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Ein schier aussichtsloser Kampf gegen Korruption, Drogensucht und die Zeit – das erwartet Spielbuch-Fans in Somorra. Die titelgebende Stadt ist ein Sündenpfuhl voller unappetitlicher Geheimnisse und wer diese ergründen will, muss mitdenken. Das jüngste Werk von Christian und Florian Sußner ist ein anspruchsvolles Spielbuch für Erwachsene.

Die Sußner-Brüder führen Spielende in ihrem Spielbuch Somorra in eine Stadt, die von Korruption und Drogenhandel beherrscht wird. Eine Unschuldige muss ihren Verfolger*innen entkommen und deren Machenschaften aufdecken, wenn sie überleben will. Was uns wohl in diesem Sündenpfuhl erwartet?

Die Handlung

Eine junge Polizistin in der Stadt Somorra wird unschuldig angeklagt, Bestechungsgeld angenommen zu haben, und von ihrem korrupten Polizeichef um einen „Gefallen“ gebeten, der den Vorwurf verschwinden lassen soll. Sie hat kaum eine Wahl, doch weder die Protagonistin noch die Spielenden haben irgendeine Illusion darüber, dass dies nur noch tiefer in den Sumpf führen kann. In den folgenden Abschnitten wird sie von der Droge Somorin – einer Art Super-Heroin – anhängig gemacht und muss sich vor Gangsterbossen, korrupten Kollegen und vor allem der eigenen Sucht retten. Das kann sie nur erreichen, wenn sie ihre Unschuld beweist und die Verantwortlichen zur Strecke bringt.

Die Illustrationen im Buch sind von Helge Balzer und Hauke Kock. © Mantikore Verlag

Das Buch gliedert sich in drei Abschnitte, die sich grob an den Ablauf der Zeit halten, denn die Heldin muss die wahren Hintergründe der Anklage gegen sie binnen eines Tages aufklären – ansonsten wird man sie finden. Ihre Suche nach Antworten führt sie in die Unterwelt der „Chinatown“ Somorras, in das Justizviertel, in dem sogenannte „Schnellgerichte“ Hof halten, und in die Altstadt. Sie kann im Polizeirevier, im Casino und an etlichen anderen Orten Hinweise sammeln, sich in den gewundenen Gassen verlaufen oder sogar im Irrenhaus landen. Nichts davon ist jedoch bei einem Mal Durchspielen sicher. Die Handlungsstränge, denen man im Spiel folgen kann, sind vielfältig genug, dass man in einem erneuten Versuch ganz andere Seiten Somorras entdecken kann.

Es gibt dabei etliche Möglichkeiten, zu scheitern und ein vorzeitiges Ende zu finden. Doch wer anspruchsvolle Spielbücher mag, ist hier an der richtigen Adresse. Die verschiedenen Handlungsstränge sind intelligent miteinander verknüpft und bauen gut aufeinander auf. Nur selten entstehen kleinere Anschlussfehler, die aber nicht weiter ins Gewicht fallen.

Die Handlung besitzt zwei Ebenen: eine in der realen Welt und eine in den Halluzinationen der Sucht. In der realen Welt muss die Protagonistin vor allem entscheiden, wem sie traut, wo sie nach Hinweisen sucht und wie sie mit ihrer Zeit umgeht. Auf der anderen Ebene durchquert sie eine alptraumhafte Fantasiewelt, in der die Spielenden eine Anzahl an Logik-, Zahlen-, Buchstaben- und Erinnerungsrätsel lösen müssen, um dem Verlangen nach der Droge zu entkommen. Die beiden Ebenen sind scheinbar unabhängig und doch miteinander verknüpft, was aber erst im Laufe des Spiels deutlich wird. Alles in allem ist die Handlung gut durchdacht.

