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Baldur‘s Gate startete vor 19 Jahren die Karriere vieler junger Rollenspieler. Die Enhanced Edition der Computer-Spielereihe lädt dazu ein, die gefährliche Schwertküste neu zu entdecken und alte Abenteuer neu zu erleben. Kommt dabei Rollenspielgeist auf? Mit Sicherheit! Und das können wir für unser Tischrollenspiel von dieser Perle lernen.

Im Jahr 1998 erschien das erste Computerspiel einer Rollenspielreihe, deren Einfluss bis heute noch nachhallt: Baldur’s Gate. Es setzte das beliebte Regelwerk von Dungeons & Dragons auf den PC um und war für viele Gamer der erste Kontakt mit der Spielwelt von Toril und dem Kontinent Faerun – und einer epischen Story, die einer langjährigen Rollenspielkampagne entsprach.

Auch heute noch bietet das Rollenspiel grandiose Unterhaltung fernab von „sammle 5 Wolfspelze“ oder „klicke hier für deine Lootbox des Tages.“ Besser noch: Für Spielleiter bietet das Meisterwerk von Chris Avellone und den legendären Black Isle Studios eine Fundgrube von wertvollen Lektionen für den eigenen Spielabend – ob auf Toril oder sonst wo im Multiversum.

Ich selbst wäre ohne Baldur’s Gate mit Sicherheit ein schlechterer Dungeonmaster. Deshalb habe ich mich 19 Jahre nach Erscheinen des ersten Spiels mit der Enhanced Edition erneut an die Schwertküste in die Rolle des Helden begeben. Diese 5 Dinge habe ich dieses Mal gelernt.

Sei, wer du willst

Der Spieler erstellt den Hauptcharakter in Baldur’s Gate selbst, seine Startgeschichte ist aber vorgegeben. Er ist der Ziehsohn des Magiers Gorion, aufgewachsen in einer Klosterburg. Dazu ein göttliches Erbe, über das er im Spielverlauf immer mehr erfährt. Der Rest liegt beim Spieler. Baldur’s Gate lässt sich mit einem rechtschaffen guten Paladin-Inquisitor genauso spielen, wie mit einem chaotisch Bösen Tiefling-Dieb – inklusive passender Antworten für alle NSC.

Damit bedient Baldur’s Gate eine klassische Tugend im Rollenspiel: Sei wer du willst! Über NSC wie die eigene Schwester Imoen oder den Bösewicht Sarevok hält das Spiel den Spieler dabei auf der narrativen Bahn. Und wenn der doch lieber eine friedliche Reisegruppe bedroht oder einen Tempel ausplündert – dann ist das eben so.

Übertragen aufs Tischrollenspiel erfordert diese Offenheit gegenüber Charakterkonzepten natürlich mehr Anstrengung vom Spielleiter – und das Vertrauen in die Gruppe, trotzdem irgendwie dem Plot zu folgen. Doch es lohnt sich! Denn es ist eben diese Freiheit im Spiel, die eine Faszination von Rollenspiel ausmacht. Ich jedenfalls werde bei den nächsten Charakterbögen ein Auge mehr zudrücken und schauen, wo es uns im Spiel hinbringt.

Es geht doch nichts über ein ordentliches Questlog! Baldur’s Gate fängt hier den Charme eines Rollenspielromans ein.
Es geht doch nichts über ein ordentliches Questlog! Baldur’s Gate fängt hier den Charme eines Rollenspielromans ein.

 

Überall gibt’s etwas zu tun

Kaum hat der Protagonist die Klosterburg verlassen, werden er und seine Begleiter schon von Quests erschlagen. Spätestens in der Stadt von Baldur’s Gate (oder der Stadt Amn des 2. Teils) angekommen, ist das eigene Tagebuch prall gefüllt. Und das ist gut so! Denn jede Quest ist ein Spielangebot. Soll man mit dem Inquisitor Keldorn dem geheimnisvollen Kult der Augenlosen nachgehen? Oder sich doch lieber in ein Diebeshauptquartier einschleichen, um die Schulden des Kopfgeldjägers Yoshino abzutragen? Oder doch lieber dem Hilferuf des Druiden Caern in die Stadt Handelstreff folgen?

