Geschätzte Lesezeit: 9 Minuten

Wenn das Machtlevel in einer Pen-and-Paper-Spielrunde aus dem Ruder gelaufen ist, muss die Spielleitung mitunter eben dieses stutzen, um wieder ein spannendes und angenehmes Spiel gewährleisten zu können. Ansonsten kann der Spielspaß schnell enden. Wie man das möglichst elegant lösen kann, erfährst du in diesem Beitrag.

Spieler A: „Meine Barbarin macht zwei Extrabewegungen, schlägt dem Lindwurm links das Haupt ab und sticht den Vampirfürsten ins Herz. Mit meiner zweiten Aktion…“

Spieler B, C, und D sind auch dabei.

Triggerwarnungen

Keine typischen Trigger

[Einklappen]

In den meisten Pen-and-Paper-Spielen entwickeln sich Held*innen aus bescheidenen Anfängen zu immer mächtigeren Neuinterpretationen ihrer selbst. Hat man zunächst noch Ratten aus dem nachbarlichen Keller erschlagen, geht es bald den Orks in der näheren Umgebung an den Kragen, bis man schließlich die lokalen Vampire besiegt und letztendlich die Welt rettet. Wachstum und Fortschritt werden als ein inhärenter Faktor im Spiel angesehen – wozu sollte man denn sonst auf Abenteuer ausziehen? Und hat man sich die Erfahrungspunkte, mit denen der gespielte Charakter wachsen kann, nicht redlich verdient?

Natürlich. Und dennoch kann das zum Problem werden.

Wenn die Machtverhältnisse innerhalb einer Spielgruppe zu unausgeglichen sind oder die Charaktere ein gewisses Machtlevel gegenüber ihrer Welt überschreiten, leidet die Freude am Spiel am Tisch. Wenn ganze Horden an Gegner*innen kein Hindernis mehr darstellen, die Auftraggeber*innen der Gruppe keine angemessene Belohnung mehr bezahlen oder die Spielleitung keine passenden Hindernisse mehr bieten kann, ist etwas schief gegangen. Die unterschiedlichen Formen dieses Problems und wie man es zu lösen versuchen kann, werden wir uns in Folge ansehen.

Was ist Macht?

Macht kann man auch mit den Worten Potenzial, Stärke, Möglichkeiten und Wirkungskraft übersetzen.

Pen-and-Paper ist eine Machtfantasie. Ja, das gilt auch für Exoten wie Mörk Borg oder Recon, in denen man leiden möchte (mitunter als Rollenspiel umschrieben). In allen Rollenspielen möchte man die Welt beeinflussen, möchte den eigenen Charakter weiterentwickeln und generell Handlung mitgestalten. All dies sind Aspekte von Machtausübung. In den seltensten Fällen wird ein frisch generierter Charakter weniger mächtig als ein Nicht-Spieler-Charakter sein. Er wird sich also gegenüber seinem Umfeld hervorheben. Und das ist auch gut und schön.

Manche Held*innen haben unterschiedliche Stärken. Foto © Kalcutta | depositphotos.com

Zu einem Problem wird diese Machthierarchie, wenn sie aus dem Ruder gerät. In diesem Abschnitt beschäftigen wir uns mit der Frage, was das in diesem Zusammenhang bedeutet, welche Probleme konkret daraus resultieren und wie man sie zu lösen versuchen kann. All dies wird durch die Tatsache, dass man mit echten lebenden Menschen spielt, komplizierter. Spieler*innen sind kapriziöse Wesen, welche es nur in den seltensten Fällen wohlwollend aufnehmen, wenn ihre Charaktere gegen eine Wand laufen, oder, noch schlimmer, an Macht verlieren.

Was bedeutet „aus dem Ruder laufen“ in diesem Sinne? Pen-and-Paper ist (in den meisten Runden) eine feine Gratwanderung zwischen Herausforderung und Belohnung. Man erhält einen Auftrag, schließt diesen ab, erhält eine Belohnung und verbessert seine Werte und Ausrüstung, um den nächsten Auftrag mit größeren Herausforderungen und Belohnungen zu bestreiten, ad infinitum. Irgendwann stößt man an eine Grenze, bei der man das Spiel „gelöst“ hat, also das Szenario und gleichzeitig das Spiel abgeschlossen ist. Bei potenziell endlosen Runden, vulgo Kampagnen, ist die Sache etwas komplexer: Bei genügend Lust und Laune kann man endlos spielen und mächtig werden, oder?

Was bedeutet „Nerf“?

Mit dem Begriff „Nerf“ oder dem Verb „nerfen“ bezeichnet man das bewusste Abschwächen einer Sache, eines Gegenstandes oder einer Fähigkeit. Es hat sich gezeigt, dass diese Sache im Kontext des Spiels zu mächtig ist und somit den Spielspaß der Beteiligten mindert. Um ein interessantes Spiel zu gewährleisten, greift man in das laufende Spiel ein und „nerft“ den störenden Umstand auf ein angemesseneres Niveau herunter.