Am Ende können die Spielenden und die Protagonistin sogar das wohlgehütete Geheimnis von Somorra lüften. Es kommt natürlich darauf an, ob man im Verlauf der Story die richtigen Hinweise gesammelt, die richtigen Kontakte geknüpft und die richtigen Schlüsse gezogen hat. In der Vielzahl der möglichen Wege kann es allerdings passieren, dass man am Ende anlangt und dennoch scheitert – weil man etliche Kapitel zuvor einen einzigen kleinen Fehler gemacht hat, der erst jetzt auffällt. Das ist frustrierend, aber ein Anlass, bei Gelegenheit noch einmal von vorne zu beginnen. Das Spielbuch hat genügend Optionen, um auch beim zweiten Mal spannend zu sein.

Regeln

Der Abenteuerbogen von Somorra. © Mantikore Verlag

Somorra funktioniert nach den üblichen Spielbuch-Regeln: Entscheidungen führen zu verschiedenen Abschnitten, an denen man weiterliest. Die Abschnitte sind deutlich gekennzeichnet und fast alles, was man wissen muss, steht im Text. Es gibt keinen Charakterbogen für die Hauptperson nur einen Steckbrief mit einer Hintergrundgeschichte. Dafür gibt es aber im Anhang einen Abenteuerbogen, in den Spielende sich neben vorgegebenen Codewörtern Abschnittszahlen eintragen können, wenn sich durch bestimmte Handlungen eine Konsequenz in der Zukunft ändern könnte. Der Bogen befindet sich am Ende des Buches, kann aber auch über die Internetseite der Autoren heruntergeladen und ausgedruckt werden.

Schreibstil

Schon der Name Somorra gibt einen Hinweis auf den grundsätzlichen Ton des Buches. Der Name des Schauplatzes ist ein Kofferwort aus den Namen der biblischen Städte Sodom und Gomorra – passend dazu fließt durch die Doppelstadt der Fluss Lot. Die Autoren lassen in ihren Beschreibungen der Stadt und der Handlung keinen Zweifel: Hier handelt es sich um ein Spielbuch für Erwachsene. Das Setting ist düster, die Chancen der Protagonistin, lebend und ohne dauerhaften psychischen Schaden aus ihrer miesen Situation herauszukommen, stehen sehr, sehr schlecht. Vieles über die Geschichte und die Geheimnisse Somorras bleiben absichtlich im Dunklen, doch können Spielende das eine oder andere im Laufe des Spiels herausfinden – manches mag sogar das Überleben sichern. Klar ist nur: Wer hier irgendetwas zu sagen haben will, muss mit beiden Händen im Dreck wühlen. Die Stadt ist fest im Griff des organisierten Verbrechens, das einen regen Handel mit der Droge Somorin betreibt, und eines durch und durch korrupten Justiz- und Polizeiapparates, der daran kräftig mitverdient.

Die namenlose Heldin ist eine der wenigen noch verbliebenen „anständigen Bullen“ und die Wetten stehen entsprechend gegen sie. Dass dabei aber stets eine mehr oder weniger implizite Vergewaltigungsdrohung über der – jungen, weiblichen – Hauptperson schwebt, lässt die bis dahin angenehm düstere Atmosphäre ins Geschmacklose kippen. Man kommt kaum umhin, sich zu fragen, ob die beiden männlichen Autoren etwa nur deswegen eine weibliche Protagonistin gewählt haben, damit ihr immer wieder schmierige Typen an die Wäsche wollen, sie bedrängen, begrabschen oder in das Dilemma bringen, einen dringend benötigten Gefallen entweder auszuschlagen oder mit Sex zu bezahlen. Andere weibliche Charaktere kommen im Buch, zumindest den Teilen, die ich durchgespielt habe, so gut wie nicht vor (wie man an den ausschließlich männlichen Kollegen sieht), stattdessen aber etliche Bemerkungen darüber, womit „hübsche Mädchen wie du [die Protagonistin] im Hafenviertel Geld verdienen“ könnten.

Eine tiefe Charakterisierung der weiteren Personen in der Geschichte ist in diesem Format kaum zu erwarten, aber selbst dafür sind die Nebencharaktere ziemlich stereotyp: böse Drogendealer, korrupte Bullen, fiese Kleinganoven und dazwischen vielleicht ein anständiger Kerl. Immerhin hilft diese plakative Darstellung in dem anspruchsvollen Spielbuch bei der Entscheidungsfindung. Das Motto ist: Du kannst (fast) niemandem trauen. So bleiben die Spielenden wachsam.

