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Wenn die wahren Monster in einem selbst lauern, ist es kein gewöhnliches Rollenspiel. In The Mending Circle stellen wir uns als Zirkel von drei Hexen dem furchtbarsten aller Endbosse – Problemen aus dem realen Leben. Wie diese Gratwanderung aus Realität und Abenteuer funktioniert, erfährst du in diesem Bericht.

Einleitung – Was ist The Mending Circle?

Worum geht es? Bei The Mending Circle spielen wir einen Zirkel von drei Hexen. Genau drei Hexen – keine mehr, keine weniger. Das Geschlecht der gespielten Charaktere ist zwar egal, nicht aber ihre Anzahl. Denn, wie schon Monty Python wussten: „Drei allein sei die Zahl.“

Unser Hexenzirkel hat eine konkrete Aufgabe. Eine Seele wurde verletzt, und diese gilt es mit unseren Kräften zu heilen. Die Art und Weise der Verletzung wird nicht genauer beschrieben, aber es handelt sich immer um ein Problem, das nicht (allein) durch Magie gelöst werden kann. Ganz im Gegenteil muss man stufenweise herausfinden, was die seelische Verletzung verursacht (hat), wer von diesem Trauma betroffen ist und wie man zu einer Lösung des Problems beitragen kann.

The Mending Circle versteht sich keinesfalls als eine Art Therapie oder Ersatz für psychiatrische Hilfe. Es versucht, Verständnis für seelische Verletzungen zu wecken, mehr nicht. Der Autor betont im Buch mehrmals, dass man beim Rollenspiel auf das eigene Wohlbefinden und das Wohlbefinden der Mitspieler*innen Acht geben muss, und zeigt mehrere Möglichkeiten auf, bei zu hoher Intensität das Spiel zu unter- oder abzubrechen. Gerade Spiele, die einen wenig gamistischen und dafür intensiver geschichtsgetriebenen Ansatz in ihrem Spiel haben, können dabei leicht sehr oder zu intensiv werden.

Es gibt keine festgelegte Spielwelt in The Mending Circle, auch wenn das Regelbuch stark von unserer Gegenwart ausgeht. Es ist aber ohne weiteres möglich, im Mittelalter, in einer alternativen Realität wie Shadowrun oder im Hyborischen Zeitalter zu spielen. Hier haben die Spieler*innen freie Auswahl. Der starke Bezug auf unsere Gegenwart ist aber insbesondere deswegen einladend, weil es nicht um die Epoche, sondern um die erzählte Geschichte gehen soll, und die meisten Spieler*innen dürften mit unserer Gegenwart hinreichend vertraut sein dürften.

Eine Besonderheit des Spiels ist, dass nach jeder gespielten „Szene“, also nach einem relevanten Abschnitt der Geschichte, die Spielleitung wechselt und an den*die nächste*n Spieler*in weitergereicht wird, ähnlich wie in Durance! Gefangen. Dies bewirkt Dinge, die The Mending Circle besonders und sehr fordernd, aber auch belohnend für alle Beteiligten machen:

  • Das stete Wechseln der Spielleitung nach einer relevanten Szene erfordert, dass die Mitspieler*innen sich zutrauen, das Spiel zu übernehmen und weiterzuleiten.
  • NSC werden im Laufe des Spielabends mitunter von mehreren Mitspieler*innen übernommen. Auch das macht erforderlich, dass die Spieler*innen besonders in die Geschichte involviert sind und das Fingerspitzengefühl haben, einen bis vor kurzem fremden NSC zu spielen.

Hieran ist zu erkennen, dass sich The Mending Circle von anderen gängigen Pen-and-Paper-Rollenspielen unterscheidet und warum es für viele Spieler*innen womöglich nichts ist. Man kann in diesem Spiel viel intimere Handlungsstränge erzählen als in einem normalen Dungeoncrawl oder einer epischen Kampagne, um die Prinzessin zu töten und die Drachen zu retten. Bei The Mending Circle stellt man sich eher Fragen wie: „Wie reparieren wir diese Beziehung?“, oder: „Wie bringen wir unseren Schützling aus dieser Beziehung raus?“, stellen. Und gerade diese Art von Fragen können am Spieltisch mindestens genauso spannend sein wie jedes andere Setting.

Die Regeln

Da anscheinend in jedem Pen-and-Paper Rollenspiel irgendwann auch Würfel geworfen werden müssen (sogar das ebenfalls äußerst simple Durance! Gefangen kam nicht ohne aus), wird auch hier gewürfelt, um die Wunden zu schließen und das Spiel erfolgreich abzuschließen.

