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Welcher Rollenspieler kennt das nicht? Man stolpert im Internet über einen Artikel oder ein Video und denkt sich: “Das wäre ein super Plot für ein Rollenspielabenteuer”. Man merkt, dass da eine Geschichte ist, die nur darauf wartet neu interpretiert zu werden. Wenn man denn nur wüsste, wie …

In unserer neuen Serie Projekt H.E.L.D. (Historische Ereignisse Legendär Definiert) wollen wir euch einige Inspirationsquellen aus den Weiten des Internets vorstellen. Dabei soll es aber nicht nur darum gehen, Ereignisse zusammenzufassen, Orte vorzustellen oder Theorien auszubreiten. Vielmehr sollen auch konkrete Beispiele gegeben werden, wie diese Rohmaterialien in einem Setting oder Plot verwendet werden können. Stellt es euch einfach wie eine Sammlung von möglichen Abenteueraufhängern vor. Den Auftakt zu diesem Experiment bildet ein mysteriöses Schiffsunglück aus dem Jahr 1947: der Ourang-Medan-Zwischenfall.

Worum geht es?

Im Sommer des Jahres 1947 empfingen die Dampfer City of Baltimore und Silverstar einen Notruf des holländischen Schiffs SS Ourang Medan, welches zu dieser Zeit die Straße von Malakka durchquerte. Der im Morsecode abgesetzte Funkspruch lautete: „S.O.S. aus Ourang Medan *** Wir sinken. Alle Offiziere, darunter der Kapitän, tot im Kartenraum und auf der Brücke. Wahrscheinlich die gesamte Besatzung tot.“ Es folgten einige Augenblicke Funkstille, dann einige unzusammenhängende Signale und schließlich die letzten Worte des Funkers: „Ich sterbe“. Danach konnte kein Funkkontakt zur Ourang Medan mehr hergestellt werden.

Die Silverstar machte sich sofort auf den Weg, um dem in Seenot geratenen Schiff zu helfen, aber sie befand sich über 200 Seemeilen von der letzten gemeldeten Position des holländischen Schiffes entfernt. Die City of Baltimore, das andere Schiff, das den Notruf empfangen hatte, befand sich sogar über 800 Seemeilen entfernt von der Ourang Medan und führte keine Kursänderung durch, obwohl sie – im Unterschied zur Silverstar – einen Arzt an Bord gehabt hätte.

Fast einen Tag später fand die Silverstar die havarierte Ourang Medan dann endlich. Das Schiff war über 50 Seemeilen von seiner letzten gemeldeten Position entfernt und trieb ohne sichtbaren Antrieb oder Steuerung in der See. Weder hatte das Schiff eine Flagge gesetzt, noch reagierte es auf die Signale, die der amerikanische Dampfer zum anderen Schiff herüberschickte. Allem Anschein nach war die Ourang Medan menschenleer, ein klassisches Geisterschiff mitten im 20. Jahrhundert.

Als auch nach mehreren Versuchen weder per Funk, noch per Signalflagge oder Megaphon Kontakt aufgenommen werden konnte, beschloss der Kapitän der Silverstar, das andere Schiff zu entern. Eine zehn Mann starke Crew setzte mit einem Beiboot über und enterte den Frachter. Dort angekommen bot sich ihnen ein Anblick wie aus einem Horrorfilm. An Deck, in den Gängen, im Kartenraum, auf der Brücke, überall fanden sie die Leichen der Besatzung. Alle Männer waren asiatisch, zwischen 20 und 50 Jahren alt, und schienen unter großen Qualen gestorben zu sein. Die Augen waren weit aufgerissen, die Gesichter vor Schreck und Agonie zu Grimassen erstarrt. Nicht eine Seele an Bord der Ourang Medan war noch am Leben. Selbst der Hund der Besatzung war nicht verschont geblieben. Trotzdem ließen sich nirgends Wunden oder Verletzungen finden. Nicht ein Tropfen Blut schien vergossen worden zu sein. Es schien eher, als sei die Mannschaft einfach vor Schreck tot zu Boden gefallen.

Allerdings nicht die gesamte Besatzung. Der Zweite Offizier der Ourang Medan und einige Seeleute fehlten mitsamt eines Beiboots, dem Logbuch und allen anderen schriftlichen Unterlagen des Schiffs.