Erscheinungsbild

Das Coverbild gibt einen Eindruck, was die Lesenden erwartet. © Mantikore Verlag

Düster und blutig, das ist Somorra – und das zeigt auch das Coverbild von Rossitza Atanassova, das in schwarz-weiß mit roten Highlights gehalten ist. Es scheint die Traumebene mit der realen Ebene der Geschichte zu verweben, was ziemlich gut zum grundsätzlichen Gefühl des Buches passt. Die Illustrationen im Buch sind von Helge Balzer und Hauke Kock. Sie zeigen Szenen aus den Straßen Somorras, aber öfter noch, aus den alptraumhaften Gefilden, in denen sich die Heldin bewegt, wenn die Krallen der Sucht nach ihr greifen. Im Allgemeinen widersteht das Taschenbuch recht gut dem ständigen Blättern, das die Benutzung eines Spielbuches mit sich bringt, fängt aber bald an, sich „aufzurollen“. Die Druckqualität ist allerdings gut; verschmierende Tinte ist auch bei fleißigem Blättern kein Problem.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Mantikore Verlag
  • Autor*in(nen): Christian & Florian Sußner
  • Illustrationen: Helge Balzer, Hauke Kock, Rossitza Atanassova
  • Erscheinungsdatum: 2019
  • Sprache: Deutsch
  • Format: Taschenbuch
  • Seitenanzahl: 430
  • ISBN: 978-3-96188-089-8
  • Preis: 14,95 EUR
  • Bezugsquelle: Fachhandel, Amazon, idealo

 

Bonus/Downloadcontent

Die Errata gibt es zum Download. © Mantikore Verlag

Die Brüder Christian und Florian Sußner haben bereits mehrfach zusammen veröffentlicht und Somorra ist ihr viertes Spielbuch im Mantikore Verlag. Auf ihrer Homepage kann man Abenteuerbögen und Errata für die verschiedenen Werke herunterladen.

Fazit

Das vierte Spielbuch der Sußner-Brüder im Mantikore Verlag ist düster im Ton und intelligent im Aufbau. Die unschuldig angeklagte Polizistin, in deren Rolle Spielende schlüpfen, muss stets auf der Hut sein, um ihren Verfolger*innen zu entkommen. Dabei verbindet das Spielbuch zwei Erzählebenen: die reale Welt und die grausige Traumwelt der Drogensucht. Beide Ebenen sind gut durchdacht und spannend miteinander verwoben. Rätselbegeisterte werden besonders die Traumwelt-Ebene schätzen, in der die Heldin vor der immer stärker werdenden Sucht fliehen muss.

Leider mindert das sich ständig wiederholende Motiv der drohenden (oder potenziell im Drogenrausch stattgefundenen?) sexualisierten Gewalt an der Protagonistin den Spaß am Spiel, da es weniger ein Gefühl der Spannung als mehr des Ekels erzeugt. Das fällt besonders auf, da außer der Heldin kaum weibliche Charaktere vorkommen. Dieses Damoklesschwert wäre bei der ohnehin angemessen finsteren Beschreibung des Schauplatzes und der deutlichen Bedrohungslage nicht notwendig gewesen. Wenn man über diese teilweise gesprengten Grenzen des guten Geschmacks hinwegsehen kann, ist Somorra immer noch ein außergewöhnlich gut durchdachtes und spannendes Spielbuch mit vielen möglichen Handlungssträngen.

  • Anspruchsvoll und gut durchdacht
  • Düstere Atmosphäre
  • Zwei „Spielebenen“
 

  • Motiv der sexualisierten Gewalt

Artikelbilder: © Mantikore Verlag
Layout und Satz: Melanie Maria Mazur
Lektorat: Alexa Kasparek
Dieses Produkt wurde kostenlos zur Verfügung gestellt.

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