Der Würfelmechanismus ist denkbar einfach. Je nach der Herausforderung, vor der eine Hexe steht, wird das passende Attribut gewählt (Muscle bei Herausforderungen, die mit Kraft zu tun haben, Head bei Herausforderungen, die mit dem Verstand zu tun haben, et cetera). Man nimmt so viele Würfel, wie das Attribut beträgt, addiert einen weiteren Würfel pro helfender Hexe und einen weiteren Würfel pro passendem Charm, der in dieser Szene ausgegeben wurde (etwas weiter unten werden Charms genauer erklärt). Jede 5 und 6 auf einem sechsseitigen Würfel gilt als Erfolg.

Ohne gewürfelten Erfolg kann man immer noch gewinnen, aber zu einem persönlichen Verlust. Bei lediglich einem Erfolg kann man die Herausforderung immer noch geschafft haben, aber nur unter großen Anstrengungen. Bei zwei erfolgreichen Würfelergebnissen ist die Herausforderung bestanden, und bei sogar drei Erfolgen ist das Abenteuer herausragend bestanden worden.

Das muss aber nicht bedeuten, dass man bei The Mending Circle nicht „verlieren“ kann. Gerade die Option (nicht Pflicht), seine Hexen nur unter großen Verlusten oder Einsatz „gewinnen“ zu lassen, kann eine spannende Herausforderung sein. Es benötigt für diese Art Rollenspiel wohl Spieler*innen, die genug Reife besitzen, um ihre Protagonist*innen auch einmal ein bittersüßes Ende eines Abenteuers erleben zu lassen. Mit Menschen, die unter keinen Umständen „verlieren“ können, dürfte The Mending Circle (noch mehr als jedes andere Spiel, das man zu Unterhaltungszwecken spielt) eher wenig Freude machen.

Gerade diese Würfelmechanik, gleichzeitig sehr simpel, aber in der Ausführung am Spieltisch doch hochkomplex, macht The Mending Circle zu einem interessanten Spiel für zwischendurch. Man wird vielleicht mit seinem Hexenzirkel wahrscheinlich keine jahrelangen, epischen Kampagnen spielen (obwohl dies durchaus möglich ist); der Fokus des Spieles liegt klar auf „kleinen“, intimen Geschichten.

Die Charaktererschaffung

Jede Hexe ist einzigartig. Das ist zwar richtig, aber The Mending Circle legt keinen großen Wert auf allzu kleinteilige Detailverliebtheit bei den Spielcharakteren. Jede Hexe gehört einem von acht Archetypen an: Curious, Nurturing, Witness, Vivid, Playful, Artisan, Beacon und Hearth. Je nach gewähltem Archetyp unterscheiden sich die Charms, und die persönlichen und die Fragen an den Zirkel sind ein wenig anders gestellt.

Charms sind die persönlichen Spezialinteressen und -gebiete einer Hexe. Während Hexen des Archetyps „The Vivid“ („die Lebhafte“) gerne das Selbstvertrauen anderer stärken und ihnen neue Kraft geben, möchte der Archetyp der „Witness“ lieber jemandem dabei helfen, die Aufmerksamkeit zu fokussieren. Man sieht hier schon, dass das Rollenspiel sehr persönlich werden kann und soll, damit alle Teilnehmer*innen auf ihre Kosten kommen.

Nach der Wahl eines Archetypen muss jede Hexe ihre Attribute – Muscle, Bone, Head und Heart – mit Werten versehen. Dabei werden die Werte 1, 2, 2 und 3 frei auf alle vier Attribute verteilt, je nachdem, ob man etwa eher eine kräftige oder eine intelligente Hexe haben möchte.

Beispiel für ein Charakterblatt – The Vivid

Zu jedem Archetypen gehören bestimmte Fragen an die Hexe und den Zirkel. Bei dem oben abgebildeten Beispielarchetypen „The Vivid“ kann man diese sehen. Die Fragen sind dazu gedacht, der Hexe eine eigene Persönlichkeit zu geben. Spieltechnisch wirkt sich dies nur insofern aus, dass die Hexe durch ihre Charms den anderen Hexen des Zirkels Bonuswürfel für die wichtigen Herausforderungswürfe verleihen kann. So kann die „Lebhafte“ dann Bonuswürfel weitergeben, wenn sie jemandem beispielsweise dabei hilft, Selbstvertrauen zu fassen oder das Zentrum der Aufmerksamkeit zu werden. Durch diese simple Mechanik werden die Spieler*innen dazu gebracht, ein wenig das Stereotyp ihrer gewählten Hexenklasse zu bespielen, aber nicht zu sehr.

