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Die Geister auf dem alten Indianerfriedhof streifen ruhelos durch die Nacht. Kinder gehen in das schiefe Hexenhaus, um ihren Mut zu beweisen, und jeder Bewohner trägt ein Schutzamulett gegen den bösen Blick bei sich. Aber was immer du tust: Geh nicht in den Winterwald!

Mit Geh nicht in den Winterwald hat System Matters ein atmosphärisch dichtes Erzählspiel rund um klassische Schauergeschichten ins Deutsche übersetzt und in der Kleinen Reihe, in der ansonsten Kagematsu und Die Liebe in den Zeiten des Seiðr erschienen sind, veröffentlicht. Die Spieler übernehmen hier die Rolle von Einwohnern eines abseitig und einsam gelegenen Dorfs in den frühen Tagen der europäischen Besiedelung Nordamerikas. Aberglaube, düstere Legenden und vage Bedrohungen sind hier noch lebendig und bedeutsam für die Geschichte des namenlosen Dorfes am Rande des Winterwaldes.

Die Spielwelt

Die Geschichten spielen allesamt in einem kleinen, namenlosen Dorf an der Ostküste der dreizehn britischen Kolonien. Die frühe Besiedelung ist ein relativ selten benutzter historischer Hintergrund, der sich hier im Fokus findet. Allerdings ist er in diesem Fall weniger wichtig als die Vielzahl an volkstümlichen Legenden und Sagen, die in der Gegend verbreitet sind. Düstere Erzählungen und dunkle Geheimnisse sind hier wichtiger als Religionskonflikte oder Fragen der Besteuerung. Geh nicht in den Winterwald führt den Leser direkt im ersten Kapitel in die spezielle Mythenwelt der Gegend ein. In kurzen Abschnitten werden beispielsweise die Geschichten der lokalen Indianer, des ersten Hungerwinters oder die der Poe-Hexen erzählt. Dabei bedient sich der Band sicherlich der bestehenden Stereotype dieser Art von Erzählungen, allerdings nie auf eine plumpe Art und Weise, sondern vielmehr in der Form einer Neuinterpretation oder zumindest einer Neuerzählung. Durch die sehr gelungene Prosa der Texte wird in diesem Anfangskapitel unmittelbar eine starke Stimmung aufgebaut, die den Leser abholt und direkt in die Welt des kleinen Dorfes transportiert.

Hierbei sei auch sofort gesagt, dass die Welt, die sich vor dem inneren Auge des Lesers entfaltet, keine besonders nette ist. Die Handlungen der Figuren sind geprägt von Ignoranz, Aberglaube, Angst und manchmal auch schlichter Bösartigkeit. Frauen werden als Hexen verbrannt, Kinder in den Wäldern ausgesetzt, Männer durch Hunger in den Wahnsinn getrieben und Pakte mit Teufeln und Dämonen geschlossen. Man wähnt sich hier mitunter in einer finsteren Märchenwelt, nach dem Vorbild von Fernsehserien wie Once Upon a Time und Grimm oder Filmen wie Sleepy Hollow, in der die Dinge schlecht beginnen und von da an immer nur schlimmer werden.

Da der gesamte Hintergrund nur in der Form von Geschichten und Legenden erzählt wird, werden dem Spielleiter auch keine Zeitstrahlen oder definitiven Antworten gegeben. Der Band funktioniert eher nach dem Prinzip der Collage als dem des Lexikons. Potenzielle Spielleiter, die nach Bestiarien und stringenten Quellentexten suchen, werden hier enttäuscht, was bei der Kürze des Bandes aber auch nicht verwunderlich ist. Ferner ist der beschriebene Hintergrund natürlich durch das Thema des Spiels klar fokussiert. Material oder Unterstützung für lange und ausschweifende Kampagnen darf man nicht erwarten. Das Spiel ist vielmehr klar auf das Konzept des Oneshot-Abenteuers ausgelegt. Ein findiger Spielleiter kann da sicherlich improvisieren, aber das Büchlein macht es einem in dieser Hinsicht nicht gerade leicht. 

Die Regeln

Wie bei einem Erzählspiel zu erwarten, kommt Winterwald mit einem sehr überschaubaren Regelgerüst aus. Im Prinzip braucht es nicht mehr als eine Handvoll sechsseitiger Würfel und ein paar beliebige Marker, um für alle Regelsituationen gewappnet zu sein. Charaktere in diesem Spiel haben keine Attribute oder Fertigkeiten. Den Hauptteil des Spiels bildet die freie, gemeinsame Erzählung von Spielern und Spielleiter, so dass die zwei grundlegenden Regeln in der Folge schnell erklärt sind.

