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Seit einigen Jahren nimmt auch in Deutschland die Anzahl der Content-Larps zu. Die feste Rolleneinteilung kann als Gegengewicht zur freien Charakterwahl großer Veranstaltungen gesehen werden. Wir haben uns in die Silvesternacht 1919/1920 gestürzt und erlebt, wie soziale und private Konflikte von Hexen und Zauberern aufeinandertreffen.

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Die Veranstaltung, die liebevoll VHuZ abgekürzt wird, hat vom 26.-29. September ihren zweiten Run erlebt. Als Setting diente eine Silvesterfeier der magischen Gesellschaft. Das ist von daher ungewöhnlich, da Hexen und Zauberer wirklich selten miteinander interagieren und voller Vorurteile gegenüber einander sind. Genutzt wurde dieser Grundaufbau, um eine Con über Rassismus, Faschismus, Feminismus, Sozialismus und Macht im Allgemeinen zu veranstalten.

Basierend auf dem Content-LARP-Manifesto wurden die Rollen von der Orga so geschrieben, dass jede Figur die Hauptrolle dieser Geschichte einnehmen kann. Content-LARP heißt, dass es eine vollkommene Trennung von Charakter und Spieler gibt. Die Orga ist für die Charaktere verantwortlich und der Spieler füllt diese aus. Durch ein komplexes Beziehungsnetz und durch die Bitte nach Eskalation war Drama vorprogrammiert.

Eine magische Welt

Die Welt basiert auf dem Jahr 1919 in der jungen Weimarer Republik. Der Weltkrieg wurde gerade verloren. Sozialistische Bewegungen machen sich breit, und die alten Adelsstrukturen fallen in sich zusammen. Daneben ist Rassismus allgegenwärtig. Um diese Themen anspielen zu können, ohne zu starken Bezug zur Realität zu haben, wurde das Ganze in ein mystisches Setting transportiert. Die Magier sehen sich gegenüber Nicht-Magiern (auch abfällig Nimas genannt) als überlegen an. Die Plätze in der magischen Loge werden seit Generationen weitervererbt, und die ländlich lebenden Hexen und Hexer sind seit dem Dreißigjährigen Krieg von der hohen Politik ausgenommen. So macht auch langsam die Bewegung der Rothexen auf sich aufmerksam, welche die Gesellschaft umformen will. Gleichzeitig sitzen alteingesessene Zauberer im Rat der Zauberei, belächeln Hexen und Frauen und beschäftigen sich mit der Endlösung in der Nima-Frage. Dazu gibt es noch die reale Bedrohung durch Werwölfe und andere magische Wesen, während das Ministerium der Zauberei zu verhindern versucht, dass Mundane überhaupt etwas von der magischen Welt mitbekommen.

Zaubertim © paperBOX Productions
Zaubertim © paperBOX Productions

Die Charaktere auf der Veranstaltung sind ein Spiegel dieser Welt. Über alle Schichten sind Figuren zur selben Silvesterfeier eingeladen. Die beiden Gastgeber, eine Zauberin und ein Hexer, sind eher der Berliner Kunstszene zugetan und wollen die wichtigen Leute zusammenbringen, statt sich ewig aus dem Weg zu gehen. Natürlich sind nicht alle Teilnehmer das, was sie vorgeben zu sein, und über die zwei vollen Tage werden immer mehr Geheimnisse zu Tage getragen, die zu einer Verschärfung der Konflikte führen.

Das ganze World Building ist wunderbar gelungen, und die Vorbereitung hat sich gelohnt. Viele kritische Themen können so bespielt werden, ohne direkt per Assoziation bitter schlucken zu müssen. So wird die Eskalation gefördert, und weniger Spieler halten sich absichtlich zurück, um nicht zu übel aufzustoßen. Es spielt in einer Pseudo-Welt, die 100 Jahre in der Vergangenheit liegt, so dass man mit einer modernen Weltanschauung doch eher negativ auffällt.

