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Klassischer Cyberpunk, individuelles Setting und offene Missionsabläufe, das verspricht Der Sprawl. Ist das die neue Alternative zu den Platzhirschen des Genres? Das Crowdfunding vom Uhrwerk Verlag und Pro Indie läuft noch bis zum 16. November 2017, und wir haben uns mit Carsten Damm getroffen, um ihn vorher noch zu löchern.

Jetzt erst mal ganz ruhig durchatmen. Blitzblank polierte Cyberware oder Augmentierungen und punkige Antihelden, die im Schatten gegen die alles beherrschenden Konzerne vorgehen, haben wir schon mal gesehen. Menschen, die abhängig von der Technik sind, die immer größer werdende Spanne zwischen Arm und Reich und die alles vernetzende Matrix sind uns nicht unvertraut. Doch trotzdem kommt ein neues, vielversprechendes Regelwerk ins Crowdfunding, benannt nach William Gibsons genreprägender Trilogie. Das Thema ist aktueller denn je! Carsten Damm von Pro Indie hat sich mit uns unterhalten und erläutert im Interview, warum Der Sprawl ganz unbedingt in eure Rollenspielsammlung gehört.

Interview

Über die Idee

Teilzeithelden: Hallo Carsten, vielen Dank, dass du dir Zeit für das Interview nimmst. In Der Sprawl wollt ihr den 80er-Jahre-Cyberpunk zurückbringen, das heißt eine dystopische Zukunft, Konzerne und Subkulturen. Wie wird dieses Konzept umgesetzt, und was ist anders als z. B. bei Cyberpunk 2020 oder dem Cyberpunk-/Fantasy-Zwitter Shadowrun?

Eine Reporterin in Sprawl

Carsten: Das kommt jetzt vielleicht etwas überraschend, aber es gibt keine feste Settingbeschreibung. Die tatsächliche Spielwelt wird gemeinsam am Spieltisch entwickelt und ergibt sich aus den verschiedenen Definitionen, die das Genre für die Spieler ausmachen. Dabei werden Fragen zum Setting gestellt und gemeinsam beantwortet. Die Spieler entwerfen neben ihren Charakteren auch eine Reihe von Konzernen und einen Hintergrund, der alles miteinander vernetzt. Kontakte, Bedrohungen, Beziehungen, all das bietet den Nährboden für die späteren Missionen. Das hört sich erst mal nach viel Arbeit an, ist es aber tatsächlich nicht. Im Gegenteil, es ist kreativ und macht Spaß, weil jeder etwas ins Spiel einbringen kann!

Teilzeithelden: Warum dann der Bezug auf den 80er-Jahre-Cyberpunk?

Carsten: Das ergibt sich tatsächlich aus den Regeln und den darin enthaltenen Beispielen. Die Regeln unterstützen die Visionen der Cyberpunk-Literatur aus den 80ern am besten und vermitteln ein entsprechendes Spielgefühl. Das Buch enthält ein ganzes Kapitel darüber, wie man den Sprawl an andere Cyberpunk-Settings anpassen kann. Es gibt einen ganzen Haufen moderner Cyberpunk-Romane. Das kann man nutzen und jede Welt in diesem Genre bespielen, natürlich auch das Setting von Cyberpunk 2020 oder Shadowrun. Für letzteres gibt es schon passende Charakterbücher als Fanwork im Internet.

Teilzeithelden: Du sagst, der Spielleiter entwickelt die Welt zu Beginn einer Runde mit den Spielern bis zu einem gewissen Grad zusammen. Wie lange dauert das, und wie viel Vorwissen ist dafür nötig? Müssen alle Spieler das Grundregelwerk komplett gelesen haben, ehe es losgehen kann, oder gibt es eine Art kurzen Leitfaden dafür?

Carsten: Nein, dafür wird kein Vorwissen benötigt und auch keine Regelkenntnis. Alles, was man benötigt, ist ein Interesse am Genre Cyberpunk. Die gemeinsame Entwicklung der Spielwelt, oder besser gesagt der Bühne, denn die Spielwelt entwickelt sich während der Missionen laufend weiter und gewinnt an Tiefe, ist auf einen kurzen Spielabend ausgelegt. Dabei findet auch die Charaktererschaffung statt.

Über die Umsetzung

Teilzeithelden: Wie genau gestaltet sich der Einstieg ins Spiel?

