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Wenn das bekannteste Pen-and-Paper der Welt und der berühmteste Renaissanceschriftsteller Italiens zusammenkommen, dann kann das Ergebnis nur faszinierend sein. Mit The Straight Way Lost begeben wir uns auf Dantes Spuren durch ein mit Fantasy angereichertes Renaissanceitalien. „Lasst jede Hoffnung hinter euch, ihr, die ihr hier eintretet.“

„In the middle of the journey of our life I came to myself within a dark wood where the straight way was lost.“

Dante Alighieri, Divina Commedia, Inferno, Canto I

Rollenspiel ist ein Hobby, in welchem wir uns in jeder denkbaren Rolle, Welt und Situation wiederfinden können. Wir erleben phantastische Abenteuer in ebensolchen spannenden Situationen und können die interessanteste und gefährlichste aller Fragen stellen: „Was wäre, wenn?“. Und eine besondere Würze erhält dieses Spiel, wenn wir uns in den großen Erzählungen der Menschheit wieder finden: Was hättest Du getan?

 

Triggerwarnungen

Religion, Gewalt, Tod

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Die Spielwelt

„Ist es denn wirklich so vermessen, hinter Gottes Pforten blicken zu wollen?“ – Der Ritter, Das Siebente Siegel

Das Jahr 1492: Wir befinden uns an einer Zeitenwende. Gerade ist das Emirat von Cordoba gefallen und die Reconquista somit abgeschlossen. Noch in diesem Jahr wird ein Genuese namens Cristobal Colon seine berühmte Reise nach Westen antreten. Und wir sind in Italien, einem zwischen (zumeist) papsttreuen Guelfen und kaiserlich orientierten Ghibellinen und dutzenden anderen Fraktionen zerrissenem Land. Italien, ein seinesgleichen suchendes Sinnbild für Kunstinnigkeit, Dekadenz und amoralischem Streben nach Macht.

The Straight Way Lost wagt einen Spagat zwischen einem phantastischen Spiel (im besten Sinne des Wortes) und dem historischen Setting der Renaissance. Es handelt sich hier keineswegs um eine historisch akkurate Simulation (wie beispielsweise Recon recht gut das Gefühl des Vietnamkriegs transportiert, oder Private Eye das viktorianische London), sondern verleiht dem Regelsystem von Dungeons & Dragons den Flair, das Gefühl und die Grandezza der Stadt Florenz in der Renaissance. Diese durch Meuchelmord gemilderte Despotie (ein Skaven aus Warhammer wäre stolz auf die Regierungsform dieser Stadtstaaten) wird von den berühmten Medici regiert und von tiefen Grabenkämpfen zwischen den Bürger*innen erschüttert.

Florenz - wunderschön und tödlich
Florenz – wunderschön und tödlich

Von der tatsächlich geschehenen Historie abweichend, enthält The Straight Way Lost eine Welt mit etlichen phantastischen Elementen. Neben der christlichen Mystik hat sich die Welt der Feen und Hexen erhalten. Und so leben neben den Menschen (oder „Umani“) Elfen („Elfi“), Halbelfen („Mezzelfi“) und (Halb-)Zwerge, Tieflinge („Nani i Profondi“), Nephilim (Abkömmlinge zwischen Engeln und Menschen) und etliche andere Spezies der Fantasy mehr oder weniger friedlich miteinander. Klassischerweise haben es Tieflinge wesentlich schwerer, in einer klerikalen Umgebung akzeptiert zu werden, als beispielsweise ein Elf oder Zwerg.

