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Eine verlorene Stadt im Dschungel, ein geheimnisvolles Artefakt und alle möglichen finsteren Geheimnisse: Der Wunderstein vom Amazonas (Uhrwerk Verlag) schickt die Charaktere auf eine Suche, die für einen Hollow-Earth-Expedition-Abenteuerband klassischer nicht sein könnte. Die Verwicklungen, die darauf folgen, sind allerdings alles andere als vorhersehbar.

Der Abenteuerband Der Wunderstein vom Amazonas verspricht ein Pulp-typisches Szenario in Südamerika. Ein verschlüsseltes Tagebuch und ein heimtückischer Mord stehen am Anfang, ein rätselhaftes Artefakt am Ende der Suche. Zwischendrin begegnen die Charaktere der Thulegesellschaft, gleich mehreren geheimen kirchlichen Orden, Rieseninsekten, Dämonenwürmern und Dinosauriern – und das alles noch an der Oberwelt! Da kann eigentlich nichts mehr schiefgehen, oder? Durchgelesen und durchgespielt bleiben leider einige Fragen offen.

Die Story

Der Club der Entdecker heuert die Charaktere an, um die sagenumwobene Stadt Paititi zu finden, die angeblich im tiefen Dschungel verborgen ist, und nicht nur Gold und Juwelen, sondern auch die letzten Erben des Inkareiches beherbergen soll. Als Anhaltspunkt, um die Stadt zu finden, dient der Gruppe das verschlüsselte Tagebuch des letzten Überlebenden einer Expedition, die es schon einmal dorthin geschafft hat. Als passende Charaktere für das Szenario schlägt der Autor unter anderem die Archetypen Arzt, Akademiker (gemeint sind Archäologen oder Anthropologen), Missionar und Reporter vor. Ich möchte allerdings empfehlen, diesen „Eierköpfen“ mindestens einen, besser mehrere Soldaten oder andere auf Kampf ausgelegte Archetypen beizustellen, sonst könnte das Abenteuer unter Umständen weit vor der Auflösung mit dem Ableben der Charaktere enden. Wahlweise steht zu überlegen, ob kleinere Spielergruppen von Anfang an ein paar Ersatzcharaktere erstellen, die als NSC auf die Expedition mitkommen und im Bedarfsfall übernommen werden können.

Auftakt: von Rio in den tiefen Dschungel

Die Expedition beginnt rasant und erstaunlich düster, als die Charaktere den Autor des Tagebuchs, Alfred Higgins, in seiner heruntergekommenen Wohnung in Rio de Janeiro aufsuchen, um von ihm zu erfahren, wie man es entschlüsselt. Gerade noch können sie Zeugen des Mordes an Higgins werden,  der ihnen im letzten Atemzug den Code verrät, dann entspinnt sich, so will es zumindest der Autor des Abenteuers, eine Verfolgungsjagd durch die Gassen Rios. Erstaunlicherweise sieht der Plot die Möglichkeit vor, dass die Charaktere den sterbenden Forscher links liegen lassen, aber keine, dass sie den Mörder nicht verfolgen. So oder so ist der Code für das Expeditionstagebuch nur ein MacGuffin (http://tvtropes.org/pmwiki/pmwiki.php/Main/MacGuffin), um den Ton für das weitere Abenteuer anzuschlagen: Hier geht es um ein Geheimnis, das die einen lüften und die anderen verschleiern wollen, und keine dieser Seiten schreckt davor zurück, über Leichen zu gehen, um ihr Ziel zu erreichen.

Spoiler

Bei der Verfolgung des Mörders können die furchtlosen Spielercharaktere nämlich herausfinden, dass dieser ein Assassine des Ordo Umbra (Geheimnisse der Oberwelt, S. 63) ist, der die Entdeckung Paititis geheim halten will. Allerdings kriegen sie das nur heraus, wenn sie ihn vor ein paar Nazi-Schergen in Zivil erreichen, die den Ordensbruder erst mit Kugeln durchsieben, bevor sie ihn nach dem Tagebuch durchsuchen, das die Charaktere in ihrem Besitz haben, und die Aufmerksamkeit ihrer Maschinenpistolen schnell auch auf die Zeugen des Geschehens, nämlich die verfolgenden SC, richten. Vorgesehen ist hier ein Feuergefecht, an dessen Ende eine Seite flieht. Danach sind die Nazis erstmal wieder aus dem Bild, es sei denn, die Charaktere stellen eigene Ermittlungen an, wer die Männer in den braunen Anzügen wohl gewesen sein mögen. Dann können sie herausfinden, dass ein deutscher Oberst mit allerlei seltsamem Gerät, darunter ein experimenteller Zeppelin (klar) vor einiger Zeit in Rio angekommen ist, Fragen nach besagtem Tagebuch gestellt und nekromantisches Ritualzubehör (auch klar) gekauft hat. Der Autor scheint davon auszugehen, dass spätestens jetzt neben dem puren Entdeckergeist auch der flammende Wunsch, den Nekromanten zu besiegen, die Charaktere antreibt.