Carsten Damm, Jahrgang ´74, ist Spieleentwickler, Autor, Übersetzer und Verleger diverser Pen-&-Paper-Rollenspiele. Darunter sind Earthdawn, Equinox, Fiasko oder Itras By unter den Labels Pro Indie und Vagrant Workshop. Er lebt mit seiner Frau und einem Haufen vorlauter Kinder in Köln.
Carsten Damm, Jahrgang ´74, ist Spieleentwickler, Autor, Übersetzer und Verleger diverser Pen-&-Paper-Rollenspiele. Darunter sind Earthdawn, Equinox, Fiasko oder Itras By unter den Labels Pro Indie und Vagrant Workshop. Er lebt mit seiner Frau und einem Haufen vorlauter Kinder in Köln.

Carsten: Am Anfang stellen sich Spieler und Spielleiter gegenseitig Fragen, um ein gemeinsames Verständnis dafür zu entwickeln, was Cyberpunk für jeden Einzelnen bedeutet. Verschiedene Spielgruppen haben andere Ansprüche an das Spiel und bringen mit ihren Vorstellungen andere Fragen in die Runde. Einige dieser Fragen sind allerdings immer ähnlich: In welcher Zeit wird gespielt? Welcher technologische Stand herrscht vor? Welche gesellschaftlichen und technologischen Aspekte des Cyberpunk interessieren euch? Welcher urbane Sprawl soll im Zentrum der Erzählung stehen? Welche sind die wichtigsten Bereiche der Stadt? Das zieht sich immer so weiter und endet bei den Charakteren und ihren Verbindungen untereinander. All diese Fragen werden natürlich nicht auf einmal gestellt, sondern begleiten die Erschaffung der Konzerne und der Charaktere. Die Reihenfolge ist beinahe beliebig und erfolgt über die ganze Sitzung verteilt, so wie es am besten passt.

Teilzeithelden: Wenn eine Gruppe sich auf eine Beschreibung des Settings geeinigt hat, wie geht es dann weiter?

Carsten: Eine Mission im Sprawl besteht aus vier Phasen, die nacheinander durchlaufen werden. Jede Phase beeinflusst dabei das weitere Spielgeschehen. Zuerst nehmen die Spieler den Auftrag an. Dabei erhalten sie eventuell Informationen und Ausrüstung und verhandeln über die Bezahlung. Danach erledigen sie ihre Beinarbeit, das heißt, sie befragen ihre Kontakte und erspielen sich Informations- und Ausrüstungspunkte. Wenn sie sich grundlegend geeinigt haben, wie sie vorgehen wollen, geht der Spaß los, und die Mission wird durchgeführt. Gleichzeitig laufen aber Countdowns, durch die die Spieler in Schwierigkeiten geraten können. Am Ende streichen sie noch die Bezahlung ein.

Teilzeithelden: Wie genau funktioniert das mit den erarbeiteten Punkten?

Carsten: Das Spielgeschehen lässt keine endlosen Planungsdiskussionen zu, welche so ziemlich alle bisherigen Cyberpunk-Rollenspiele plagen. Natürlich wird vor einer Mission geplant und die nötige Beinarbeit gemacht, aber die Spieler erspielen sich während der Beinarbeit Punkte, die sie im späteren Missionsverlauf für Informationen und Ausrüstung ausgeben können.

Teilzeithelden: Kannst du ein Beispiel nennen?

Carsten: Die Spieler stellen während der Mission beispielsweise fest, dass sie eine Tresortür von ihrem Ziel trennt. Haben sie Informationspunkte zur Verfügung, könnten diese dafür ausgegeben werden, den Zugangscode zu erfahren. Der Kontakt, von dem der Spieler den Punkt hat, hat ihm diesen Code zukommen lassen. Alternativ könnte ein anderer Charakter für einen Ausrüstungspunkt Sprengstoff besorgt haben und diesen jetzt einsetzen, um die Tresortür zu zerstören.

Teilzeithelden: Was hat es mit den Countdowns auf sich?

Carsten: Der Beinarbeitscountdown ist ein Indikator dafür, wie viel Staub die Charaktere aufwirbeln. Die Frage ist: Können ihre Kontakte dichthalten? Hat jemand mitbekommen, dass sie einen Überfall auf die Chemiefabrik planen.

Auch in der Missionsphase läuft ein Countdown, der aussagt, wie gefährdet die Mission ist, und andere, die die Beinarbeits- und Missionsphasen beeinflussen.