Verständlicherweise geschehen Nerfs nur selten, ohne dass in einer dazugehörigen Spielgemeinschaft hitzige Debatten darüber entbrennen. Fast immer gibt es Spieler*innen, denen ein Nerf entweder nicht weit genug oder viel zu weit geht. Unabhängig davon, ob die Spielgemeinschaft einen Spieltisch oder die Welt umfasst.

Wenn die Gruppe zu mächtig wird

Eine Held*innengruppe kann man auch als ein vielköpfiges, vielarmiges, viellebiges Wesen sehen, welches die Eigenschaften vieler Held*innen in einem gemeinsamen Körper vereint. Das heißt, dass eine zusammenarbeitende Gruppe an Charakteren naturgemäß immer ein Vielfaches von dem zu tun imstande ist, was einzelne Charaktere oder NSCs leisten können. Kombiniert mit der Tendenz von Held*innen, immer und überall zusammenzubleiben (ja, überall…), bedeutet dies, dass es nicht einfach ist, eine Gruppe „nur“ zu schwächen und nicht gleich umzubringen.

Manchmal sind die Held*innen zu stark… Foto © andrija.pajtic@gmail.com | depositphotos.com

Ein großer Faktor bei der Schwächung ist Isolation. Befinden sich die Held*innen an einem abgelegenen Ort wie der eisigen Weite von Icewind Dale oder in einem zufällig ausgewürfelten Dungeon #232? Sind sie auf Ressourcen angewiesen? In einem Dungeon kann Licht sehr schnell ein Faktor werden, und in Ödnissen geht Wasser mitunter schneller aus, als man denkt. Natürlich ist es ein netter Zug von der Spielleitung, wenn sie die Spieler*innen warnt, dass man in eine Umgebung vordringt, welche spezielle Ressourcen benötigt. Andererseits ist das eigentlich die Aufgabe der Spieler*innen…

Neben der Ressourcenknappheit ist die Isolation auch ein Ort, wo die Gefahren größer, die Dunkelheit schwärzer und die Umgebung trister ist. Hilfe kann oder will nicht kommen und die Charaktere sind auf sich allein gestellt. Barovia ist zum Beispiel ein Ort, an dem man zwar Hilfe finden kann, aber selten tatsächlich findet und oftmals brauchen diese NSC selbst Hilfe. Jeder Verlust und jeder Rückschlag tut doppelt weh, wenn man ihn nicht in absehbarer Zeit ersetzen kann. In Systemen, welche Verletzungen und Stress etwas realistischer abbilden als Dungeons & Dragons, kommt das umso mehr zum Tragen. Aber auch in diesem Spiel kann man durch mangelnde Pausen Ressourcen aufbrauchen. Wenn die Charaktere nicht zur Ruhe kommen (lärmende Monster stören die Nachtruhe), dann regenerieren sich auch keine Lebenspunkte und Zauberplätze.

Wenn ein einzelner Held zu mächtig wird

Magierin: „Ich bewege Berge und den Ozean. Meinem Befehl gehorchen Bestie, Mensch und Dämon! Ich befehle über die Zeit und die Realität!“

Krieger: „Ich kann mein Schwert zweimal schwingen!“ 

Der Starke ist am mächtigsten allein. Oder? Foto © antonio.li | depositphotos.com

Unterschiedliche Charakterklassen oder Entscheidungen beim Aufleveln können bedingen, dass sich manche Charaktere in etlichen Situationen nützlicher anfühlen als andere. Das ist per se noch kein Problem. Ein solches wird es aber wohl, wenn sich die anderen Spieler*innen immer wieder und wieder damit abfinden müssen, an der Seitenlinie zu stehen, während der Hauptcharakter sein Ding durchzieht. Das soll und muss nicht sein. Um hier Unfrieden am Tisch vorzubeugen (denn es ist nie schön, sich dauerhaft überflüssig zu fühlen), sollten alle Charaktere sich zumindest ab und an einbringen können.

Hier gibt es mehrere mögliche Ansätze, um ein Ungleichgewicht innerhalb der Gruppe auszugleichen: die Spielleitung kann immer wieder Aufgaben stellen, welche nur von mehreren Charakteren oder eben nicht dem übermächtigen Held gelöst werden können. Ein*e Krieger*in, welche*r allein dem verstandesumnebelten Blick einer Dryade oder eines Vampirs begegnet, kann schnell Probleme bekommen. Ebenso ein Magier, welcher ohne Hilfe eine Steilwand hinaufklettern muss. Gleiches gilt für zu gut gepanzerte Reck*innen.

Ob ein einzelner Charakter „zu mächtig“ ist, ist immer abzuwägen. Sind alle am Spiel beteiligt? Ist stets ein Charakter im Mittelpunkt? Löst immer ein*e Held*in alle Probleme? Wenn es zu einseitig wird, ist es ein Problem. Zusätzlich muss die Spielleitung die Herausforderungen an alle beteiligten Charaktere gleichermaßen anpassen. Ein übermächtiger Charakter kann zum Wettrüsten zwingen, was nie gut ist.