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Nach Entschlüsselung des Tagebuchs und mit der finanziellen Unterstützung des Clubs der Entdecker reisen die Charaktere nun weiter ins Amazonasgebiet, um dort in einer kleinen Missionsstation den hilfsbereiten Pater Creus zu treffen, der ihnen seine Führung, einige Träger und einen Flusskutter zur Verfügung stellt, um den nächsten Punkt auf der Schnitzeljagd nach Paititi zu finden: Das Soldatengrab. Zuerst werden die Charaktere aber noch aus der Ferne durch ein nekromantisches Ritual angegriffen, nämlich einen „Dämonenwurm“, der einen der Spielercharaktere übernimmt. Hier ist natürlich der Nazi-Oberst von der Thulegesellschaft am Werk, der schon in Rio Ärger gemacht hat. Zum Glück kann der Missionspadre gut exorzieren und die Szene bleibt ohne Konsequenzen für den entsprechenden Charakter. Allerdings entsteht dadurch eine unheimliche, zeitweise an Call of Cthulhu erinnernde Atmosphäre, was ich sehr schön finde.

Riesenmoskitos, Verrat und Flugsaurier

Am nächsten Tag geht es zusammen mit Pater Creus und einigen einheimischen Helfern weiter in das Amazonasgebiet hinein. Hier bieten sich in entsprechenden Gruppen allerlei Möglichkeiten für ausgiebiges Charakterspiel im heißen, feuchten und malariaverseuchten Regenwald. Mitten ins Vergessene-Welt-Feeling hineingeworfen werden die Charaktere, als sie zwei Tagesreisen flussaufwärts auf den blutleeren, von zahlreichen kleinen Löchern übersäten Kadaver eines Jaguars stoßen. Die Verantwortlichen machen bald auch der Gruppe zu schaffen: Ein Schwarm Riesenmoskitos greift an. Das schafft Stimmung, und nebenbei wird eine praktikable neue Regel über Kämpfe gegen Schwärme eingeführt: Der Schwarm besitzt einen gemeinsamen Wert für Gesundheit, und außer im Falle von Flächenschaden kann ein einzelner Charakter ihm in jeder Runde nur einen Schaden zufügen.

Die scheußlichen Biester sind schnell abgeschüttelt, und mit Hilfe des Missionspadres und des Tagebuchs erreicht die Gruppe das Soldatengrab, eine mysteriöse Grabstätte, die es zu untersuchen gilt. Darin finden die Spieler den nächsten Hinweis auf den Weg nach Paititi. Dann allerdings nimmt das Abenteuer eine dramatische Wende.

Spoiler

Pater Creus, Mitglied eines anderen kirchlichen Geheimordens, hat sich der Wahrung des Geheimnisses um Paititi verschrieben und kann demnach die Expedition nicht an ihr Ziel kommen lassen. Er betäubt die Charaktere, sabotiert das Boot und schickt es brennend in Richtung eines Wasserfalls! Natürlich, denn es ist Pulp, wachen die Helden rechtzeitig auf und eine dramatische Rettungsaktion beginnt. Für weniger sportliche Charaktere und kleine Gruppen (unter 4 SC) ist diese recht schwer zu meistern, besonders wenn niemand die Fertigkeit „Boote steuern“ besitzt. Die Chance auf Charaktertode ist an dieser Stelle verhältnismäßig groß, was ohne vorbereiteten Ersatz problematisch werden kann.

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Gerade noch gerettet, sind die Charaktere nun allein im Dschungel auf sich selbst gestellt. Immerhin kennen sie wenigstens den Weg nach Paititi, und da ihnen nichts anderes übrig bleibt, gehen sie da auch hin. Auf dem Weg landen sie allerdings noch unverhofft in einem Nest voller Pterosauriereier. Bevor sie sich davonstehlen können, greifen die erbosten Eltern an. Ein erster Spielversuch und mehrmaliges Nachspielen mit unterschiedlichen Würfelwerten ergaben: Flugsaurier sind kein Zuckerschlecken. Auch hier kann es sehr schnell zum Ende des einen oder anderen Charakters kommen – wenn nicht gar allen.