Spielbericht und Spielbarkeit

In unserer kleinen Proberunde begann ich als Spielleiter mit dem Problem, dem sich unser Zirkel stellen sollte. Ein junges Mädchen war weggelaufen, weil sich seine Eltern wieder einmal gestritten hatten. Die Hexen brachten es wieder zum Elternhaus und sahen, wie eine junge Frau wutentbrannt das Haus verließ. Es handelte sich nicht um die Mutter des Kindes, sondern um das Kindermädchen, das gerade entlassen worden war. Im Laufe des Spieles stellte sich heraus, dass die Ehe schon lange kriselte und kurz vor dem Ende stand. Darunter litt das Mädchen sehr.

Man sieht hier schon, dass es sich um eine sehr intime Geschichte mit Problemen handelte, die man nicht mit Gewalt und auch eher nicht mit Magie würde lösen können. Die Spieler waren in diesem Fall gezwungen, sich als neues Hauspersonal und Vertraute in das Leben der Familie einzubringen und die Bedürfnisse und Ängste der einzelnen Beteiligten näher zu verstehen. Der Vater war von seinem Beruf gestresst und hatte eine Affäre mit dem Kindermädchen in Erwägung gezogen, es dann aber doch nicht zum Ehebruch kommen lassen. Die Mutter war wegen dem vermuteten Ehebruch verunsichert, ebenso die Tochter, die nicht verstand, was vor sich ging. Alle drei NSC waren mit der Situation überfordert. Die Spieler versuchten zunächst, mit Vater und Mutter eine Vertrauensbasis herzustellen. Danach bemühten sie sich, die beiden Erwachsenen mit ihren eigenen Ängsten zu konfrontieren und so deren Fokus wieder auf die gemeinsame Tochter zu richten.

Erscheinungsbild

The Mending Circle hat einen durchgehenden knalligbunten und comichaften Stil, der gut auf das gewählte Sujet passt. Das Buch vermittelt das Konzept optimistischer, hilfsbereiter und altruistischer Hexen, die heilende Magie praktizieren. Die Illustrationen sind detailliert und aufwändig gestaltet, mit sehr speziellem Comicstil. Besonders gelungen ist das Bilderpaar, welches eine Hexe in Vergangenheit und Gegenwart zeigt und damit beweist, dass Magie in allen Zeiten eine tolle Sache ist.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Sharkbomb Studios
  • Autor: Martin Nerurkar
  • Erscheinungsjahr: 2021
  • Sprache: Englisch
  • Format: PDF
  • Seitenanzahl: 101
  • ISBN:
  • Preis: 16 USD
  • Bezugsquelle: Fachhandel, DriveThruRPG

 

Fazit

Wie kann man eine seelische Narbe heilen? Wie geht man mit Schmerz, Trauer und Verlust um? Wie kann man mit einer inneren Verletzung (weiter)spielen? The Mending Circle macht hier ein paar interessante Ansätze, die man gespielt haben sollte.

Optimierer*innen und kampforientierte Spieler*innen werden hier vielleicht nicht unbedingt das passende Rollenspiel für sie finden. Auch werden Spieler*innen, die ein enges Regelkorsett bevorzugen, hier eventuell nicht ganz glücklich werden. Für diejenigen, die ein Ten Candles oder auch Durance! Gefangen gemocht haben, wird auch The Mending Circle ein magisches Fest werden. Anschauen sollte man es sich auf alle Fälle.

Es ist gleichzeitig eines der simpelsten, aber auch komplexesten Rollenspiele, das sich aus den in diesem Beitrag genannten Gründen zu spielen lohnt.

 

  • Ein ungewohntes Setting.
  • Ein ungewöhnliches und leichtes System.
  • Es geht um kleine, intime Geschichten.
 

  • Beschränkt auf genau drei Spieler*innen.
  • Eher nicht für Spieler*innen geeignet, die jedes Detail ihres Charakters akribisch auf einem Charakterbogen festgehalten haben wollen.

 

Artikelbilder: © Sharkbomb Studios
Layout und Satz: Verena Bach
Das Produkt wurde kostenlos zur Verfügung gestellt.

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