Während das Enterkommando noch die Decks des Frachters absuchte, fiel ihnen ein merkwürdiger Geruch an Bord auf. Wenig später wurde dichter Rauch gesichtet, und Feuer breitete sich an Bord aus. Der Erste Offizier der Silverstar gab sofort den Befehl zur Evakuierung des Schiffes. Kaum waren sie zurück an Bord der Silverstar, erschütterten mehrere Explosionen die Ourang Medan. Das Schiff sank jedoch nicht, sondern brannte aus. Noch Stunden später konnte die Silverstar den Todeskampf der Ourang Medan beobachten, ehe der niederländische Dampfer sich auf die Seite legte und in 5000 Meter Tiefe versank.

Auch danach nahmen die merkwürdigen Zwischenfälle rund um die Ourang Medan kein Ende. Drei Wochen nach ihrer Havarie wurde das Beiboot auf der Insel Taongi angespült. Sechs der sieben Insassen waren tot. Der Zweite Offizier war der einzige Überlebende, und auch dieser verstarb wenige Tage später an Erschöpfung.

Untersuchungen im Anschluss an die Katastrophe brachten hervor, dass ein Schiff namens Ourang Medan von keinem Land der Welt registriert worden war. Auch in den Unterlagen der Silverstar fanden sich später keine Aufzeichnungen zu dem Rettungseinsatz. Als viele Jahre später eine Expedition zu dem Wrack tauchen wollte, war auch diese nicht in der Lage, die Ourang Medan zu finden. Es war, als habe die Ourang Medan nicht existiert, oder als seien alle Hinweise auf ihre Existenz verschwunden. Was blieb war lediglich der aufgezeichnete Funkspruch und die ersten Aussagen der Besatzung der Silverstar.

Widersprüche und Halbwahrheiten – Was war passiert?

Es gibt eine ganze Reihe von möglichen Erklärungen dazu, was den rätselhaften Tod der Besatzung der Ourang Medan hervorgerufen haben könnte. Diese reichen von undichten Gascontainern bis zum Eingreifen durch Außerirdische. Ein paar mögliche Erklärungen für das Schicksal der Ourang Medan findet der geneigte Spielleiter in der Folge aufgelistet. Teile davon sind realen Erklärungsversuchen entlehnt, andere Teile wurden hinzuerfunden, und wieder andere Teile neu zusammengesetzt. Ziel ist es nicht, eine schlüssige Theorie zum Untergang der Ourang Medan zu liefern, sondern einem Spielleiter hooks für sein Abenteuer zu geben. Theorien, die sich um innere Logik und Kohärenz bemühen, finden sich in der Linkliste am Ende des Artikels.

1. Gift oder Nervengas

Die gängigste Theorie ist, dass die Ourang Medan eine Ladung aus Schwefelsäure, Zyankali und Nitroglycerin geladen hatte. Diese Ladung sollte von der Besatzung an den Behörden vorbei geschmuggelt werden, um in einer Nacht-und-Nebel-Aktion einem anderen Schiff vor der Küste von Costa Rica übergeben zu werden. Direkt danach sollte die Ourang Medan Panama anlaufen, um dort verschrottet zu werden. Dies ist die Version der Geschichte, die der Zweite Offizier seinem Pfleger erzählte, ehe er starb.

Demnach wäre in den Laderaum eindringendes Salzwasser zusammen mit leckenden Fässern für eine chemische Reaktion verantwortlich, die erst zur Vergiftung der Besatzung und anschließend für den Brand im Schiff geführt hat. Warum aber ist niemandem das Leck aufgefallen? War das Leck so groß, dass ausreichend Masse für eine Reaktion freigesetzt werden konnte, die die gesamte Mannschaft des Schiffes umbringen konnte? Woher wusste der Zweite Offizier davon, und wieso hat der Kapitän des Schiffes sich geweigert, sich und die Besatzung ebenfalls in Sicherheit zu bringen, oder zumindest etwas gegen das Leck zu tun?

2. Kohlenmonoxidvergiftung

Eine andere Theorie ist, dass ein unerkannter Schwellbrand im Maschinenraum des Schiffes zu starker Rauchentwicklung geführt hat. Das bei dem Brand entstandene Kohlenmonoxid hätte dann bei der Besatzung zu einer Atemwegsvergiftung und zum schließlich zum Tod geführt. Ein Hinweis auf diese Theorie ist, dass der erwähnte Zweite Offizier vor seinem Tod berichtet haben soll, dass die ersten Todesfälle unter den Heizern des Dampfers aufgetreten waren. Warum aber starben dann auch die Seeleute an Deck? Woher kamen die verzerrten Fratzen, und wie kam der Funker noch zu seinem mysteriösen letzten Funkspruch?

