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Die Regeln bilden neben der Spielwelt den Kern eines jeden Rollenspielsystems. Setzt man sich in seiner Spielrunde zusammen, fällt der Grad an Regelkenntnis bei jeder beteiligten Person meist ganz unterschiedlich aus. Die Frage ist: Wie viel Kenntnis braucht man und wie wenig darf man davon haben?

Ein gewisses Maß an Regelkenntnis ist für jeden Rollenspielenden unverzichtbar. Und sei es nur zu wissen, welche Würfel benutzt werden und was die wichtigsten Zahlen und Begriffe auf dem Charakterbogen bedeuten. Das funktioniert allerdings nur, wenn zumindest eine Person aus der Gruppe eine größere Kenntnis besitzt. Jede Rollenspielgruppe kann also in unterschiedlichsten Konstellationen zusammengesetzt sein. Ob Anfänger oder Erfahrener: Um die Regeln eines Rollenspielsystems kommt man nicht herum.

Wie erwerbe ich Regelkenntnisse?

Hat man als einzelne Person noch nie ein Tischrollenspiel gespielt, so ist es wohl am wahrscheinlichsten, dass man von einem bereits Spielenden darin eingeführt wird. Auf diese Weise bekommt man schon einmal die grundlegendsten Regeln vermittelt, sodass man in der Lage ist, an der Spielrunde teilzunehmen. Von hier aus gibt es verschiedene Möglichkeiten, je nachdem wie sehr man am Tischrollenspiel allgemein und an einem bestimmten System im Besonderen interessiert ist.

Manche sind zufrieden damit, wenn sie alles Nötige wissen, um ihren Charakter spielen zu können. Andere lesen sich mit Begeisterung in alle verfügbaren Bücher ein und erlangen dadurch mit der Zeit umfangreiche Kenntnisse über die Regeln eines Rollenspielsystems. Wieder andere sind absolute Spezialisten in einem bestimmten Themengebiet. Natürlich kann man auch alles auf sich zukommen lassen. Aber auch auf diese Weise lernt man nach und nach zwangsläufig dazu.

Wenn man allerdings als Gruppe, ohne dass man einen Rollenspielenden kennt, vollkommen neu in die Welt der Tischrollenspiele eintaucht, so hat man wohl kaum eine Wahl, als sich die Regeln selbst anzueignen. Ob man dies als Gruppe tut oder nur eine Person sich dessen annimmt und danach den anderen alles erklärt, ist hierbei persönliche Präferenz.

Gleiches gilt, wenn man sich bereits im Bereich des Tischrollenspiels auskennt, aber mit einem neuen System beginnen möchte. Natürlich ist hierbei auch zu erwähnen, dass viele Rollenspielsysteme eine Einstiegshilfe durch Basiswerke bieten, in denen die wichtigsten Regeln zusammengefasst sind, um mit dem Spielen beginnen zu können. Je komplexer das System an sich ist, desto nützlicher und hilfreicher kann ein solches Basiswerk für Anfänger sein. Wurden die Grundregeln verstanden, kann man sich immer noch mit den komplexeren und tiefergehenden Regeln befassen.

Die Unterscheidung zwischen SpielleiterIn und SpielerIn

Der erste Gedanke hierbei ist wohl, dass der oder die SpielleiterIn eine mindestens genauso große Regelkenntnis besitzen sollte, wie die Spieler, wenn nicht sogar noch mehr. Aber ist das wirklich so?

Ein/e SpielleiterIn sollte sich zumindest soweit auskennen, dass ein Szenario auch anständig geleitet werden kann. Andauernde Regelfragen kommen irgendwann nicht mehr so gut an, insbesondere, wenn die Spielleitung eigentlich schon erfahren sein sollte. Es ist allerdings nicht deren Aufgabe, alles zu wissen. Speziell wenn es um bestimmte Regeln geht, welche nur die Charaktere von einzelnen SpielerInnen betreffen. Diese haben sich damit beschäftigt und kennen sich – hoffentlich – damit aus. Somit kann man auch von ihnen erwarten, dass sie die Spielleitung in dieser Hinsicht unterstützen. Hierbei ist es jedoch sehr wichtig, dass die SpielerInnen fair sind und eine eventuelle Unkenntnis seitens der Spielleitung nicht zu ihrem eigenen Vorteil ausnutzen.