Der Spieler entscheidet. Und er kann sich auch entscheiden, einige NSC und Plots links liegen zu lassen. Dabei koppelt vor allem Baldur’s Gate 2 sehr geschickt die Nebenquests mit der Hauptquest: Denn die Gruppe kommt in Teil 2 nur dann weiter, wenn sie Geld auftreibt. Wie, ist dabei nicht vorgegeben, und überall winkt der Verdienst. Gegenüber den teilweise raffinierten Aufgaben wirkt die Haupthandlung manchmal blass und generisch.

Aufs Tischrollenspiel übertragen: Auch ein Bündel an Nebenquests kann Spaß machen. Sie sind keine Zeitverschwendung, sondern kurzweilige Unterhaltung und für Spielleiter eine wertvolle Abfragemöglichkeit. Die Spieler können dabei über ihr Interesse selbst signalisieren, was ihnen Spaß macht und was nicht. Und im Tischrollenspiel bietet sich dadurch eine neue Möglichkeit, den Hauptplot durch das Feedback dynamisch anzupassen. Erledigt eine Spielergruppe etwa brav alle Diebes-Abenteuer und lassen die Paladin-Plots links liegen? Dann hat das Finale wohl besser etwas mit Dieben zu tun.

Charaktere in Baldur’s Gate sind mehr als nur Werte und Waffen. Sie haben Beziehungen, Ängste und vor allem eigene Ideale und Aufgaben. Das macht sie so menschlich.
Charaktere in Baldur’s Gate sind mehr als nur Werte und Waffen. Sie haben Beziehungen, Ängste und vor allem eigene Ideale und Aufgaben. Das macht sie so menschlich.

Schillernde Charaktere

Das Geniale an Baldur’s-Gate-Quests ist, dass sehr viele an interessante Charaktere gekoppelt sind. Sie demonstrieren über ihre Aufgaben auch immer einen Teil ihrer Persönlichkeit. So will der wirre Waldläufer Minsk etwa „seine Hexe“ befreien, in die er unsterblich verliebt ist. Und der grummelige Zwergen-Schatzräuber Korgan sucht nach einem alten Buch und geht dafür auch über Leichen seiner früheren Begleiter.

Das Beste daran: Die Aufgabensteller begleiten die Gruppe und helfen beim Erledigen ihrer Questen. Das wirkt realistisch und bietet einen weiteren Vorteil für Spieler: Gefällt einer dieser Charaktere, kann er der Gruppe beitreten und zu einem regelmäßigen Gefährten werden!

Auf das Tischrollenspiel übertragen bedeutet das: Aufgaben werden durch interessante Charaktere erst richtig spannend. Und wenn Spieler die Erwartungshaltung haben, diese auch über das Ende der Questreihe behalten zu können (zum Beispiel als Kontakt), gehen sie sogar gerne die Extrameile und überstehen auch teilweise frustrierende Passagen. Ich feile demnächst lieber länger an NSC statt am Hauptplot.

Intertextualität gefällig? Gegenstände wie Ravels Pandämoniumsharve verbinden Baldur’s Gate sogar mit Planescape: Torment, einem anderen preisgekrönten Rollenspiel-Klassiker.
Intertextualität gefällig? Gegenstände wie Ravels Pandämoniumsharve verbinden Baldur’s Gate sogar mit Planescape: Torment, einem anderen preisgekrönten Rollenspiel-Klassiker.

 

Beute, die ihren Namen verdient

Überall in allen Teilen von Baldur’s Gate wartet Beute auf die Heldengruppe. Doch dabei gibt es nicht nur Gold und Erfahrungspunkte, sondern überraschend viele Gegenstände mit einer eigenen Geschichte. So führt etwa der Laden Abenteurers Allerlei den Schild des legendären Stadtgründers Balduran – zu einem unverschämt hohen Preis, versteht sich. Und dieser Schild hat es in sich: Er reflektiert die Angriffe der gefährlichen Betrachter auf diese zurück!

Mehr Beispiele gefällig? Das Schwert Namarra hat eine lange Geschichte an der Schwertküste und legt Feinde in Stille, was besonders effektiv gegen Zauberer ist. Der Gürtel der Zähigkeit erhöht nicht nur die Konstitution, sondern soll angeblich das Leben des legendären Königs Violos verlängert haben. Baldur’s Gate verbindet hier einzigartige Effekte mit einzigartigen Geschichten und lässt Beute damit epischer wirken, als ein blasser Zweihänder +4.