Sollte die Gruppe diese Begegnung aber überstehen, erreicht sie nun – endlich – das Vergessene Plateau, an dessen Fuße sich die versunkene Stadt Paititi befindet. Deren Einwohner immerhin heißen die Charaktere freundlich willkommen.

Huch, Nazis! Wo kommen die denn her?

Klar: Es ist Hollow Earth Expedition. Es geht gegen Nazis. Und denen kann man schließlich immer und überall begegnen. Richtig? Naja. Charakteren, die zu Beginn des Abenteuers noch keine eingefleischten Feinde der Thulegesellschaft sind, und vielleicht noch nicht einmal wissen, was gerade (1936) so in Deutschland los war, bietet die Einstiegsszene nicht gerade viele Anhaltspunkte dafür, wen man hier zum Gegner hat. Dementsprechend kann der Auftritt von Oberbösewicht-du-jour Oberst Wolfram auch ein wenig überraschend daherkommen.

Spoiler

Nachdem die Charaktere ihm den Reisebericht vor der Nase weggeschnappt haben, hat dieser mit seinen Schergen nämlich den zweitbesten Weg gewählt und ist ihnen einfach bis zum Soldatengrab gefolgt.

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Spätestens ab da stellt sich außerdem die Frage, warum die Kerle nicht längst da sind, wenn die Charaktere auf dem Plateau ankommen. Mit einem spezialangefertigten Zeppelin müsste das doch viel schneller gehen als zu Fuß. Aber nun gut. Vielleicht hatte das Luftschiff ja eine Panne.

Bis die Thulegesellschaft auftaucht, ist jedenfalls noch Zeit. Zunächst machen die Ureinwohner Paititis die Charaktere mit dem Tempelritter Sir Jeremiah Brock bekannt, der 1311 nach Südamerika gekommen war, um eine heilige Reliquie  – nämlich den namengebenden Wunderstein, der in den falschen Händen zu einen mächtigen nekromantischen Instrument werden könnte – zu beschützen.

Falls das allein die Gruppe noch nicht dazu bringt, sich in religiösen Grundsatzdiskussionen zu verlieren, taucht jetzt auch noch Pater Creus auf, der für seinen vorhergehenden Verrat um Vergebung bittet. Der unsterbliche Templer und der reumütige Verräter überreden die Charaktere, sich mit ihnen zusammen gegen die gerade auftauchende Thulegesellschaft zu werfen. Es folgt ein epischer Bossmonster-Kampf, in dem erst Jeremiah, dann Creus sich opfern, um den Helden dabei zu helfen, den Nekromanten Wolfram zu besiegen.

So steht es zumindest im Skript. Der Autor des Abenteuers ging offenbar davon aus, dass HEX-Spieler sich stets genrebewusst in den Kampf gegen die Nazis werfen, unabhängig davon, ob dies für ihre Charaktere wirklich sinnvoll oder nachvollziehbar ist. Es ist schließlich Pulp! Das mag manchen Freunden dieses Systems gefallen, mein Ding ist es nicht. Die Frage muss immerhin erlaubt sein, warum die Charaktere eigentlich überhaupt gemeinsame Sache mit Creus machen sollten, nachdem der so große Mühen auf sich genommen hat, sie umzubringen, und nur deswegen  Reue zeigt, weil es noch unangenehmere Gesellen gibt, die ebenfalls auf der Suche nach der verlorenen Stadt sind. Ich würde es keiner Gruppe übel nehmen, wenn sie einfach die Beine in die Hand nähme und die beiden religiösen Fanatiker mit ihrem angeblichen Wunderstein sich selbst überließe, anstatt gegen einen bösartigen Schwarzmagier und seine gut bewaffneten Schergen in den Kampf zu ziehen.

Hohlwelt? Fehlanzeige!

Dem geneigten Leser wird bis hierhin schon aufgefallen sein, dass von der Hohlwelt nicht ein einziges Mal die Rede war. Und dabei bleibt es auch: Bei diesem Abenteuer handelt es sich um eine Reise in die Vergessene Welt à la Conan Doyle. Das Vergessene Plateau ist ein abgeschiedener Teil der Oberwelt, auf dem bis heute Dinosaurier und andere Urzeitwesen, wie die genannten Riesenmoskitos, leben. Warum das so ist, bleibt ein Rätsel. Möglicherweise hat es etwas mit der Legende unter seinen Ureinwohnern zu tun, dass vor langer Zeit die Welt auf den Kopf gestellt wurde (Geheimnisse der Oberwelt, S. 76). Gehört dieser Teil der Welt eigentlich auf die andere Seite? Wer weiß. Einen Einstieg in die Unterwelt bietet dieses Abenteuer jedenfalls nicht. Es lässt sich allenfalls in eine längere Oberwelt-Kampagne einbauen.