 

Charaktererschaffung

Kleider machen Leute
Kleider machen Leute

Der Charakterbau folgt grundsätzlich den Standardregeln im Player`s Handbook. Man startet das Abenteuer laut Empfehlung auf Level 3 und levelt nach Meilensteinen, also ohne Erfahrungspunkte. Für die Charaktermotivation, die Art der Gruppenzusammengehörigkeit und persönliche Ziele des Charakters gibt es Tabellen, auf denen man würfeln oder sich das Ergebnis aussuchen kann. Anstatt der Ideale und Mängel aus dem Player`s Handbook gibt es eine Liste passender Guter Taten und Dunkler Geheimnisse, welche die Charaktere ins Abenteuer mitbringen. Noch dazu muss (es wird im Abenteuer relevant) jeder Charakter eine glückliche Erinnerung haben, welche der Spielleitung mitgeteilt wird. Schlussendlich gibt es für jeden Charakter den besonderen neuen Wert „Bestürzung“, welcher aussagt, wie schwer ein Charakter von einer furchtbaren Situation emotional betroffen wird.

Neben den bekannten Spezies aus dem Player`s Handbook gibt uns The Straight Way Lost zwei neue Klassen und eine neue Subklasse. Sehr passend zur bespielten Umgebung können die Spieler*innen eine*n Philosophen*in, eine*n Künstler*in oder, als Subklasse der Bard*innen, einen Höfling, beziehungsweise eine Hofdame spielen. Man merkt hier eine Tendenz zu Angehörigen der höheren Gesellschaft.

Philosoph*innen können, ganz ähnlich Bard*innen, mit ihren spitzzüngigen Kommentaren psychischen Schaden bei ihren Feind*innen verursachen. Oder sie können durch eine intelligente Vorbereitung eventuell genau das Ding in ihrem Rucksack haben, das jetzt gut zupasskäme. Möglicherweise sind sie auch immer genau an der richtigen Stelle und deswegen schwerer im Kampf zu treffen (oder auf höheren Leveln einfach gar nicht). Man merkt schon, sie sind eine extrem vielseitige Klasse.

Künstler*innen haben eine etwas eingeschränktere Palette an Fertigkeiten, welche sie lernen können. Sie haben eine ganz besondere Befähigung im Umgang mit ihren Mitwesen (und können so ihre Handlungen vorausahnen und sie dadurch in ihren Aktionen unterstützen oder behindern). Sie sind durch ihre Kunst dazu in der Lage, ihre Umgebung zu verändern – so könnte ein*e Künstler*in in einer Zelle ein Bild dieser Zelle mit offener Türe malen und die Tür dadurch tatsächlich öffnen. Und ja, es gibt ein Talent namens Dorianus Griseius …

Intrigen lauern hinter jeder Ecke
Intrigen lauern hinter jeder Ecke

Höflinge und Hofdamen sind besonders tödlich auf dem diplomatischen Parkett.

Die anderen Klassen bleiben größtenteils unverändert, mit lediglich ein paar kleineren Ergänzungen, um sie besser in dieses Setting einzufügen. Die in diesem Buch hinzugefügten Fertigkeiten umfassen die Artes Liberales und Rechtskunde (Intelligenz), Höfische Manieren und Diplomatie (Charisma) und die Feinen Künste (Geschicklichkeit). Die Kompetenzboni, welche man durch Hintergrund und Klasse erhält, werden ebenfalls an dieses Abenteuer angepasst.

Spielbarkeit aus Spielleitungssicht

Für die Spielleitung bietet sich hier ein unverbrauchtes und faszinierendes Setting, das dennoch nicht allzu weit von dem gewohnten Dungeons & Dragons abweicht. Es ist phantastisch genug, dass man die gewohnten Charakterklassen erwarten kann, hat aber dennoch seine Feinheiten, auf die sich die Spielleitung vorbereiten sollte. Im Vorhinein sollte man sich Gedanken darüber machen, wie intolerant die Gesellschaft auf beispielsweise Tieflingcharaktere oder Held*innen nichtchristlichen Hintergrunds reagieren wird.