Organisation und Ablauf

Bei der Charakterwahl wurde sich ebenfalls viel Mühe gegeben, da nicht alle Charaktergeheimnisse direkt erzählt werden können. Es gibt Charaktere mit sehr verrückten Hintergrundgeschichten, die so nur in dieser Welt funktionieren würden. Andere Figuren sind bodenständiger und darauf bedacht, den Status Quo zu erhalten oder persönliche Vorteile aus der Situation zu schlagen. Durch einen Fragebogen und mehrere Auswahlmöglichkeiten hat sich die Orga bemüht, dass jeder den Charakter bekommen hat, der zu seinem Spielstil passt.

Spießer vs. Revoluzzer Zaubertim © paperBOX Productions
Spießer vs. Revoluzzer Zaubertim © paperBOX Productions

Da die Veranstaltung wenige Wochen vor Beginn die Location wechseln musste (später dazu mehr), sind haufenweise Spieler abgesprungen, und es mussten über 20 Rollen umbesetzt werden. Erst in den letzten Tagen vor Beginn wurden zwei Figuren gestrichen und die letzten Lücken geschlossen, so dass der größte Teil des Plots seinen Weg auf die Veranstaltung gefunden hat. Diese Meisterleistung kann gar nicht genug wertgeschätzt werden.

Durch den Locationwechsel ist auch die Verpflegung weggefallen und wurde kurzerhand selbst organisiert. Dadurch waren die meisten Veranstalter immer wieder in der Küche eingebunden. Normalerweise sollten sie als Heinzel verkleidet immer bereitstehen. Manchmal kam es vor, dass der richtige Plot-Heinzel im entscheidenden Moment beschäftigt war und es so zu kleinen Wartezeiten kam. Das war aber nur selten der Fall und in Anbetracht der Unterbesetzung verständlich.

Der Donnerstagabend wurde mit Kennenlernen und Workshops verbracht. Durch Verzögerungen im Ablauf waren nach den Workshops keine Kapazitäten mehr für die kleinen Spielszenen vorhanden, die vorher jedem einen Einblick in die anderen Charaktere geben sollten. Dies wurde kurzerhand von den Spielern selbst übernommen und war eine große Hilfe, um in die Rolle zu kommen und bereits ein paar Beziehungen zu etablieren. Die Workshops gingen um die Themen Rassismus/Sexismus, Eskalation und Magiedarstellung und waren ebenfalls sehr hilfreich. Das Spiel selbst begann mit dem Frühstück am Freitagmorgen.

Die Location

Die Veranstaltung fand im Landhaus La Dersentina in Mecklenburg-Vorpommern statt. Aufgrund von Brandschutzverordnungen war eine Unterbringung in der ursprünglich geplanten 500 Kilometer südlicher gelegenen Location nicht möglich. Abgesehen von der abgelegenen Lage war dieses Haus wunderbar fürs Spiel geeignet. Der breit angelegte Garten lud zum Flanieren ein. Der Salon und das Treppenhaus waren stimmungsvoll eingerichtet und lockten so zum Spielen.

Peter Alexander Wegener © paperBOX Productions
Peter Alexander Wegener © paperBOX Productions

Die klassische Zimmeraufteilung war aber ungünstig, da es sehr viele Durchgangszimmer gab. Manche Schlafräume waren nur über andere Räume zu erreichen. Die Toiletten befanden sich in ehemaligen Umkleidezimmern und mussten sich geteilt werden. Die Küche war nicht gut für die Verpflegung von über 50 Leuten geeignet.