Den Auftrag annehmen

In dieser ersten Phase treffen die Spielercharaktere mit ihrem Auftraggeber zusammen und erfahren die Details zur Mission. Die Verhandlung wird gewürfelt, und je nach Ergebnis können die Spieler beeinflussen, wie hoch ihre Entlohnung ist, ob sie brauchbare Informationen und Ausrüstungsgegenstände erhalten und so weiter. An dieser Stelle bringen die Spieler auch einen Einsatz, eine Art Wette darauf, wie die Mission ausgehen wird. Bei Erfolg erhalten sie ein Vielfaches ihres Einsatzes zurück.

Beinarbeit

In dieser Phase werden die nötigen Informationen und notwendige Ausrüstungsgegenstände für die Mission beschafft. Dazu befragen die Spielercharaktere ihre Kontakte und erspielen sich Info- und Ausrüstungs-Punkte, die sie dann später einsetzen können.
Gleichzeitig läuft aber schon der erste Countdown. Je weiter der Beinarbeits-Countdown gesetzt wird, desto mehr erfährt das Ziel über seine potenziellen Gegner. Läuft der Beinarbeits-Countdown voll, weiß das Ziel Bescheid und bereitet sich entsprechend vor. So wird es schwerer für die Spieler, die Mission erfolgreich abzuschließen.

Action!

Die Missionsphase folgt, sobald die Spieler sich über die grobe Vorgehensweise einig sind. Dabei müssen sie nicht jeden Schritt minutiös im Voraus planen, das Spiel sorgt dafür, dass es direkt ans Eingemachte gehen kann. Jeder Fehlschlag in dieser Phase setzt den Action-Countdown weiter und gibt dem Spielleiter die Möglichkeit, den Spielern das Leben schwer zu machen. Der Action-Countdown darf nicht volllaufen! Sobald das geschieht, gewinnt das Ziel die Oberhand und die Mission scheitert. Weitere Countdowns, wie Konzern- und Bedrohungs-Countdowns geben zum Beispiel an, ob die Spieler von ihren Gegnern bzw. den Konzernen wahrgenommen werden. Je weiter eine solcher Countdown gesetzt wird, desto eher geraten die Spieler in Schwierigkeiten.

Bezahlung einstreichen

Die letzte Phase bildet den Abschluss der Mission. Hier streichen die Spieler die Bezahlung ein. Es wird gewürfelt, und der Stand des Beinarbeits-Countdowns beeinflusst das Ergebnis. Die Spieler können auf das Ergebnis Einfluss nehmen, lösen aber meist Konsequenzen für zukünftige Missionen aus. So kann es zum Beispiel sein, dass sie ihre vollständige Bezahlung bekommen, aber aus der Mission nichts gelernt haben und weniger Erfahrungspunkte erhalten. Oder Erfahrungspunkte bekommen, aber in einen Hinterhalt geraten. Ihre Vorgeschichte und der Ablauf

Teilzeithelden: Das klingt alles sehr variabel.

Carsten: Die Spielweise ist sehr offen. Der Spielleiter muss nicht den ganzen Handlungsablauf im Voraus planen. Er legt ein paar Fakten zur Mission fest, und der Rest entwickelt sich dann am Spieltisch. So kann man die gleichen Missionen öfter spielen, und es kommt immer wieder eine andere Geschichte dabei heraus. Für den Spielleiter ist das wunderbar, denn er braucht so nicht wirklich viel Vorbereitungszeit, kann das Abenteuer selbst miterleben und sich überraschen lassen.

Teilzeithelden: Der Sprawl basiert auf dem Regelwerk Apocalypse World von Vincent Baker. Vielleicht kennen einige das System von anderen Publikationen wie zum Beispiel Dungeon World. Kannst du für die Leser umreißen, was das System ausmacht und warum es sich für das Projekt besonders eignet?

Der Mittler

Carsten: „Powered by the Apocalypse“ (kurz: PbtA, Anm. d. Red.) ist ein Hinweis, dass dem Spiel das gleiche Designkonzept zugrunde liegt. Apocalypse World und andere PbtA-Spiele sind etwas unabhängiger, als man es von anderen Systemen wie z. B. World of Darkness oder Star Wars gewohnt ist. Eine direkte Kompatibilität besteht nicht, aber es gibt starke Ähnlichkeiten.

Das Schöne am PbtA-Konzept ist, dass es relativ einfach ist, mit den Regeln ein bestimmtes Spielgefühl einzufangen. Da es im Kern ein Erzählspiel ist, liegt der Fokus immer auf der Geschichte und den Charakteren darin. Die Regeln erlauben nicht nur ein hohes Maß an erzählerischer Freiheit, sie unterstützen diese auch. Für Der Sprawl sind diese auf das Cyberpunk-Genre zugeschnitten worden.