Wann immer den Charakteren in der Erzählung etwas Schlimmes zustößt oder sie eine Form von schockierendem Erlebnis haben, erhalten sie einen sogenannten Kälte-Marker. Dieser zeigt an, wie sehr die Düsternis des Winterwaldes von der Figur Besitz ergriffen hat und wie nah sie ihrem Ende ist. Erreicht eine Figur nämlich den Wert von sechs Kälte-Markern, ist das Spiel für sie vorbei. Entweder stirbt der entsprechende Charakter, wird wahnsinnig oder auf eine andere Art und Weise aus der Erzählung entfernt. Je näher die Erzählung ihrem Höhepunkt kommt, umso mehr Kältemarker sammeln die Charaktere an und umso schwieriger werden auch die gewürfelten Proben.

Proben werden immer mit einem W6 gewürfelt. Der Zielwert ist dabei immer gleich: Man muss über seine aktuelle Zahl von Markern werfen. Proben sollen vom Spielleiter immer in Form einer Ja- oder Nein-Frage gestellt werden. Beispielsweise: Gelingt es dem jungen Henry, dem lockenden Ruf des Waldgeistes zu widerstehen? Wird der aktuelle Markerwert überwürfelt, lautet die Antwort immer „Ja“, wird er unterwürfelt dementsprechend „Nein“. Von da an wird die Geschichte weitererzählt. Sollte es der junge Henry aus dem Beispiel nicht schaffen, dem Waldgeist zu widerstehen, so kann das natürlich relativ schnell in einem weiteren Kälte-Marker enden.

Charaktererschaffung

Genau wie die Regeln, so ist auch die Charaktererschaffung recht schnell beschrieben, da sich ein Charakter in Winterwald immer aus drei Bestandteilen zusammensetzt. Zuerst geben die Spieler ihrer Figur einen Namen. Dieser Schritt ist nicht unwichtig, da die Spieler dazu angehalten werden, bei ihren Beschreibungen im Spiel immer von sich selbst in der dritten Person zu sprechen. Also anstelle von „Ich gehe in das Haus“ zu sagen „An dieser Stelle beschloss der junge Henry, das Haus zu betreten“. Durch diesen – zu Beginn etwas gewöhnungsbedürftigen – Sprachduktus soll das spezielle Flair einer Lagerfeuergeschichte oder eines Schauermärchens transportiert werden, in denen in der Regel keine Ich-Erzähler vorkommen. Außerdem hilft diese sprachliche Distanzierung auch dabei, sich selbst etwas von der Figur zu entfernen und im Zweifel Entscheidungen zu treffen, die die Geschichte voranbringen, aber der Figur selbst im Zweifel nicht guttun. Nach einer kurzen Eingewöhnung hat dieser sprachliche Kniff in der Testrunde sehr gut funktioniert und die Atmosphäre am Spieltisch wirksam unterstützt.

Nachdem ein Name vergeben wurde, muss der Charakter mit einer kurzen Beschreibung umrissen werden, die seine Funktion im Dorf oder in der Geschichte beschreibt. Archetypen wie „Der schweigsame Jäger“, „der örtliche Pfarrer“ oder „der Dorftrottel“ reichen vollkommen aus, um sich eine mentale Skizze der Figur zu erstellen. Idealerweise kann man an dieser Stelle auch Verknüpfungen zwischen den einzelnen Figuren herstellen, um sie später zu Beginn der Geschichte reibungslos zusammenbringen zu können. Da die Oneshot-Abenteuer in der Regel relativ kurz ausfallen, reichen die Archetypen allemal aus, auch wenn eine gewisse Klischeedichte bei so einer Herangehensweise wohl kaum vermeidbar ist.

Zu guter Letzt braucht jeder Charakter noch eine Motivation, den Winterwald zu betreten, da dieser normalerweise von den Bewohnern des Dorfes gemieden wird. Eventuell soll eine Mutprobe abgelegt, ein verschwundenes Kind gesucht oder dem Ursprung eines Fluchs auf den Grund gegangen werden. Zwar heißt das Spiel Geh nicht in den Winterwald, aber Der Herr der Ringe wäre ja auch eine ziemlich kurze und öde Geschichte, wenn Frodo niemals das Auenland verlassen hätte. Somit wird den Spielern direkt ein innerweltlicher Grund geliefert, sich mit dem Schrecken des Waldes zu beschäftigen, statt die Geschichte auf Grund laufen zu lassen, da keiner der Charaktere willens ist, den Wald zu betreten.