Umgekehrt sollte man als SpielerIn ein gewisses Maß an Regelsicherheit bei der Spielleitung erwarten können. Vor allem, wenn die Gruppe eine feststehende Person hat, die leitet.

Zu wenig Wissen oder zu viel Wissen

Wie wirkt es sich nun also aus, wenn eine oder mehrere Personen wenige Regelkenntnisse besitzen?

Beim Spielen wird hierbei eine Problematik schnell sichtbar: Je mehr gespielt wird, desto wahrscheinlicher ist es, dass Regeln auftauchen, die nicht zu den bereits erlernten Grundregeln gehören. Dementsprechend muss mehr nachgefragt werden, um am Spielgeschehen teilnehmen zu können.

Ist der oder die entsprechende SpielerIn neu, dann rechnen die anderen mit Nachfragen und werden sich dadurch nicht sonderlich gestört fühlen. Auch wenn es nach Möglichkeit immer besser ist, etwaige Regelfragen außerhalb der aktuellen Spielsitzung zu klären, anstatt mitten im Spiel. Wie sehr dies unerwünscht ist, hängt jedoch auch immer mit der jeweiligen Gruppendynamik zusammen.

Problematischer wird es, wenn ein/e SpielerIn schon länger dabei ist, sich in Sachen Regeln aber immer auf die anderen verlässt und selbst keine Motivation zeigt, sich damit zu beschäftigen. In diesem Fall sollte man das Gespräch suchen.

Und wie wirkt es sich aus, wenn eine oder mehrere Personen zu viel wissen? Kann man überhaupt zu viel wissen?

Das maximale Wissen über die Regeln eines Rollenspielsystems ist dann erreicht, wenn man jede davon auswendig kennt – auch wenn das vermutlich schwer zu bewerkstelligen ist. Aber auch schon ein geringeres Maß kann bei anderen den Eindruck erwecken „Der weiß ja alles!“ Eine solche Person ist für die anderen wertvoll, da sie sich bei Fragen an diese wenden können. Man sollte sich jedoch nicht nur auf sie verlassen, sondern sich auch selbst mit den Regeln befassen.

Eine nahezu allwissende Spielleitung zu haben ist sicherlich positiv für jede Gruppe. Diese besitzt dadurch eine größere Sicherheit und kann sich mehr darauf konzentrieren, ein immersives Szenario aufzubauen, anstatt Regelfragen zu klären.

Unangenehm kann es werden, wenn ein/e SpielerIn deutlich größere Regelkenntnisse besitzt als die Spielleitung und diese beispielsweise immer wieder unterbricht oder verbessert, weil das laut Regeln nun mal so ist und nicht so. Auch hier sollte mit dem oder der entsprechenden SpielerIn geredet werden. Und vielleicht stellt sich dabei heraus, dass er oder sie eher als SpielleiterIn geeignet ist denn als SpielerIn.

Immersion

Für die Immersion, also das Eintauchen in die Spielwelt, ist eine größere Regelkenntnis aller Teilnehmenden vermutlich vorteilhafter. Denn jede Nachfrage, wie das jetzt noch mal genau funktioniert, reißt die SpielerInnen aus der Welt, in der sie sich gerade befinden. Wie sehr dies jeden Einzelnen stört, hängt selbstverständlich vom Grad der Immersion ab. Aber wenn man sich gerade in einer besonders spannenden Situation oder einem epischen Kampf befindet, dann möchte vermutlich niemand mit einer Frage gestört werden wie „Also, wie viel Schaden macht meine Waffe nochmal?“ Lässt sich das mit einem einfachen Satz beantworten, ist das noch in Ordnung. Aber wenn dafür Regelbücher ausgepackt und durchsucht werden müssen, stört es schon mehr.

