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Lasst alles stehen und liegen! Das hier ist der definitive Neustart der X-Men-Comics. Jonathan Hickman krempelt die Welt der Mutanten vollkommen um. Der Traum von einem friedlichen Nebeneinander ist vorbei. Mutanten aller Länder vereinigt euch! In dieser komplexen Erzählung über mehrere Zeit- und Realitätsebenen wird Geschichte geschrieben.

Früher waren die X-Men-Comics die Vorzeigereihe des Verlags. Doch spätestens seit dem Erfolg des MCU haben die Mutanten ihre zentrale Rolle im Marvel-Universum eingebüßt. Nun sind aber die Rechte für die X-Men zurück im eigenen Haus und der Verlag setzt alles daran, sie wieder auf die Position zu heben, auf der sie früher einmal waren. Dazu haben sie Star-Autor Jonathan Hickman engagiert und ihm die Freiheit gelassen, etwas komplett Eigenes zu erzählen. Als Fan ist man zunächst skeptisch, denn die Erzählungen von Toleranz, Friedensversuchen und Diskriminierung waren stets ein Anker in dieser unsteten Welt. Wenn man dann noch sieht, wie radikal Hickman bereits mit Infinity und Secret Wars das Marvel-Universum erschüttert hat, fragt man sich, was davon noch übrig bleiben wird. Doch dann beginnt man, zu lesen und sieht, wie viel Hickman in wenigen Panels mit wenigen Worten erzählen kann, und man wird hineingezogen in eine neue Welt. Dies ist wirklich ein Neustart und ein anspruchsvoller noch dazu. Wer schon immer mal in die X-Men hinein schnuppern wollte, sollte es spätestens jetzt tun.

Handlung

Alle Mutanten haben sich vereinigt und gründen zusammen eine eigene Nation auf der lebenden Insel Krakoa. Allerdings leben sie dort weder zurückgezogen noch isoliert. Nein, sie treten als Weltmacht auf und stellen anderen Nationen ihre Bedingungen. Gleichzeitig beobachtet man eine Organisation namens Orchis bei ihrem Vorhaben, die Population der Mutanten gering zu halten. Parallel dazu wird erzählt, wie Charles Xavier zum ersten Mal auf Moira MacTaggert trifft, wie in der nahen Zukunft ein Nimrod Jagd auf die letzten Mutanten macht und wie in der fernen Zukunft ein Bibliothekar mit einer drohnenartigen Nimrod-Einheit über den Untergang der Menschheit philosophiert.

Schon jetzt sollte man merken, dass hier nicht einfach eine durchgehende Geschichte erzählt wird. Diese Handlung macht viele Schlenker und wird auf unterschiedlichen Ebenen erzählt. Das Ganze wird angereichert mit weißen Infoseiten, auf denen beispielsweise eine Karte von Krakoa gezeigt, die Zusammensetzung von Orchis erklärt (es stecken unter anderem A.I.M., S.H.I.E.L.D. und Hydra dahinter) oder eine Liste mit sämtlichen Omega-Mutanten präsentiert wird. Hier wird versucht, ein Epos zu erzählen, das die gesamte Welt prägen soll. „House of X“ steht dabei für den Staat unter der Führung von Professor X. „Powers of X“ steht für die verschiedenen Zeitebenen, die als Jahr 0, Jahr 10, Jahr 100 und Jahr 1000 gelesen werden können.

Man könnte meinen, dass man durch die Vielzahl an Handlungssträngen überfordert wird, aber es fühlt sich noch nicht so an. Man ist eher fasziniert von dem Weltenbau. Es wird sogar ein eigenes Alphabet verwendet, bei dem man erst ein paar Buchstaben lernt. Das, was hier gezeigt wird, ist zum größten Teil neu. So dürften Neuleser und Comic-Veteranen gleichfalls überfordert und gefesselt sein. Die einzige Empfehlung, die ich eventuell vorher geben würde, wäre der Klassiker Zukunft ist Vergangenheit, aber selbst ohne dessen Kenntnis sollte es möglich sein, in die Handlung abzutauchen.

Charaktere

Als Professor X in Astonishing X-Men #1 zurückgekehrt ist, hat er angekündigt, einen neuen Traum zu haben. Hier erahnt man nun endlich, was das für eine Vision war. Und es ist ein wenig erschreckend. Er agiert skrupelloser und weniger gütig als früher. Doch sind es nur kleine Auftritte. Man darf gespannt sein, wie er sich entwickelt.

Magneto tritt als Botschafter Xaviers Staat auf.

Sein Staat erscheint in Form von Botschafter Magneto, der immer noch seine ganze Dominanz demonstriert. Dazu taucht auch Jean Grey auf, die wieder mit ihrem alten Kostüm herumläuft und junge Mutanten auf die Insel geleitet, sowie Cyclops, der den Fantastic Four klar macht, dass Mutantenangelegenheiten von Mutanten geregelt werden. Das Ganze wirkt faschistisch und ein wenig beängstigend. Ich hoffe, dass dieser Weg nicht komplett unkritisch und als alternativlos präsentiert wird.