Auch im Tischrollenspiel lassen sich solche Gegenstände leicht einbauen und damit das Gefühl verleihen, ein echtes Artefakt in Händen zu halten. Das geht auch, ohne direkt die Stärke der Spielercharaktere dauerhaft zu erhöhen: etwa durch begrenzte Aufladungen. Eines ist klar, Baldur’s Gate hat mir damit gezeigt, wie Beute richtig Spaß macht.

Kaum ein Kampf in Baldur’s Gate ist nur für den Kampf und die Action da. Viele erzählen etwas über Gegenspieler oder die Probleme einer Region oder führen neue Charaktere oder Fraktionen ein.
Kaum ein Kampf in Baldur’s Gate ist nur für den Kampf und die Action da. Viele erzählen etwas über Gegenspieler oder die Probleme einer Region oder führen neue Charaktere oder Fraktionen ein.

 

Drama & Blut, richtig gemacht

Die Spielwelt an der Schwertküste ist kein Ponyhof – und Baldur’s Gate wird nicht müde, das zu betonen. Das können etwa Leichen von Wanderern sein, die erschlagen in Dungeons liegen. Oder aber der Tod eines vertrauten Charakters aus Teil 1 im Folterkeller des Magiers. Oder aber der kalte Verrat eines Gruppenmitglieds, das die ganze Zeit für den Feind gearbeitet hat! Auch Entscheidungen haben Konsequenzen, Charaktere hassen sich untereinander oder verlassen dauerhaft die Gruppe.

Dabei scheut sich Baldur’s Gate auch nicht vor sehr erwachsenen Themen, wie etwa dem Trauma eines Gruppenmitglieds über den Tod des eigenen Gemahls – inklusive Albträume und Selbstzweifel. Oder einen entlaufenden Sklaven, der auf der Straße von Amn um Hilfe bettelt, während seine Verfolger schon nahen. Nein, das macht Baldur’s Gate nicht zu einem zweiten Game of Thrones. Doch es traut den Spielern auch einiges an Blut und menschlichen Grausamkeiten zu. Und diese machen die Welt nicht besser, aber realistischer.

Dieser Punkt hat mich beim erneuten Spielen vielleicht am meisten überrascht. In meiner Erinnerung verklärte sich Baldur’s Gate zu einem angenehmen Abenteuer mit Drachen & Dungeons. Stattdessen wird es nicht müde zu betonen, dass auch klassische Fantasy eben mehr ist als nur Feinde klatschen und plündern. Für meine nächste Rollenspielrunde werde ich das definitiv im Hinterkopf behalten und auch meinen Spielern mehr zutrauen.

Was hast du mitgenommen?

Baldur’s Gate ist für mich wie eine Rollenspiel-Bibel, zu der man immer wieder zurückkehren kann. Über das brilliante Dungeon-Design könnte ich einen eigenen Text schreiben. Wie gut, dass ich das nicht brauche. Denn Extra Credits haben eine eigene Video-Reihe darüber gemacht.

Was sind deine Erfahrungen, die du aus der Schwertküste mitgenommen hast? Oder hast du Baldur’s Gate nicht gespielt? Warum liest du dann diesen Text? Sofort ab nach Faerun! Ich verspreche dir, es lohnt sich – auch für deine Rollenspiel-Runde.

Baldur’s Gate ist aktuell in der Enhanced Edition für moderne PCs, Iphone und Android-Smartphones verfügbar.

Artikelbilder:  BioWare Corp.

14 Kommentare

  1. Schön geschrieben – ich möchte allerdings kurz anmerken, dass Chris Avellone nicht an der Kern-Serie von Baldur‘s Gate mitgearbeitet hat – das Spiel wurde auch nicht von Black Isle entwickelt, sondern von BioWare.

    • Das ist technisch korrekt. Allerdings erledigte Black Isle für Interplay / Bioware damals externe Rollenspiel-Auftragsarbeiten und darunter einen großen Teil von BG1 und BG2. Avellones Anteil an der Gestaltung der Serie ist bis heute umstritten, je nach Perspektive.

  2. Das BG das erste Spiel einer Rollenspiel Reihe stimmt so aber leider nicht, denn es gab bereits 1990 ein Spiel auf den Amiga namens The Eye of Beholder (auch Teil 2), dass EBENFALLS auf DUNGEONS AND DRAGONS basierte. Kurze Zeit später gab es sogar noch eines, namens Dungeon Masters, das das Pendant dazu bilden sollte. Baldurs Gate ist streng genommen sogar lediglich ein Nachfolger von The Eye of Beholder.

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