Teilzeithelden: Welches Spielgefühl ist das bei Der Sprawl?

Carsten: Cyberpunk bedeutet Dystopie, eine kaputte Gesellschaft, die sich von innen heraus selbst zerstört. In dystopischen Geschichten stehen die Abhängigkeiten der Protagonisten immer stark im Vordergrund. Klar, die Charaktere sind Wegwerfware, werden von den Großkonzernen ausgenutzt und haben oft keine hohe Lebenserwartung. Doch der Kontext, in dem sie sich bewegen, ist immens wichtig. Ihr Leben ist kompliziert und wird nicht einfacher. Der Sprawl setzt einen starken Fokus auf eben diesen Kontext, und die Regeln sorgen aktiv dafür, dass sich die Charaktere immer tiefer in die Welt verstricken. Die Missionen an sich sind dabei aber nur Mittel zum Zweck. Am Ende des Tages sind es nur Jobs. Doch diese Jobs haben Auswirkungen auf die Charaktere, ihre Kontakte und ihre Umgebung. Das Korsett, in das Der Sprawl die Missionsabläufe zwängt, ergibt einen Sinn, und der besteht genau darin, diese Auswirkungen ins Spiel zu bringen und dem Ganzen mehr Tiefe zu verleihen.

Teilzeithelden: Kommen wir zur Gestaltung. Ist das Artwork im Buch mit dem Cover vergleichbar?

Carsten: In der englischen Version ist so gut wie kein Artwork enthalten, daher mussten wir uns für dieses Buch etwas einfallen lassen. Jedes Kapitel hat eine ganzseitige Illustration bekommen, die vom Stil her mit der des Covers vergleichbar und ebenfalls in Farbe ist. Der Künstler ist David M. Wright, mit dem wir schon seit Jahren zusammenarbeiten.

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Über die Zukunft

Teilzeithelden: Nach dem Grundregelwerk, was für Veröffentlichungen kommen dann?

Carsten: Sollte der Spielleiterschirm freigeschaltet werden, wird darin die Beispielmission Downtown Data Heist als Heftbeilage enthalten sein. Geplant ist in jedem Fall die Übersetzung von Touched, einem eigenen Cyberpunk-Fantasy-Setting, und des Missionsbuches. Beide sind aber auch im Englischen noch in der Entwicklung, daher kann ich da noch nicht konkreter werden.

Teilzeithelden: Was würdest du jemandem sagen, der unentschlossen ist, ob er in den Kickstarter investieren soll?

Carsten: Jeder, der in den Kickstarter investiert, trägt maßgeblich dazu bei, dieses kleine Indie-Spiel einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Die Zusammenarbeit mit dem Uhrwerk Verlag ist nur ein erster Schritt, der zweite hängt vollständig vom Ergebnis des Crowdfundings ab. Als Unterstützer hat man ein paar Vorteile: Das PDF, das nach der Veröffentlichung nur noch separat erhältlich sein wird, gibt es zum gedruckten Buch dazu. Außerdem bekommen Backer gedruckte und farbig gestaltete Charakterbücher obendrauf. Ein paar Stretchgoals sind momentan auch noch drin; je mehr davon fallen, desto mehr haben alle Unterstützer davon. Ein limitiertes Regelwerk gibt es natürlich auch nur hier. Schaut auf jeden Fall mal rein!

Teilzeithelden: Vielen Dank, Carsten, für das Interview und viel Erfolg!

Artikelbilder: Pro Indie / Vagrant Workshop

 

2 Kommentare

  1. Ein neues Cyberpunkspiel wäre schön. Was mir jedoch nicht so gefällt ist das es wieder so ein Shadowrun-Clone ist. Eine „Abenteuergruppe“ wird von einem Auftraggeber angeheuert in eine Forschungsanlage/Arcology/whatever einzubrechen und muss vorher „Beinarbeit“ machen.

    Das hatten wir schon bei Shadowrun/CP2020/Cyberspace usw 100 mal. Warum nicht mal andere Konzepte? Gerade Cyberpunk gibt doch so viel mehr Inspirationen.
    Die Spieler könnten Replikanten/KIs auf der Flucht sein a la Bladerunner/Bubblegum Crisis oder Cyborgpolizisten wie in Robocop/Ghost in the Shell oder warum nicht Konzernmitarbeiter die Karriere machen wollen?

    Wenn es mal solche Kampagnen gibt wäre der Sprawl für mich interessant ;.)

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