3. Überreste japanischer Experimente

Eine Abwandlung und Kombination der oben stehenden Theorien ist, dass der holländische Frachter nicht etwa unwissentlich giftige Substanzen schmuggelte, die sich durch Unglück und Nachlässigkeit zu einer tödlichen Falle entwickelten, sondern dass jemand genau das Risiko kannte. In dieser Theorie haben die Niederländer – nach der erneuten Inbesitznahme ihrer fernöstlichen Kolonien – die Überreste kaiserlich japanischer Experimente mit chemischen und biologischen Kampfstoffen gefunden. Da die Niederlande zu diesem Zeitpunkt in einen Kolonialkrieg gegen die indonesische Republik verwickelt waren, könnten die Europäer beschlossen haben, die gefundenen Waffen gegen die aufständischen Nationalisten einzusetzen. Die Ourang Medan wäre demnach kein einfacher Frachter, sondern ein militärisches Schiff unter falscher Flagge gewesen. Warum aber wurde die Aktion dann so schlampig durchgeführt, und wieso fand das Enterkommando keinen Hinweis auf die Anwesenheit von Europäern an Bord?

4. Ein altes Übel wurde befreit

Was wäre, wenn die Ourang Medan gar keine Chemikalien, Waffen oder Kampfstoffe transportiert hätte, sondern etwas viel Älteres und Unverständlicheres? Die Dschungel Indonesiens sind voller Geheimnisse und Mysterien, die (noch) nicht unbedingt für die Augen der Menschheit bestimmt sind. Ganz sicher nicht für eine Gruppe überheblicher Ausländer, die versuchen, den Inseln ihre Geheimnisse mit Gewalt zu entreißen. Wurde die Ourang Medan versehentlich zu einer modernen Demeter (oder Nostromo)? Warum aber fand dann das Kommando der Silverstar keinen Hinweis darauf? Oder fanden sie welche und haben geschwiegen? Oder wurden sie gar zum Schweigen gebracht? 

Wie kann das im Rollenspiel eingesetzt werden?

Bei der Lektüre der verschiedenen Erklärungsmodelle kommen dem passionierten Spielleiter sicherlich sofort verschiedene Szenarien in den Sinn, die sich rund um das verdammte Schiff schreiben ließen. Der einfachste Weg wäre es sicherlich, das Ganze als Hintergrund für ein historisches Szenario aus der frühen Nachkriegszeit zu benutzen. In der Folge sollen neben dieser naheliegenden Variante aber auch noch andere Ideen und mögliche Szenarien verfolgt werden.

Übernatürliche Investigatoren

Der Titel verrät es dem geneigten Leser sofort. Das Szenario schreit förmlich danach, im Rahmen eines Cthulhu-Abenteuers verarbeitet zu werden. Die Investigatoren könnten als Crew oder Passagier auf der Silverstar reisen, um dann dem Notruf der Ourang Medan zu folgen, und als Teil des Enterkommandos das Geisterschiff zu untersuchen. Bei ihrer Spurensuche können sie langsam nicht nur den schrecklichen Ereignissen auf den Grund gehen, sondern müssen sich auch des Übels erwehren, das die Besatzung des holländischen Schiffes vernichtet hat. Hat es schon genug? Wurden genug Opfer gebracht, oder stehen die Sterne noch nicht richtig? Für den Spielleiter, der seine Abenteuer eher düster und nihilistisch mag, mag es auch eine Option sein, seine Charaktere als Crew auf der Ourang Medan starten zu lassen. Während sie sich noch darüber freuen, im wilden Niederländisch-Indien ein echtes Schnäppchen gemacht zu haben, ahnen sie noch nicht, dass ihnen ein aussichtsloser Kampf bevorsteht. Vielleicht gelingt es einem Charakter ja auch noch, einen letzten verzweifelten Hilferuf abzusetzen, ehe auch er sich dem Unausweichlichen stellen muss?

