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Ein Trend geht weiter: Auch in diesem Jahr setzen viele große Verlage auf digitale Umsetzungen oder Ergänzungen zu bereits bekannten Brettspielen. Aber in den Hinterzimmern der Industrie wird auch neues vorbereitet. Wohin führt die Digitalisierung der Brettspielwelt? Eine Analyse mit Eindrücken von Johannes vom Hans im Glück Verlag.   

Ich bin jemand, der viel Zeit vor dem Computer verbringt und in regelmäßigem Abstand auf sein Handy schaut und auch dort kurzweilige Games zockt. Aber als Ausgleich liebe ich es, immer wieder auf analoge Brettspiele zurückzugreifen und lange Abende an einem Tisch ohne Handys mit meinen Freunden zu verbringen.
In letzter Zeit häufen sich jedoch Veröffentlichungen von digitalen Versionen beliebter Brettspiele. Und nicht nur das, manche Brettspiele sind ohne digitale Helfer gar nicht mehr spielbar. Wohin führt dieser Trend? Was hat die Industrie vor, und was darf man davon halten? Dazu habe ich Johannes Natterer vom Hans im Glück Verlag (Carcassonne, Stone Age, El Grande) ein paar Fragen gestellt.

Schöne neue digitale Brettspielwelt

Eigentlich ist die Digitalisierung nichts Neues, auch nicht im Brettspielsegment. Aber in letzter Zeit häufen sich Ankündigungen für digitale Partner Releases. Hinter diesem Begriff versteckt sich das Vorgehen, das Brettspiel und die digitale Version gleichzeitig oder in kurzen Abständen voneinander zu veröffentlichen. Die App Stores werden mit Brettspielen fast schon überschwemmt, auf den Messen häufen sich Brettspiele mit sogenannten Companion Apps, es wachsen Brettspielportale überall aus dem Boden und jeder größere Verlag hat mittlerweile eine Digitalabteilung gegründet. So zum Beispiel Asmodee Digital, Queen Digital oder Ravensburger Digital.

Carcassonne 3D: gerade für so erfolgreiche Spiele wie Carcassonne sind digitale Versionen sehr wichtig.

Und natürlich ist das Thema für HiG ebenfalls sehr wichtig, meint Johannes:
 „Natürlich liegt unser Hauptfokus nach wie vor auf den Brettspielen. Gerade aber für so erfolgreiche Spiele wie Carcassonne sind digitale Versionen sehr wichtig. Aber auch für Regelerklärungen und zusätzlichen Content ist es für uns ein interessantes Thema. Eine der ersten digitalen Versionen für Carcassonne gab es schon 2002, von Koch Media. Darauf folgten einige Carcassonne-Titel, oftmals mit den vielen Erweiterungen, die es auch im analogen Bereich gibt. Darunter sind auch unterschiedliche Plattformen wie Xbox, Nintendo DS, iOS, Android und auch PC. Vor kurzem gab es eine neue Version, die von Asmodee Digital entwickelt wurde, diese ist aktuell auf Android und Steam erhältlich. Im Laufe des Jahres will Asmodee Carcassonne auch auf der Nintendo Switch veröffentlichen.“

Manche Spiele auf Online-Plattformen sind günstig oder sogar komplett kostenlos verfügbar.