Die neuen Figuren in den Zukunftsszenarien erscheinen nur kurz, schaffen es aber mit wenigen Dialogzeilen, ein gewisses Gefühl für diese Figuren aufzubauen. Über sehr viel mehr geht die Charakterisierung hier nicht hinaus. Moira wirkt im vergangenen Szenario am mysteriösesten und wird in der nächsten Ausgabe eine zentrale Rolle einnehmen.

Es kommen zwar noch weitere Figuren vor, aber diese sind nur Randfiguren. Bei so viel Weltenbau bleibt wenig Platz für die Charaktere. Das ist ein wenig schade, würde aber den Leser auch nur überfordern.

Zeichenstil

Ein detaillierten Stil mit Freude an komplexen Strukturen.

Der Comic teilt sich in zwei Teile: Im ersten Teil wird das House of X vorgestellt, im zweiten die Powers of X (römisch Zehn). Der erste Teil wurde von Pepe Larraz visualisiert. Dieser hat einen sehr detaillierten Stil. Man sieht, wie er sehr viel Spaß an komplexen Strukturen wie Pflanzen oder Technik hat. Er zeigt die Mutanten dabei in einem naturalistischen Stil, stets von Gewächs umrankt. Orchis dagegen wird kühl und von Technik umgeben dargestellt.

Im zweiten Teil hat der bereits mit X-Men Blue erfahrene Mutantenzeichner R. B. Silva den Stift gespitzt. Sein Stil hat auf Grund der niedlichen Gesichter immer gewisse Ähnlichkeit zu Disney-Filmen. Hier liegt der Fokus klar auf den Emotionen und weniger der Umgebung. Da hier auch die vollkommen neuen Charaktere auftauchen, kann man gut erkennen, wie er allein über das Aussehen einer Figur eine Geschichte erzählt.

Beide Teile passen dennoch sehr gut zusammen und haben auch den typischen Marvel-Stil, den man in modernen Comics des Verlages immer wieder sieht. Die Kolorierung ist knallbunt, was aber für gute Kontraste sorgt. Über den Zeichenstil als Ganzes kann man nicht meckern. Hier sind Profis am Werk bei denen nichts falsch läuft.

Erscheinungsbild

Der Band erscheint in einem kostengünstigen Paperback mit dem dünnen Papier, das wir bereits aus den War of the Realms-Extra-Bänden kennen. Das ist vollkommen ausreichend, macht aber auch nicht so viel her. Dadurch, dass er Comic teilweise von Eigenwerbung unterbrochen ist, entsteht insgesamt eher das Gefühl eines Magazins als eines Luxusprodukts, wie es Comics für viele inzwischen geworden ist.

Positiv anzumerken sind die Interviews mit den Machern am Ende, sowie das Editorial von Panini Comics. Abgerundet wird der Band mit Konzeptzeichnungen der neuen Figuren von R. B. Silva.

Zum Hineinschnuppern in die Welt der Mutanten ist dieser Comic bestens geeignet. Als Sammler hätte ich gerne am Ende einen Sammelband, der auf vier Bände ausgelegten Reihe im Hardcover ohne Werbung und dickerem Papier. Man darf ja noch träumen dürfen.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Panini Comics
  • Autor: Jonathan Hickman
  • Zeichner: Pepe Larraz, R. B. Silva
  • Erscheinungsjahr: 2020
  • Sprache: Deutsch
  • Format: Softcover
  • Seitenanzahl: 108
  • Preis: 10,99 EUR
  • Bezugsquelle: Amazon, Panini-Comics, Idealo

 

Fazit

Ich war sehr skeptisch. Auch weil ich bisher kein großer Fan von Jonathan Hickman war. Doch dies ist nun sein bestes Werk. Seine Art, diese komplexe Erzählung zu präsentieren, hat mich direkt in den Bann gezogen. Ich will wissen, was er mit der Reihe vorhat. Viele Details stehen bisher noch lose im Raum, laden aber dazu ein, im Band herumzublättern und sich mit den Inhalten auseinanderzusetzen. Ich möchte das Alphabet entziffern und die Zusammenhänge zwischen den Handlungsebenen verstehen. Dass das Grundthema der X-Men geändert wurde, finde ich schade, aber für eine gute Geschichte kann ich das verkraften. Es geht immer noch um Unterdrückung und Ausgrenzung, der Fokus liegt aber ganz klar auf dem Konflikt zwischen Mutanten und Cyborgs/Robotern. Hickman macht daraus einen Kampf um die Zukunft. Wird die Spezies, welche die Menschen ablöst, eine natürliche Entwicklung (Mutanten) oder eine künstliche Konstruktion (Cyborgs)? Wer mit diesem Leitthema grundsätzlich etwas anfangen kann, sollte hier auf jeden Fall reinschauen. Die Chancen, einen zukünftigen Klassiker zu haben, stehen sehr gut. Seit Grant Morrison hat kein Autor die Mutanten mehr so grundlegend umgekrempelt.

 

Artikelbilder: © Panini Comics, Bearbeitung: Melanie Maria Mazur

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