Wenn in der Hölle kein Platz mehr ist ...
Wenn in der Hölle kein Platz mehr ist …

Darüber hinaus wird die Spielleitung sicherlich den ein oder anderen historisch verbürgten Charakter auftauchen lassen wollen und daher ein wenig Vorarbeit diesbezüglich investieren. Des Weiteren sind NSCs wie Lorenzo der Prächtige oder Girolamo Savonarola (von den Engeln und Gott mal ganz abgesehen) so schillernd, dass man sich vielleicht nicht zutraut, diese Charaktere darzustellen. Aber nur Mut, es macht definitiv Spaß, in die Hülle einer historischen oder mystischen Gestalt zu schlüpfen.

Einzig, wenn man die Pfade der Göttlichen Komödie zwischen Inferno, Purgatorium und Paradies beschreitet, wird man eventuell Probleme bekommen, die Spieler*innen bei der Stange zu halten und sie nicht einfach einem Themenpark gleich an den Attraktionen vorbeizuführen. Die Kunst liegt hier darin, den Spieler*innen trotz der Umgebung Aufgaben zu geben, die sie lösen können. Bei einzelnen Abschnitten werden der Spielleitung neben der Beschreibung der Umgebung Hinweise zur Hand gegeben, wie man den Spieler*innen Beschäftigung geben kann.

Spielbarkeit aus Spieler*innensicht

Die Spieler*innen dürfen sich auf das Abenteuer eines Lebens einstellen. Wie oft kann man schließlich in derart großen Fußstapfen wie in denen von Dante wandern? Wenn man sich darauf einlassen kann, eine in den Grundzügen bekannte Erzählung zu bespielen, dann ist das Abenteuer sicher eine lohnende Erfahrung für alle Beteiligten.

Der einzig wirkliche Kritikpunkt ist, dass Dungeons & Dragons vielleicht nicht das richtige Regelsystem für dieses Setting ist. Ja, der Hintergrund dieser Welt hat einen hohen Anteil an Fantasy, keine Frage. Aber Dungeons & Dragons ist (gerade auf den mittleren bis höheren Leveln) ein System von Superheld*innen, welche kaum sterben oder schwere Wunden davontragen können. Das ist gut und schön für klassische heroische Abenteuer, aber es stellt sich die Frage, ob die Renaissance wirklich ein passender Ort für diese Art von Held*innen ist. Vermutlich wurde das Regelwerk gewählt, weil jeder Dungeons & Dragons kennt und es sich (selbst erlebt) ganz gut als Kompromisssystem eignet, weil es die meisten auch spielen. Das ist auch prinzipiell in Ordnung, aber ganz ideal fühlt es sich (in der Theorie) nicht an.

Eine Stadt zwischen Dekadenz und religiösem Furor
Eine Stadt zwischen Dekadenz und religiösem Furor

Die Renaissance ist immer noch ein tödlicher Ort, und die allermeisten Kämpfe hier sind einfach nicht zu gewinnen. Sei es, weil die potenziellen Gegner wichtige NSCs sind, die keinesfalls zu früh sterben dürfen, sei es, weil die Dämonen und andere Wesen von Inferno und den anderen mystischen Orten mit den Charakteren kurzen Prozess machen dürften, wenn sie provoziert werden. Held*innen, die sich also vor allem auf Kämpfe freuen, dürften hier nicht allzu glücklich werden. Und gerade in diesem Abenteuer wirkt das klassische Alignmentsystem etwas deplatziert. Eventuell wäre eine graduelle Moralübersicht wie bei Pendragon interessanter gewesen.

Erscheinungsbild

Es ist eine wahre Lust, sich durch das dargebotene Artwork durchzublättern. Der in Aquarelltönen gehaltene Stil der Bilder zieht sich durch das gesamte Buch und wirkt nie unpassend. Ein paar Karten von Florenz und den zu durchquerenden Gebieten geben genug Übersicht, um Spieler*innen wie Spielleitung eine akzeptable Übersicht zu verschaffen, und die Ansichten von Personen und Landschaften vermitteln ein gutes Bild, was gerade geschieht. Das gilt sowohl für die Personen als auch für die unterschiedlichen Landschaften.