Nach diesen Schritten ist die Charaktererschaffung abgeschlossen, und die eigentliche Geschichte kann beginnen. In der Testrunde waren die vier Beispielcharaktere gemeinsam innerhalb von 25 Minuten erstellt. Sehr angenehm, wenn man ein Oneshot-Abenteuer spielen will, aber als Spielleiter keine Zeit für komplexe vorgefertigte Charaktere hat.

Erscheinungsbild

Man sagt ja, man solle ein Buch nicht nach seinem Einband bewerten, aber das Erscheinungsbild ist eine der größten Stärken des Bandes. Gedruckt wurde er im handlichen DIN-A5-Format auf angenehm dicken Papier. Die Bindung des Buchs ist, auch nach einigen Nutzungen, vollkommen intakt und zeigt keine Ermüdungserscheinungen. Das Layout von Winterwald ist mehr als gelungen. Es wurden wenige, aber dafür sehr stimmungsvolle Illustrationen ausgewählt, um die Stimmung des Buches zu unterstützen. Aber auch auf den Seiten ohne komplette Illustration finden sich oft kleine Spielereien oder Experimente mit optischen Elementen, so dass der Band optisch ein echter Leckerbissen ist, wovon sich so manche große Publikation eine Ecke abschneiden könnte.

Trotz der erwähnten Spielereien ist das Schriftbild allerdings klar und jederzeit verständlich, so dass die Lesbarkeit nicht hinter dem Design zurückstehen muss. Insgesamt eine Arbeit, bei der Stimmung und Flair des Spiels durch das Erscheinungsbild hervorragend unterstützt werden.

Die harten Fakten:

  • Verlag: System Matters
  • Autor: Clint Krause
  • Erscheinungsjahr: 2017
  • Sprache: Deutsch
  • Format: DIN-A5 Softcover
  • Seitenanzahl: 72
  • ISBN: –
  • Preis: 12,95 EUR
  • Bezugsquelle: Sphärenmeister, System Matters

 

Bonus/Downloadcontent

Zum Zeitpunkt dieses Artikels ist zwar ein Ergänzungsband mit Szenarien angekündigt, darüber hinaus gibt es allerdings keinen offiziellen zusätzlichen oder Bonuscontent für das Spiel.

Fazit

Mit Geh nicht in den Winterwald legt System Matters die Übersetzung eines Erzählspiels des Autors Clint Krause vor. Wie auch andere Titel aus der sogenannten Kleinen Reihe des Verlags hat dieser Band einen klaren thematischen Fokus. In diesem Fall handelt es sich dabei um das Genre des Schauermärchens im Stil von John Irving oder den düsteren Märchen der Gebrüder Grimm. Angesiedelt sind die kurzen Oneshot-Abenteuer in einem namenlosen Dorf an der amerikanischen Ostküste zur Zeit der ersten europäischen Besiedelung, in dem finstere Legenden und düstere Erzählungen noch mehr Kraft haben als Wissenschaft oder Aufklärung. Mechanisch getrieben wird das Spiel von einem sehr rudimentären und einfachen System, das mit einem einzigen W6 und einigen Markern auskommt. Für den Preis von 12,95 EUR bekommt man ein sehr gelungenes Produkt, das vor allem mit seiner Optik zu gefallen weiß und seinen Preis auf jeden Fall wert ist. Wer sich auf kurze Gruselabenteuer in einem untypischen historischen Setting einlassen kann, der wird nicht enttäuscht werden. Eine ganz klare Empfehlung.

Der Ersteindruck basiert auf der Lektüre des Bandes und einem gespielten circa dreistündigen Oneshot-Abenteuer.

Artikelbilder: System Matters
Dieses Produkt wurde privat finanziert.

 

2 Kommentare

  1. Es klang so interessant, dass ich es auch inzwischen zu Hause habe. Der Ersteindruck macht definitiv Lust es auszuprobieren. Klingt wirklich nach nem einfachen schönen Konzept, um spontan gemeinsam tolle Gruselgeschichten auf die Beine zu stellen. Das Buch liest sich auch sehr schön.

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