaum etwas ist höher zu bewerten als der Spaß am Spieltisch, wenn es um Abenteuer geht. Into the Borderlands wird nicht alle Rollenspieler ansprechen, aber viele.

Worauf wartet ihr also? In der Taverne der Festung wird gerade ein Ale (nur echt für eine Elektrummünze) für euch gezapft. Auf ins Grenzland!

 

Artikelbild: Goodman Games, Bearbeitet von Verena Bach
Dieses Produkt wurde privat finanziert.

 

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