Download/Bonuscontent

Außer dem Abenteuer selbst enthält Der Wunderstein vom Amazonas neue optionale Regeln für Wunder und Glauben. Effektiv wird das Talent „Wahrer Glaube“ eingeführt, durch das der gläubige Charakter Wunder wirken kann. Effektiv ist es eine weitere Form magischer Begabung, nur hier mit etwas anderen Rahmenbedingungen. Zudem werden auch noch das neue nekromantische Ritual „Dämonenwurm beschwören“ genauer erklärt und einige religiöse Artefakte vorgestellt.

Erscheinungsbild

Das dünne Abenteuerheftchen ist, wie für HEX typisch, mit einem schönen, farbigen Einband und einigen Schwarzweißbildern im Fließtext illustriert. Ansonsten ist der Band übersichtlich gestaltet, mit vielen Unterkapiteln, Kurzcharakterbögen für alle wichtigen NSC, und unterschiedlich hinterlegten Kästen für Vorlesetexte und Zusatzinformationen.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Uhrwerk-Verlag
  • Autor: Sean Gore
  • Erscheinungsjahr: 2011
  • Sprache: Deutsch
  • Format: Druck, PDF
  • Seitenanzahl: 31
  • ISBN: 978-3942012-15-7
  • Preis: 6,00 EUR
  • Bezugsquelle: Amazon

 

Fazit: nur für kampflustige Gruppen mit hoher Skript-Toleranz

Dieses Abenteuer ist eindeutig nichts für zart besaitete Charaktere. Dass die Gruppe mit Schwärmen gefährlicher Dschungelbewohner konfrontiert wird, ist ja noch in Ordnung – aber der unausweichliche Kampf gegen die erbosten Flugsauriereltern kann sehr schnell tödlich ausgehen. Insbesondere, da das Abenteuer an dieser wie an vielen Stellen kaum alternative Handlungsmöglichkeiten vorsieht. Als alte Cthulhu-Spielerin sehe ich erstmal kein Problem darin, wenn eine Expedition kurz vor dem Ende abbricht, weil sämtliche Spielercharaktere von seltsamen Wesen mit ledrigen Flügeln gefressen wurden. Aber eigentlich ist das nicht der Sinn dieses Abenteuers. Zumal die meisten HEX-Spieler, die ich kenne, nicht zwangsweise begeistert davon sind, wenn die Spielleitung ihren Charakteren nur die Wahl gibt, entweder zu sterben oder mehrere frisch geschlüpfte Dinosaurierküken zu ermorden.

Auch andere Stellen des Abenteuers wirken nicht besonders gut durchdacht. Warum zum Beispiel sollten sich die Charaktere wieder mit dem Verräter zusammentun, nur weil der Tempelritter ihn offenbar schwer in Ordnung findet? Was passiert, wenn die Spieler Alfred Higgings überhaupt nicht aufsuchen wollen, sondern den Code des Tagebuchs selber zu knacken versuchen? Bei all dem kann darauf verwiesen werden, dass das Abenteuer eben vorsieht, dass es gar keine andere Möglichkeit gibt. Aber genau das macht es eben frustrierend: An vielen Stellen ist die Kreativität von Spielern und Spielleiter extrem eingeschränkt, wenn man mit dem Abenteuer irgendwo hin kommen möchte.

Zudem eignet sich die Geschichte nicht für Startcharaktere: Einerseits sind an vielen Stellen Ermittlungstalent, akademisches Wissen oder technische Fähigkeiten gefragt, andererseits sind Kampffertigkeiten auf einem relativ hohen Niveau, wie bereits ausführlich erörtert, unabdingbar. Bereits länger gespielte HEX-Charaktere neigen allerdings dazu, sich in der Hohlwelt aufzuhalten (Faustregel: Hinein kommt man leichter als heraus), und können demnach schlecht vom in den USA ansässigen Club der Entdecker nach Rio de Janeiro geschickt werden.

Alles in allem bietet die eigentlich sehr schöne Geschichte also mehr Frust als Lust. Als Idee eignet sie sich zwar gut – aber im Detail sollte ein williger Spielleiter selbst Hand anlegen.

Artikelbilder: Uhrwerk Verlag
Dieses Produkt wurde kostenlos zur Verfügung gestellt.

 

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