Dabei sind die digitalen Ausgaben der Brettspiele deutlich günstiger als die analogen Varianten, was nicht überraschend erscheint. Manche Spiele auf Online-Plattformen wie Yucata, Brettspielwelt oder Boardgamearena sind sogar komplett kostenlos verfügbar. Dahinter steckt natürlich das Kalkül, dass die Digital-Spieler sich früher oder später auch die Analog-Ausgabe kaufen werden. Und die Rechnung geht auf: Der Absatz der Brettspiel-Branche steigt jedes Jahr, trotz Digitalisierung, Smartphones und Konsolen. Denn auf diese Weise können sich potenzielle Spieler die Brettspiele erst mal ganz unverbindlich ansehen, bevor man sich die 30,00 EUR teure Offline-Schachtel holt. Spiele wie Splendor oder Zug um Zug können relativ günstig oder sogar gratis im App Store geladen und ausprobiert werden. Gut produzierte und kostenlose Apps erreichen normalerweise eine unglaubliche Reichweite und bieten daher für viele Verlage enormes Potenzial. So wurde Days of Wonder von Small World zeitgleich in beiden Versionen veröffentlicht, was sich anscheinend sehr positiv auf die Verkaufszahlen ausgewirkt hat. Und Zug um Zug, was in Europa schon fast ein alter Hut war, ist gerade in den USA erst durch die App so erfolgreich geworden. Anscheinend wollen auch viele Spieler entgegen herkömmlicher Meinung und Vorurteile auch gar nicht alleine vor dem Bildschirm sitzen oder sich nur übers Netzwerk bekämpfen.

Zug um Zug, das in Europa schon fast ein alter Hut war, ist in den USA durch die App erfolgreich geworden.

Generell scheint es keine klare Zielgruppe für die digitalen Brettspiele zu geben, meint auch Johannes: „Die digitalen Versionen sind mehr oder weniger für alle Altersgruppen interessant. Außerdem werden sie von Leuten gespielt, die unsere Spiele bereits schon sehr gut kennen und es daher immer und immer wieder spielen möchten. Aber auch von Menschen, die unsere Spiele über die digitalen Varianten erst kennenlernen.“

Das Brettspiel als Kulturgut

Das belegt auch die Statistik, und zwar für jeweils die digitale und die analoge Welt. Denn laut Umfrage spielen noch immer 40% der 14- bis 18-jährigen und 50% der 19- bis 24-jährigen mindestens einmal im Monat ein Brettspiel auf analogem Weg. Eben nicht nur die klassische Klientel der über 35-jährigen, also derer, die mit Brettspielen statt mit Konsolen aufgewachsen sind und heute den Kern der Vielspieler ausmachen, wie sie branchenintern oft genannt werden. Diese machen sogar nur einen kleinen Teil der Spielerschaft aus. Jährlich pilgern zehntausende Spieler zur Brettspielmesse SPIEL in Essen. Alleine 2017 wurden 182.000 Besucher gemessen, das entspricht ziemlich genau der Hälfte der GamesCom.

Die Gründe für den Erfolg von Brettspielen sind schnell gefunden. Gerade in Deutschland, einem Hauptabsatzmarkt von Brettspielen weltweit, gelten Brettspiele noch immer als Kulturgut und genießen, im Gegensatz zu Videospielen, auch bei Eltern, Senioren und Familien eine hohe Anerkennung. Man verschenkt eben lieber ein „gutes Brettspiel“, was sich auch besser zum Verpacken eignet, als diese digitalen „Ballerspiele“.

Und natürlich haben sich die Präferenzen von uns Spielern selbst stark geändert. Wir sind bereit, deutlich mehr Geld auszugeben und schrecken auch nicht davor zurück, Spiele auf Kickstarter vorzufinanzieren. Denn Digitalisierung betrifft ja nicht nur die Inhalte der Spiele; mittlerweile bekommen wir als Konsumenten durch das Internet die Möglichkeit, an den zukünftigen Spielen mitzuwirken oder diese zu erweitern und zu verbessern.

Apps als Begleitservice

Seit einiger Zeit sind außerdem Brettspiele auf dem Markt, die eine Companion App auf Tablets oder Smartphones mitbringen oder diese sogar voraussetzen. Solche Spiele werden oft „Hybridspiele“ genannt.

Die Companion App von Fantasy Flight Games ist keine zwingende Voraussetzung um Descent spielen zu können.