Dieser Ansatz funktioniert natürlich nicht nur bei Pegasus‘ Platzhirsch. Ein Abenteuer, das sich um die Aufdeckung des übernatürlichen Geheimnisses des Totenschiffs dreht, kann ebenso mit The Esoterrorists oder Delta Green umgesetzt werden. Wenn man den Ansatz wählt, die Ourang Medan eine neue Demeter sein zu lassen, so ließe sich das Szenario auch – je nach gewünschter Perspektive – sicherlich mit Vampire: The Masquerade, Night‘s Black Agents oder Chronicles of Darkness umsetzen.

Verschwörung zwischen den Sternen

Warum nicht tun, was schon George Lucas, Gene Roddenberry oder Joss Whedon getan haben, und das Szenario einfach mal in den Weltraum verlegen? Nun ist Übertragung der Handlung in den Science-Fiction-Kontext aber mehr als einfach nur ein anderer Farbanstrich. Gute Science-Fiction – zumindest nach Meinung des Autors – hat immer auch eine Aussage über die eigene Gesellschaft und Gegenwart zu treffen. Dadurch, die Geschichte der Ourang Medan in das Universum von Eclipse Phase, The Void, Mindjammer oder Nova Praxis zu verlegen, kann man die tieferen Themen anschneiden, ohne Gefahr zu laufen, sich in den Untiefen der realen Geschichte des europäischen Imperialismus zu verlieren. Sensible Themen wie Kriegsverbrechen, oder die Frage, wie man mit den Hinterlassenschaften einer Besatzungsmacht umgeht, werden leichter bespielbar, wenn der Widersacher nicht das kaiserliche Japan, sondern die Jovische Republik oder ein Überbleibsel der Technophage ist.

Die Ourang Medan könnte ohne Weiteres ein Frachtschiff sein, das irgendwo im Sonnensystem treibt, und dessen letzte Hyperraumtransmission von der Basis oder dem Schiff der Charaktere aufgefangen wurde. Von da aus kann man eine Menge Geschichten erzählen. Beispielsweise von einer Verschwörung der besagten Jovischen Republik mit einem Hypercorp, die eine gemeinsam entwickelte Biowaffe für einen verdeckten Einsatz gegen eine Gruppe Ökoterroristen (der die Charaktere angehören?) einsetzen wollen. Leider geht beim Transport etwas schief, und man kann keine offizielle Rettungsmission starten . . .

Oder aber die zusammengewürfelte Crew eines Schmugglerschiffes stößt bei der illegalen Bergung eines havarierten Hulks auf einen Hinweis auf die Ourang Medan, einen lange verschollen geglaubten Frachter. Leider gibt es nur eine letzte kryptische Audiodatei und eine ungefähre Position. Welchen Weg wird die Gruppe einschlagen? Folgen sie der Spur zu möglichem Reichtum? Und wenn ja, sind sie bereit, den Preis zu zahlen, den das dort wartende Wissen von ihnen verlangen wird?   

Nützliche Links mit weiteren Informationen

Es gibt – wie in der Einleitung erwähnt – einige Webseiten, die sich mit dem Ourang-Medan-Zwischenfall beschäftigen. Die meisten würden keinen wissenschaftlichen Standards entsprechen, aber für Handouts im Rollenspiel oder weitere Ideen sind sie in jedem Fall gut. In der Folge findet ihr eine Auswahl von Seiten, die bei der Erstellung dieses Artikels benutzt worden sind.

 

Ausblick

Soweit erst einmal zur Ourang Medan und einigen möglichen Szenarien, die man aus dem Quellenmaterial herleiten kann. Hat euch das Experiment gefallen? Kennt ihr einen Ort, einen Zwischenfall, ein Ereignis oder eine Legende, die es wert wäre, in diesem Rahmen besprochen zu werden? Hat vielleicht sogar schon mal jemand etwas geschrieben oder geleitet, das auf dem Schiffsunglück basierte?

Lasst es uns in den Kommentaren wissen. Ich bin gespannt. 

Artikelbild: New York Maritime Industry Museum „Steamship Morro Castle on fire“

 

7 Kommentare

    • Hey,

      Freut mich, dass es Dir gefallen hat :-). Hast du einen besonderen Wunsch, in welche Richtung wir für den nächsten Artikel gucken sollen?

      LG,

      Marcus

    • Ach ja. Wenn du das einsetzt, interessiert es mich natürlich auch total, wie es gelaufen ist. Würde mich freuen, wenn du mir Bescheid sagen würdest :-)

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