Als generelle Faustformel könnte man vielleicht Folgendes festlegen: Je mehr Regelkenntnisse man hat, desto besser. Und wenn es doch Lücken gibt, so sollte man wissen, wo man in den Regelbüchern nachschauen muss, um im Notfall die anderen Spieler nicht aus ihrer Immersion zu reißen.

Spielerlebnis über Regeltreue?

Nehmen wir einmal an, es tritt eine Situation auf, mit welcher die Spielleitung überhaupt nicht gerechnet hat. Denn man kann sich noch so sehr auf ein Szenario vorbereiten, aber gegen manche Ideen seitens der SpielerInnen kann man sich nicht wappnen.

Nehmen wir also weiter an, dass die SpielerInnen eine – vielleicht sogar etwas absurde – Idee haben, wie sie das aktuelle Problem lösen können. Die erforderlichen Regeln sind allerdings niemandem genau bekannt.

Die Spielleitung hat nun zwei Möglichkeiten: Die Durchführung des Plans kann einfach verboten werden. Dann müssen sich die SpielerInnen etwas anderes ausdenken. Oder die Durchführung wird erlaubt. In diesem Fall können die Regeln nachgeschlagen werden, was jedoch die Stimmung ruinieren kann. Stattdessen kann die Spielleitung auch einfach festlegen, wie etwas funktioniert und was passiert. Ist das Szenario oder die Spielsitzung beendet, können die korrekten Regeln auch im Nachhinein nachgelesen werden, sodass man sie beim nächsten Mal korrekt anwenden kann.

Manche Situationen können auch die Möglichkeit bieten, dass existierende Regeln gedehnt oder sogar ignoriert werden. Hier ist jedoch wichtig, dass alle am Spieltisch mit einer solchen Vorgehensweise einverstanden sind, denn es gibt auch SpielerInnen, die sehr regeltreu sind und nicht davon abweichen wollen. Doch durch das leichte Aufweichen bestimmter Spielregeln kann es auch durchaus zu intensiveren Spielerlebnissen kommen. Nehmen wir hierfür zwei Beispiele:

Beispiel 1: Der Krieger der Gruppe hat einen harten Kampf gewonnen und so allen anderen das Leben gerettet. Doch er wurde dabei so schwer verwundet, dass er nun im Sterben liegt. Die Magierin besitzt zwar einen Zauber, mit dem sie ihn heilen könnte, aber nach den Regeln sind seine Verletzungen zu schwer, und es gibt keine Möglichkeit mehr ihn zu retten. Auch ein etwaiges übernatürliches Eingreifen – wie etwa Schicksalspunkte in DSA – kann nicht mehr verwendet werden.

Natürlich muss sich jeder Spieler darüber im Klaren sein, dass sein Charakter zu jeder Zeit sterben kann. Aber wenn nun der Tod des Kriegers weder im Sinne der SpielerInnen noch der Spielleitung ist, gibt es nun die Möglichkeit, die Regeln etwas zu dehnen. Und zwar, indem beispielsweise der Magierin die Ausführung des Zaubers erlaubt wird, aber unter erschwerten Bedingungen. Die Magierin will ihrem Gefährten natürlich helfen und so gelingt es ihr unter größter Kraftanstrengung, den Zauber zu wirken und somit das Leben des Kriegers zu retten.

Beispiel 2: Es tobt eine erbitterte Schlacht zwischen zwei Heeren und die Charaktere der Spieler kämpfen auf einer der beiden Seiten. Der Magier besitzt einen Zauber, mit dem er Metallrüstungen in kürzester Zeit rosten lassen kann. Laut Regeln muss die entsprechende Rüstung dafür direkt berührt werden. Dieser Zauber wäre also im gegenwärtigen Szenario recht nutzlos.