Das Zurechtstutzen

Das Problem ist nun akut. Wie kann es gelöst werden?

Artefakte, welche zu mächtig sind, haben mitunter einen eigenen Willen, der mit dem des tragenden Charakters nicht konform geht. Schließlich ist man nicht umsonst ein mächtiges Artefakt und lässt sich vielleicht nicht von jeder*m dahergelaufenen Held*in einfach so benutzen.

Vielleicht ist das Artefakt auch problemlos benutzbar. Nur leider wollen jetzt alle dieses Artefakt haben. Und das Leben der Held*innen ist um einiges schwerer geworden.

Zu mächtige Verbündete können ebenso hilfreich wie auch fordernd sein. Alliierte wissen um ihren Wert und werden sich nicht zu willenlosen Handlangern der Charaktere degradieren lasen. Im besten Fall ergeben sich aus der komplexen Beziehung mit ihnen wunderbare neue Geschichten, die man bespielen kann. Im schlimmsten Fall fordern sie selbst den Dienst der Held*innen ein oder können sich irgendwann zu Gegner*innen entwickeln.

Wenn die Held*innen zu viel an Erfahrung gesammelt haben, gibt es ebenfalls eine Fülle an Optionen. Spielleitungen in Das Schwarze Auge haben den wohl brutalsten, als auch langweiligsten Hammer in der Hand: Borbaradmoskitos. Diese widerlichen Dämonen in Insektenform saugen bei Kontakt direkt Erfahrungspunkte aus den Held*innen. Nicht schön und keinesfalls subtil, daher sollte man diese Methode vielleicht einmal anwenden, und dann wieder für lange Zeit gut sein lassen. Man möchte schließlich nicht irgendwann allein am Tisch sitzen.

Ebenso können dauerhafte Verletzungen das Held*innenleben dauerhaft verändern. Manche Systeme berücksichtigen auch, dass Charaktere irgendwann altern und nicht ewig jung bleiben. Neben Ruhm und Ehre können sich in einem Held*innenleben auch Infamie und Gegner*innen anhäufen. Wichtig bei all diesen Optionen ist es, als Spielleitung nicht willkürlich, sondern mit Sinn und Zweck die Schere anzusetzen. Als letzte Möglichkeit kann man auch mit seinen Spieler*innen reden, dass man der Ansicht ist, dass eine getroffene Entscheidung das Spiel zum Schlechteren gewendet hat und sie deswegen zurücknehmen beziehungsweise abändern möchte. Das ist sicherlich nicht elegant, aber ehrlich. Und Spieler*innen, die ein gemeinsames schönes Spielerlebnis haben möchten, werden zumindest zuhören.

Fazit: Weniger ist mehr

Ein Ungleichgewicht im Spiel kann schnell zu Frust am Spieltisch führen. Spielleitungen können dadurch das Bedürfnis entwickeln, regulierend einzugreifen. Wenn man sich zu so einem Schritt entschließt, kommuniziert man dies am besten ganz offen mit den betroffenen Spieler*innen. Die meisten werden verstehen, dass es kaum Spaß macht, wenn sich das Rampenlicht auf einige wenige konzentriert. Und wenn die Spielleitung mehr Monster in den Ring wirft, weil sonst für den*die Träger*in des „absoluten Schwerts der Vernichtung TM“ Langeweile aufkommt, kann das niemand wollen.

Eine gute Spielleitung passt sich an ihre Spieler*innen an. Manchmal hat man aber zu großzügig ein zu mächtiges Artefakt herausgerückt, oder die Spieler*innen haben mit Glück einen Schatzhort geplündert, den sie noch nicht hätten erreichen sollen. Oder sie haben einfach hart und ehrlich ihre Erfahrungspunkte verdient, haben sich aber unterschiedlich entwickelt und jetzt verschiedene Möglichkeiten zu agieren. Redet miteinander. Und stellt euch gemeinsam der Herausforderung. Viel Spaß dabei.

 

Artikelbilder: © SergeyNivens, © Kalcutta, © andrija.pajtic@gmail.com, © antonio.li | depositphotos.com
Layout und Satz: Melanie Maria Mazur
Lektorat: Laura Pascharat

1 Kommentar

  1. Sobald eine Gruppe an der Spitze der Machtpyramide des jeweiligen Settings steht(und es gibt da einen Untwrschied,bob D&D oder Midgard gespielt wird), macht es Sinn, die Gruppe aus dem aktiven Spiel in Rente zu schicken. Stattdessen ziehen die Spieler mit frischen Abenteurern los. Die Helden im Ruhestand können aber weiterhin im Geschehen präsent sein. Als Mentoren und Questegeber z.B.
    Oder die Spieler fangen eine Dynastie an und schicken den Nachwuchs der Helden in die Welt um sich ihre Sporen zu verdienen.

Kommentieren Sie den Artikel

Bitte geben Sie Ihren Kommentar ein!
Bitte geben Sie hier Ihren Namen ein