Ein Beispiel hierfür ist die 2. Edition von Villen des Wahnsinns. Während die erste Edition noch vollkommen ohne digitalen Begleiter auskommt, ist die Neuauflage ohne gar nicht mehr spielbar. Wer also nicht ein Tablet sein Eigen nennen kann, schaut nach dem Auspacken in die Röhre. Selbiges gilt auch für die App zum X-Com-Brettspiel. Immerhin gibt es die Begleit-Programme mittlerweile auch für Steam oder Smartphones und zwar stets kostenlos.

Das sind Ausnahmen, denn normalerweise sollen die herkömmlichen Companion Apps nur unterstützen. Und sie sind dabei unglaublich hilfreich, so stehen sie zum Beispiel den Spielern bei komplexen Regelwerken und aufwändiger Spielverwaltung zur Seite. Manuelle Abläufe oder der Aufbau des Spielplans werden einfach durch die App intelligent ausgelagert. So lässt sich der Spielablauf deutlich entschlacken, und das macht es auch für Neulinge zugänglicher. Umständliche Spielzüge werden automatisiert, ohne das Spielerlebnis zu beschneiden. Auch bieten Sie direkt eine tolle Atmosphäre durch entsprechende Musik, oder Geräuscheffekte, oder lesen gleich umfangreiche Texte vor und bieten dadurch stimmungsvolles Storytelling.

Andere Apps wiederum erstellen zufällig Szenarien oder übernehmen gleich die Aufgabe des „Overlord“, der sonst meist benötigt wurde, um bei Dungeoncrawlern die Bösewichte zu spielen. So hat zum Beispiel die im Oktober 2017 gegründete Fantasy Flight Games Digital einen exzellenten Fan-Service geleistet, indem sie eine Companion App für den Klassiker Descent rausgebracht hat. Wohlgemerkt vollkommen kostenlos! Naja, fast: Erweiterungen in Form von neuen Kampagnen schlagen natürlich trotzdem mit 10,00 EUR zu Buche. Aber immerhin kann man jetzt den beliebten inoffiziellen Nachfolger von HeroQuest auch alleine spielen. Auch für andere beliebte Tabletops wie Zombicide gibt es bereits solche Companion Apps.

Mehrwert mit Augenmaß

Und natürlich kann man sich bei diesen Apps immer streiten, inwieweit sie einem das Gefühl des „echten“ Brettspielens wegnehmen. Viele wollen ja gerade umfangreiche Charakterbögen besetzt mit Kärtchen, Spielsteinen und Markern vor sich liegen haben. Andere finden das lästig und möchten einfach nur spielen.

Eine Grenze gibt es dann aber doch für fast alle Apps, die oft nicht überschritten wird: Das Würfeln. Viele Spieler wollen sich das auch nicht nehmen lassen, ist es ja eines der elementarsten Bestandteile von Brettspielen. Companion Apps müssen daher schon etwas zusätzlich anbieten oder eine Erleichterung darstellen und nicht das eigentliche Spielen abnehmen. Das sieht auch Johannes so: „Aktuell kann man zusammen mit der Dized App Carcassonne erlernen. Dort sollen auch noch weitere Spiele von uns erscheinen, die den Einstieg in das Brettspiel noch leichter machen sollen. Ansonsten planen wir derzeit keine Companion Apps. Falls wir so etwas machen, müsste es auch einen wirklichen Mehrwert für das Spiel bieten. Das gleiche gilt bei uns für Hybridspiele. Es ist aber nichts, was wir ausschließen, wenn es das passende Spiel dazu gibt.“