Nun hat der Spieler des Magiers jedoch die Idee, die Pfeile der Bogenschützen mit diesem Zauber zu belegen. Treffen dann die Pfeile auf die gegnerischen Rüstungen, so fangen diese an zu rosten. Nach den Spielregeln wäre dies absolut unmöglich. Aber da bei großen Schlachten das Augenmerk mehr auf dem großen Ganzen liegt, anstatt auf einzelnen kleinen Gefechten, erlaubt die Spielleitung diese Vorgehensweise. Denn so kann ein epischer Moment beschrieben werden, der ansonsten nicht stattgefunden hätte.

Diese Beispiele zeigen, dass das Dehnen von Regeln in passenden Situationen durchaus das Spielerlebnis aller Beteiligten aufwerten kann. Natürlich sollten Situationen wie die beiden oben beschriebenen möglichst einmalig bleiben. Aber wenn sich alle einig sind, eine bestimmte Regeldehnung dauerhaft in das Spiel aufzunehmen, dann ist das ihr gutes Recht. Schließlich gibt es auch so etwas wie Hausregeln. Und ist im Endeffekt ein großartiges Spielerlebnis nicht wichtiger als das strikte Einhalten der Spielregeln?

Schlusswort

Fassen wir also zusammen: Eine große Regelkenntnis ist besser, aber kein Muss. Vor allem nicht für neue SpielerInnen. Ein gewisses Engagement – und sei es lediglich Aufgeschlossenheit und Interesse gegenüber dem aktuellen Rollenspielsystem – sollte jedoch Voraussetzung sein, um allen in der Gruppe ein bestmögliches Spielerlebnis zu bescheren.

Wenn es sich positiv auf eine Situation im Spiel auswirken kann, dann ist es durchaus legitim, die Regeln etwas zu dehnen. Und auch wenn man sich noch so gut mit den Regeln auskennt, so sollte eines doch immer an erster Stelle stehen: der Spaß am Spiel.

Artikelbild: © depositphotos / thinglass

2 Kommentare

  1. Die Session 0 hätte auch angesprochen werden sollen.
    Gerade dort sollte besprochen werden, was die GM von den Spielerinnen erwartet; soll jede die Regeln gut kennen, reicht es die 2 A4 Seiten die die GM zu Beginn ausgegeben hat einmal kurz zu überfliegen, oder ist keine Regelkenntnis nötig?
    Habe schon alles gespielt, und Probleme wie „Meine Spielerinnen wollen die Regeln nicht lernen!“ entstehen erfahrungsgemäß häufig daraus, dass eben _nicht_ vorher abgesprochen wurde wie gut die Spielerinnen die Regeln kennen müssen, kombiniert mit der Einstellung einiger Leute zum RPG zu gehen, 4 Stunden Spaß haben zu dürfen, und danach – bis zum nächsten Termin in 2 Wochen – nichts machen zu müssen (Stichwort Beer&Pretzels game).
    Solange man mir nichts anderes sagt würde ich das auch so machen 🤷‍♀️

    Wenn man schon in der Session 0 ist sollte man auch direkt über Regeltreue sprechen. Mich persönlich stört sowas wie: „Die Regeln sagen du bist tot, aber für die Story ist es besser, du lebst jetzt“; da unterscheiden sich die Geschmäcker.
    Das Same-Page-Tool ist was das angeht sehr lesenswert.

    • Das stimmt, dazu hätte ich noch etwas schreiben können. Vielleicht habe ich mich da unbewusst etwas zu sehr von meinen eigenen Erfahrungen leiten lassen und es deshalb außen vor gelassen.
      Und ja, die Regeltreue. Da scheiden sich die Geister wohl sehr stark. Aber diskussionswürdig (z.B in einem eigenen Artikel) ist es nichtsdestotrotz.
      Auf jeden Fall vielen Dank für den Kommentar!

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