Man merkt durchaus, dass die Künstler*innen großen Wert auf die Farbenpracht der Mode der Renaissance gelegt haben. Auch die ärmeren Schichten haben Wert auf ihr Aussehen gelegt, und hier werden NSCs aus allen Ständen gezeigt.

Wie weit wirst du gehen?
Wie weit wirst du gehen?

Herausragend schön sind die verschiedenen Hintergrundfarben der Seiten. Wenn sie von der hellen Lichtstimmung der toskanischen Oberwelt zur Düsternis von Infernus wechselt, weiß man gleich, woran man ist. Einzig bei den Darstellungen des Infernos hätten die Künstler*innen gerne noch ein wenig mehr Richtung Hieronymus Bosch gehen dürfen, aber es wird dennoch genug gezeigt. Man merkt beim Lesen, dass die Künstler*innen mit Liebe bei der Sache waren.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Vortex Verlag GbR
  • Autor*in(nen): Melina Sedó, Andreas Wichter, Benjamin Strack-Zimmermann, Michel Strack-Zimmermann
  • Illustrator*innen: Jana Heidersdorf, Mark Smylie, Gwenevere Singley, Thorsten Janes
  • Erscheinungsjahr: 2023
  • Sprache: Englisch
  • Format: Hardcover, Softcover, PDF
  • Seitenanzahl: 397
  • ISBN: –
  • Preis: 79,00 EUR (Hardcover), 35,00 EUR (PDF)
  • Bezugsquelle: Fachhandel, DriveThruRPG

 

Fazit

Mit The Straight Way Lost geht man keine Kompromisse ein. Die passenden Charaktere und Spieler*innen vorausgesetzt, welche sich mit der geradlinigen Natur des Abenteuers anfreunden können, kann man sicher mehrere Wochen bis Monate großartigen Spielspaß haben. Dungeons & Dragons spielt man nicht so oft vor dem Hintergrund der italienischen Renaissance, und die notwendige Vorarbeit für die Spielleitung vorausgeschickt, kann man etliche faszinierende Charaktere der realen Weltgeschichte treffen und ihnen in den Hintern treten. Und man muss nicht einmal auf seine geliebten Elfen und Zwerge verzichten, wenn man das Phantastische gern hat. Und wie oft kann man einmal Gott gegenübertreten (eine Herausforderung für die Charaktere wie für die Spielleitung)?

Auf der anderen Seite ist es ein sehr lineares Abenteuer, das die Borbaradkampagne von DSA wie eine Sandbox wirken lässt. Das klingt jetzt schlimmer, als es gemeint ist. Es soll nur klar machen, dass es Spieler*innen, welche absolute Entscheidungsfreiheit gewohnt sind, nicht gefallen könnte. Und Spielleitungen einen nicht trivialen Umfang an Vorbereitung zu leisten haben. Dafür erhält man ein Werk ohne Kompromisse. Man bekommt die Göttliche Komödie, ein episches Werk, in einem mit Hingabe adaptierten Abenteuer serviert. Die Illustrationen sind gelungen, man bekommt Renaissanceitalien mit einem zünftigen Hauch Fantasy und Unterhaltung für mindestens mehrere Wochen. Mit der richtigen Gruppe kann es ein großartiges Erlebnis werden.

  • Eine der ganz großen Geschichten zum Nachspielen …
  • … mit einem bekannten und einfachen Regelsystem
  • Großartiges Artwork

 

  • Die Geschichte wird vermutlich schon bekannt sein
  • Dungeons & Dragons 5E ist vielleicht nicht das passendste Regelwerk für eine intrigante, tödliche und oftmals schmutzige Welt
  • Ein durchaus gewürzter Preis

Artikelbilder: © Vortex Verlag GbR
Layout und Satz: Kai Frederic Engelmann
Lektorat: Sabrina Plote
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