Ein Blick in die Kristallkugel

Auch in Zukunft werden wir natürlich nicht an digitalen Brettspielen, Companion Apps oder Hybridspielen vorbeikommen. Im Gegenteil, es wird ein immer stärkeres Zusammenspiel von analoger und digitaler Welt geben. Man kann das Ganze auch nicht einfach als kurzlebigen Trend abtun. Wenn man aber über den Tellerrand hinaus- und vom Offensichtlichen absieht, finden wir immer mehr Verknüpfungen zwischen klassischen Brettspielen und (Sammel-)Kartenspielen mit der Mobile- und Online-Welt. Wir dürfen aber, genau wie in der Arbeitswelt, die Digitalisierung nicht verteufeln, sondern als eine Chance sehen, unsere Brettspiele zu verbessern und zu bereichern. Ebenso sieht das Johannes: „Auf jeden Fall ergänzen sich diese zwei Welten. Ich glaube, dass dadurch sehr interessante Projekte für beide Seiten entstehen können. Es gibt nicht nur digitale Versionen von Brettspielen, sondern auch Brettspiele von digitalen Spielen.“

Bereicherung und Risiken

Hierbei gibt es natürlich positive und negative Beispiele. Schon damals kam das großartige Brettspiel StarCraft heraus, das leider nur in geringer Stückzahl hergestellt wurde und heutzutage nur noch über eBay für teures Geld zu erlangen ist. 2015 ist The Witcher erschienen, was viele leider spielerisch nicht überzeugen konnte und recht negative Kritiken auf sich gezogen hat. Das Risiko der „analogen“ Verlage, auf einfachste Trendthemen zu setzen, hat sich genau wie in der Videospielbranche enorm vervielfacht. Langlebige und hochwertige Gesellschaftsspiele müssen aber längerfristig betrachtet werden. Spiele wie Die Siedler, Scotland Yard oder Carcassonne sind dabei natürlich nur die Speerspitzen, welche jeweils bereits unzählige digitale Versionen hervorgebracht haben und so das Thema Brettspiele einer größeren Bevölkerungsgruppe zugänglich machen konnten.

In Catan VR sitzt man in einem virtuellen Raum und spielt mit anderen Avataren ganz normal an einem Tisch.

Und genau mit diesen wichtigen Titeln wagt man auch moderne Experimente. Denn einige Techniken, die die digitale Welt bietet, sind noch gar nicht erschlossen. Das große Thema Virtual Reality fängt jetzt erst an, Einzug zu nehmen. Daher verwundert es nicht, dass eines der ersten VR-Spiele natürlich Die Siedler sein durfte. Dabei sitzt man mit bis zu drei anderen Mitspielern, die als niedliche Avatare dargestellt sind, in einem virtuellen Raum und spielt ganz normal Die Siedler an einem Tisch. Nicht mehr und nicht weniger.  

Was allerdings noch Augmented Reality an Möglichkeiten bietet, mag ich mir gar nicht vorstellen. Die ersten Ansätze mit dem Live Game Board, Scotland Yard-AR, dem Kartenspiel HoloGrid und eben auch mit Villen des Wahnsinns sind jedenfalls vielversprechend und lassen mein Zocker-Herz höher schlagen. Was vor 40 Jahren noch mit dem Holo-„Schach“-Spiel (Dejarik) bei Star Wars begann, ist heute schon fast Realität. Dabei filmen die Augmented-Reality-Apps für Tablets und Smartphones die reale Umgebung und ergänzen diese auf dem Bildschirm mit virtuellen Objekten wie Lebenspunkten, Effekten oder Spielregel-Hinweisen. Eben eine echte Verschmelzung beider Welten.

Wir dürfen also gespannt sein!

 

Artikelbild: © Hans im Glück Verlag, Screenshots: © Stephan Jacob, Bearbeitung: Melanie Maria Mazur

 

Über den Autor

Stephan Jacob ist Videospielentwickler und unterrichtet selbiges auch an Universitäten quer durch Deutschland. Er larpt seit 1999 fast ausschließlich auf Fantasy-Cons und nimmt sein Hobby leider überhaupt nicht ernst. Zu seinen größten Errungenschaften, zählt sein Mitwirken bei den Tyren Nightfire-Filmen und seine Bekanntheit als HelloKittySchield-Meme.

 

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