Ein paar der Betten waren leider ziemlich unbequem. Doch was nimmt man nicht alles in Kauf für eine schöne Veranstaltung. Denn das Spiel funktionierte hier dennoch wunderbar. Es gab theoretisch genug Rückzugsmöglichkeiten für Geheimniskrämerei. Gleich am Anfang gab es dazu aber auch die Ansage der Orga, dass man aber doch bitte die Tür offen lassen sollte, oder sich so platzieren sollte, dass andere Leute die Gespräche mitbekommen. Dadurch gelangten manche Informationen schnell an die Öffentlichkeit und bereicherten so das Spiel.

Spiel

Der größte Teil des Spiels war durch das Setting auf Dialog und Interaktion untereinander beschränkt. Hieraus konnte sich ein großer Teil des Dramas entfalten. Jeweils zu den Mahlzeiten gab es für Jeden Regieanweisungen in Tagebuchform, die man in sein Spiel einbauen sollte. Oftmals waren dies Handlungen, die vorher schon selbstständig angespielt wurden. Es ist beispielsweise unwahrscheinlich, dass man bis zum Abend des ersten Tages wartet, um zum ersten Mal einen Freund anzusprechen, und manchmal kommen Geheimnisse schon vorher zum Tragen. Bei diesen Tagebüchern sehe ich auch am ehesten Verbesserungsbedarf. So gab es für manche Figuren längere Zeit keine neuen Spielansätze, während andere gerade mit Ränkeschmieden beschäftigt waren.

Adolphus Von Grindelstein © paperBOX Productions
Adolphus Von Grindelstein © paperBOX Productions

Allgemein lässt sich kritisieren, dass es gerade in hektischen Szenen schwer möglich war zu zaubern, und es so Probleme bei der Magiedarstellung gab. Auf der Veranstaltung gab es kein festes Set an Zaubern, sondern es galt die Opferregel. Sprich: der Bezauberte legt die Wirkung fest. Wenn der Bezauberte nicht mitbekommt, was gerade passiert, verpuffen viele gesprochene Sprüche im Nichts. In hektischen Szenen war Augenkontakt nur schwer herzustellen, sodass hier vielleicht eine bessere Möglichkeit gefunden werden müsste.

Die gute Vorbereitung der Charaktere und Spielszenen hat sich in den zwei vollständig bespielten Tagen voll ausgezahlt. Immer mehr Spannungen bauten sich auf, und mit dem letzten Abendessen begann dann auch das große Sterben. Einige Figuren hielten es nicht mehr aus und explodierten in Gewalt. Anderen glitt schon früh alles durch die Finger, und sie sahen keine Möglichkeit mehr als sich selbst zu töten. Das Spielerlebnis ist somit wohl für jeden Spieler komplett anders. Dabei kam es auch vor, dass manche Spieler mit ihren Figuren leiden mussten und sich ein Happy End wünschten. Das Bleeding war hier wesentlich höher als auf anderen Veranstaltungen, aber auch stark abhängig davon, welche Rolle man spielt.

Fazit

Trotz des kurzfristigen Locationwechsels und der Unterbesetzung der Orga ist hier ein wirklich gelungenes Larp-Event vollzogen worden. In den folgenden Tagen schrieben sich die Spieler seitenweise Epiloge, Briefe und Anklageschriften. Im Debriefung wurde explizit gesagt, dass in der Woche darauf besser keine wichtigen Entscheidungen getroffen werden sollten. Das kann man verstehen, denn oft beschäftigt man sich noch lange danach mit dem Schicksal der Figur.

Ob man nun Verständnis für konservative Kräfte entwickeln konnte, sich emanzipieren oder sich mit Verlust von Gruppenzugehörigkeit auseinandersetzen musste, dieses Larp hat vielen Figuren eine emotionale Achterbahn beschert. Ich kann der paperBox productions nur wünschen, dass sie beim nächsten Mal keinen solchen Stress im Vorfeld bekommen. Wer sich für ein sehr intensives Spielerlebnis und die 1920er interessiert, sollte die Augen offen halten, ob die Macher irgendwann einen dritten Run veranstalten.

Artikelbilder: © paperBOX productions

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